»Es war eine Lüge der neuen deutschen Polizei.«
Rolf Schneider wird am 3. Februar 1929 im vogtländischen Reichenbach geboren. Er ist der jüngste von drei Brüdern. Seine Eltern sind Hausfrau und Rentner. Rolf besucht die Volksschule in Reichenbach.
Mit dem Überfall auf Polen entfesselt Adolf Hitler am 1. September 1939 den Zweiten Weltkrieg, der über eine Dauer von fast sechs Jahren weltweit mehr als 65 Millionen Todesopfer fordern wird. Rolf sitzt gemeinsam mit seinem Vater viele Abende vor dem Volksempfänger und hört »Radio London«, um sich über die aktuellen Kriegsgeschehnisse zu informieren.
Sein ältester Bruder ist als Fliegersoldat bei der Wehrmacht eingesetzt und gerät im Verlauf des Krieges in amerikanische Gefangenschaft. Gottfried, der zweitälteste Bruder, meldet sich freiwillig bei der nationalsozialistischen Schutzstaffel (SS).
Auch der mittlerweile zehnjährige Rolf wird durch die Aufnahme ins Deutsche Jungvolk Teil einer nationalsozialistischen Organisation und mit 14 Jahren automatisch in die Hitlerjugend (HJ) übernommen. Die 1926 gegründete nationalsozialistische Jugendbewegung erfasst durch das Verbot konkurrierender Jugendverbände nahezu alle 10- bis 18-Jährigen. Die Massenorganisation vermittelt den Kindern und Jugendlichen die NS-Ideologie mit einem auf Gefolgschaft und Pflichterfüllung basierenden Wertesystem.
Im Frühjahr 1945 befindet sich der 16-jährige Rolf im zweiten Lehrjahr seiner Ausbildung zum Werkzeugmacher. In der Regel werden die Jungen seines Jahrgangs etappenweise von ihren Betrieben freigestellt, um eine mehrwöchige vormilitärische Ausbildung zu absolvieren. Die Lehrgänge in den »Reichsausbildungslagern« dienen nicht nur dem potenziellen Kriegseinsatz, sondern vor allem auch der politisch-weltanschaulichen Schulung der Jugendlichen.
Angesichts des Kriegsverlaufs wird die Einberufung ins Wehrertüchtigungslager Ende März 1945 mit einer Sofortaktion für alle 15- und 16-jährigen Hitlerjungen aus dem Vogtland umgesetzt. Das Nazi-Regime will sie auf den proklamierten »totalen Krieg« vorbereiten und für den Volkssturm ausbilden.
Die Wehrertüchtigung der Jungen im bayrischen Stegenwaldhaus muss aufgrund der unaufhaltsam näher rückenden Kriegsfront nach drei Wochen abgebrochen werden. Man schickt die Jugendlichen nach Mühlleithen bei Klingenthal, wo sich ein neuer Treffpunkt für die Auszubildenden befinden soll. Viele Jungen nutzen den langen Fußmarsch, um schon unterwegs ihre Heimatorte aufzusuchen. Rolf läuft bis nach Mühlleiten, wo man die Gruppe offiziell auflöst und die Jungen nach Hause schickt.
Die Stadt Reichenbach wird unterdessen mit einer friedlichen Kapitulationserklärung an die amerikanischen Streitkräfte übergeben, um die weitere Zerstörung der Stadt zu verhindern. Der vorangegangene Artilleriebeschuss kostete etlichen Einwohnern das Leben. Unter maßgeblicher Beteiligung des Polizeileutnants Walter Schreiner, des Feuerwehrunterführers Hermann Thoß, des Friesener Bürgermeisters Ullmann, des Dolmetschers Braun und anderer Personen ist es Oberbürgermeister Dr. Otto Schreiber, der die US-amerikanischen Truppen kontaktiert, symbolisch die Stadtfahne aushändigt und damit die kampflose Übergabe Reichenbachs besiegelt.
»Der verdammte Krieg war nun endlich vorbei. Als dann im Sommer die amerikanische Besatzungsmacht von der russischen abgelöst wurde, begann die Verhaftungswelle.«
Am 1. Juli 1945 übernimmt die Sowjetische Militäradministration in Deutschland SMAD die Kontrolle über das vogtländische Gebiet, das nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht und den Beschlüssen der alliierten Siegermächte der Sowjetischen Besatzungszone SBZ zugeteilt wird.
Der Tag, der Rolfs Leben unwiderruflich verändern wird, ist der 11. Oktober 1945. Es ist ein nebliger Abend, an dem sich der 16-Jährige schon gegen halb zehn Uhr abends ins Bett legt, weil er unter grippeähnlichen Symptomen leidet. Kurze Zeit später klopfen zwei Männer an die Haustür. Sie tragen Armbinden, die sie als deutsche Hilfspolizisten ausweisen, und fordern Rolfs Eltern auf, ihren Sohn zu wecken. Sie behaupten, den Jungen zu einer kurzen Befragung mitnehmen zu wollen.
»Das war eine Lüge! Und damit trugen sie Mitschuld. Auf diese Art und Weise wurden über 40 Jungen aus Reichenbach den Russen übergeben.«
Die zwei Männer in Zivilkleidung gehören vermutlich der Operativgruppe Plauen des NKWD an, des sowjetischen Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten (russisch: Narodny Kommissariat Wnutrennich Del). Sie bringen Rolf, der trotz seiner Erkältung gehorsam aufsteht und sich anzieht, auf das Reichenbacher Polizeiamt. Dort sind bereits fünf Jungen seiner Altersgruppe versammelt, die sich angesichts der ungewöhnlichen Situation staunend anschauen. Sie sind sich keines Vergehens bewusst und wundern sich, was der Anlass der angekündigten Befragung sein könnte, welche sie in diesem Moment noch gar nicht als Festnahme einordnen.
Mitten in der Nacht wird die kleine Gruppe zu einem Auto geführt und zum Stützpunkt der sowjetischen Kommandantur gefahren, die sich in einer Villa in der heutigen Weststraße Reichenbachs befindet.
Es findet eine Leibesvisitation statt, bei der man den Jugendlichen sämtlichen persönlichen Besitz abnimmt: Gürtel, Schnürsenkel und sogar Rolfs Taschentücher, trotz seines Schnupfens. Dann sperrt man ihn und zwei weitere Jungen in eine Zwei-Mann-Zelle. Der kleine Arrestraum ist nicht leer, es warten bereits sechs ältere Männer darin. Die neun Häftlinge teilen sich die wenigen Quadratmeter, so gut es geht. Nur zwei Mann können die vorhandenen Pritschen nutzen, der Rest schläft auf dem nackten Boden, direkt neben dem stinkenden Kübel, der mit der Notdurft von neun Personen ständig überzulaufen droht.
Was nun folgt, sind schier endlose Verhöre in nahezu jeder Nacht. Die Verständigung ist schwierig, denn die Mitarbeiter des NKWD sprechen nur gebrochenes Deutsch. Dennoch üben sie während der Vernehmungen enormen psychischen Druck auf die Jungen aus. Ihr Vorwurf lautet, Rolf und die anderen Jugendlichen seien Mitglieder der nationalsozialistischen Widerstandsbewegung »Werwolf«.
Die Anklage steht wie in Stein gemeißelt, obwohl es doch keinen Nachweis für die Existenz der Partisanenorganisation im sächsischen Raum gibt. Rolfs Erklärungen und Unschuldsbeteuerungen laufen ins Leere und veranlassen die politischen Geheimpolizisten der UdSSR nur, zu noch aggressiveren Verhörmethoden zu greifen.
»Ich wurde nicht geschlagen. Aber wenn du 16 Jahre alt bist, oder 15 waren manche: die Angst, die wir hatten. Wir waren ja halbe Kinder!«
Mit vorgehaltenen Pistolen und Drohgebärden wollen die Vernehmer Rolf zwingen, ein mehrseitiges, in kyrillischer Schrift verfasstes Protokoll zu unterschreiben. Weil er nicht weiß, was in dem Dokument steht, weigert er sich fast zwei Wochen lang, es zu unterzeichnen, denn er hat Angst davor, ein falsches und für sein weiteres Schicksal fatales Bekenntnis abzulegen. Für diejenigen Zellengenossen, die ihre Unterschrift leisten, haben die nächtlichen Verhöre ein sofortiges Ende. Schließlich erliegt auch Rolf dem Druck der NKWD-Beamten.
»Fünfmal auf Russisch unterschrieben, schon war die Sache abgetan. Der Inhalt des Dokuments wurde mir weder vorgelesen noch übersetzt.«
Die Verhaftungs- und Internierungspraxis der NKWD-Operativgruppen liegt verschiedenen staatlichen Beschlüssen zugrunde. Als einer der wichtigsten zählt der Befehl des Volkskommissars für Innere Angelegenheiten der UdSSR Nr. 00315 vom 18. April 1945, der Vorgaben für die Zielgruppen zu verhaftender Deutscher auflistet.
Da der Fall der Jugendlichen in der Mehrzahl nicht klar liegt, ist es gängige Praxis, ihnen Geständnisse über eine Mitgliedschaft im »Werwolf« abzupressen. So werden Rolf und zahlreiche Jugendliche zwischen 12 und 21 Jahren pauschal den sogenannten Spionen, Diversanten und Terroristen der deutschen Geheimdienste zugeordnet, was der weit gefassten Haftkategorie 1 des Befehls Nr. 00315 entspricht. Die Erfassung der Zielgruppe basiert nicht selten auf Denunziationen oder erfolgt mithilfe der Mitgliedslisten der NS-Organisationen sowie der Teilnehmerlisten der Wehrertüchtigungslager.
»Das kann sich kein Mensch vorstellen. Dort war einfach: ›Du lüGST, du Werwolf!‹ Aber hier im ganzen Vogtland gabs keinen einzigen Werwolf. Wir waren vollkommen unschuldig!«
Nachdem Rolf seine Unterschrift unter das Vernehmungsprotokoll gesetzt hat, wird ihm ein Koffer ausgehändigt, den seine Eltern für ihn gepackt haben. Darin befinden sich Bettwäsche und ein Übergangsmantel. In zahlreichen Fällen dürfen die Angehörigen der Gefangenen Kleidung, Toilettenartikel und auch Nahrung in den Gefängnissen abgeben. Bei Rolf sind es erneut die deutschen Hilfspolizisten, welche mit dem NKWD zusammenarbeiten und die Abholung der Koffer in den Elternhäusern der verhafteten Jugendlichen organisieren.
»Die deutsche Polizei – das waren Kommunisten, Antifaschisten und Sozialdemokraten, die damals uns Kinder holten.«
Bereits im Juni 1945 erlaubt die SMAD die Bildung von Polizeikräften in der sowjetischen Besatzungszone, die den Innenministerien der fünf in der SBZ liegenden Ländern unterstehen. Beim Aufbau werden fast ausschließlich Mitglieder der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) in die Führungsebene berufen.
Der Ausbildungsstand des Personals ist mangelhaft, bloß etwa 65 bis 95 Prozent sind geschult. In den ab 1946 geschaffenen Polizeischulen kann nur ein mangelhaftes Kursangebot angeboten werden, das meist vierwöchige Lehrgänge umfasst.
Wie Rolfs Erfahrungen bestätigen, ist die Kooperation der deutschen Polizei mit der sowjetischen Besatzungsmacht eng. Das NKWD bedient sich bei der Unterbringung seiner Gefangenen auch der deutschen Polizeigefängnisse. Die Beamten transportieren Rolf und weitere Gefangene am Abend mit einem Bus nach Plauen, wo sie eine Nacht im Gefängnis der Stadt verbringen. Am nächsten Tag erfolgt die Verlegung in eine Haftanstalt in Zwickau.
»Das Zwickauer Gefängnis im Vergleich zu Reichenbach: wie Tag und Nacht. Wasserspülung. Sauberes, warmes Wasser! Essen war natürlich genauso schlecht.«
Nach einigen Tagen werden zwei Busse mit Gefangenen besetzt. Mit zugezogenen Vorhängen, eingeschlossen und unter Bewachung beginnt die Fahrt. Rolf rechnet nicht damit, dass er sich auf dem Weg in ein sowjetisches Speziallager befindet, an einen Ort, an dem er unter den widrigsten Umständen viele Jahre seiner Jugend verlieren wird. Ein Ort, der für 6.766 Personen zum Grab wird.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wird in der SBZ ein System von zehn Speziallagern des NKWD eingerichtet, angewiesen durch dessen Chef Lawrenti Beria mit ebenjenem Befehl Nr. 00315, der auch die Bildung der eigenständigen Verwaltung »Abteilung Speziallager des NKWD der UdSSR in Deutschland« beinhaltet. Die Abteilung Speziallager ist neben den beiden großen sowjetischen Lagerverwaltungen für Strafgefangene GULAG und für Kriegsgefangene und Internierte (GUPWI) ein drittes Lagersystem, das erst 1948 dem GULAG als Hauptverwaltung des sowjetischen Lagersystems unterstellt wird.
Zwischen 1945 und 1950 erleiden weit über 122.600 Deutsche die Gefangenschaft in sowjetischen Speziallagern. Etwa 42.000 überleben die menschenunwürdigen Bedingungen der Haft nicht.
Offiziell gilt die Einrichtung von Internierungslagern in den vier Besatzungszonen als eine Maßnahme der alliierten Siegermächte, um Funktionäre des nationalsozialistischen Machtapparats zur Verantwortung zu ziehen und sich vor ihrer möglichen Betätigung im Untergrund zu schützen.
In der Sowjetischen Besatzungszone erfolgt die Umsetzung der Verhaftungen, Vernehmungen und der Betrieb der dortigen Speziallager jedoch auf eine Art und Weise, die jeglicher rechtsstaatlichen Grundlage entbehrt und über das unmittelbare Ziel der Entnazifizierung weit hinausgeht. Eine Auseinandersetzung mit dem Unrechtssystem der Nazis spielt innerhalb der Lager keine Rolle mehr, was die Annahme nahelegt, dass das NKWD auch diejenigen in Speziallager sperrt, die dem Aufbau der neuen gesellschaftlichen Ordnung im Wege stehen könnten – als präventive Isolationsmaßnahme.
Die Gefangenschaft im sowjetischen Speziallager ist von einer Mangel- und Fehlernährung, desolaten hygienischen Bedingungen, völlig unzureichender medizinischer Versorgung und dem Zwang zur körperlichen und geistigen Beschäftigungslosigkeit der Häftlinge charakterisiert. Sie müssen in den Lagern eine ungewisse Zeit absitzen, in der sie komplett von der Außenwelt isoliert sind.
Über Jahre hinweg wird nicht nur jeglicher Kontakt zu den Angehörigen unterbunden und der Aufenthaltsort der Insassen geheim gehalten, sondern selbst im Falle des Todes dringt keine Nachricht nach außen. Verwandte erfahren mitunter erst 45 Jahre später, nach der Deutschen Einheit, wann und wo das Familienmitglied verstarb.
Als der Gefangenentransport aus Zwickau sein Ziel erreicht und die Gruppe aussteigt, ist das erste, was Rolf wahrnimmt, das fremdartige Geräusch der Elbedampfer, die sich in der nächtlichen Dunkelheit mit Signaltönen bemerkbar machen. Die Gefangenen müssen in einer zerbombten Gebäuderuine übernachten. Erst am nächsten Morgen werden sie durch das Haupttor ins sowjetische Speziallager Nr. 1 Mühlberg/Elbe geführt, wo die sowjetische Lagerleitung jeden Neuankömmling einzeln registriert.
Nachdem diese Aufnahmeprozedur beendet ist, übergibt man die Häftlinge an das deutsche Lagerregime, denn bis auf die täglichen Zählappelle gibt es für die Insassen des Speziallagers nur wenig Berührungspunkte mit der sowjetischen Lagerleitung, die ihren Sitz im Außenlager hat. Innerhalb des Speziallagers Mühlberg erfolgt die Verwaltung durch die Gefangenen selbst. Diese Funktionshäftlinge werden vom NKWD eingesetzt und handeln weisungsgebunden. Darüber hinaus existiert eine Lagerpolizei.
Rolf muss bei der Ankunft seinen Koffer öffnen. Die Funktionshäftlinge nehmen sich daraus, was sie selbst behalten wollen – seine Bettwäsche und seinen Mantel.
»Meine Großmutter, eine gute, alte Frau, schenkte mir den Mantel im Herbst 1945, als ich als 16-Jähriger zum Tanz ging. Der war wie nochmal ein Gruß von ihr. Sie nahmen ihn mir weg.«
Bei Rolfs Ankunft im November 1945 sind im Speziallager Mühlberg erst wenige tausend Gefangene versammelt. Bis zum Jahresende wird das 80 Hektar große Lagergelände mit etwa 10.000 Insassen gefüllt sein. In der Zeit seines Bestehens, also zwischen September 1945 und Oktober 1948, durchlaufen das sowjetische Speziallager Nr. 1 Mühlberg/Elbe insgesamt 21.835 Personen, davon 1.490 Frauen. Mehr als ein Drittel von ihnen wird die Haftumstände nicht überleben. Das im Totenbuch veröffentlichte empirische Material belegt eine Häftlingszahl von 1.319 Jugendlichen, darunter 147 weibliche. Der jüngste Gefangene ist 13 Jahre alt und der älteste über 75.
Im Lager herrscht eine militärische Ordnung. Jeder Neuankömmling ist einer bestimmten Kompanie zugeteilt, der etwa 200 bis 300 Inhaftierte angehören, die gemeinsam eine Barackenhälfte beziehen. Seiner Kompanie entsprechend wird Rolf in der Baracke Nr. 35 einquartiert, wo besonders viele junge Häftlinge unterkommen. Sieben Jugendliche stammen aus Reichenbach und mehrere andere aus der nahen Umgebung.
Die heruntergekommenen Unterkünfte sind mittig durch einen Waschraum aufgeteilt, in dem kaltes Wasser aus durchlöcherten Eisenrohren fließt, die über betonierten Waschmulden angebracht sind. Als Betten dienen die Barackenwände umlaufende, doppelstöckige Liegestätten aus blankem Holz. Jedem Häftling steht rechnerisch eine Liegefläche von 50 bis 60 Zentimetern Breite zu.
»Grauenhaft. Ein Schuppen. Wir taten uns zum Schlafen zu dritt zusammen. Der in der Mitte lag, war am wärmsten. Wir wechselten uns ab. Einer von uns dreien ist mit im Massengraben.«
Am 27. November 1945 fällt der erste Schnee und kündigt den bevorstehenden Winter an. Rolf erinnert sich genau an den Tag, da es der Geburtstag seiner Mutter ist. Noch glaubt er hoffnungsvoll, Weihnachten wieder zu Hause bei seiner Familie zu sein. Stattdessen wird seine Gefangenschaft 52 Monate andauern.
Wenige Häftlinge starten Fluchtversuche. Ein Ausbruch aus dem Lagergelände ist nahezu unmöglich, da es mit Stacheldrahtzäunen gesichert ist und bewaffnete sowjetische Soldaten Posten am Haupteingang und auf den vier Wachtürmen besetzen. Im Sommer 1946 erfolgt eine Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen durch den Einsatz elektrischer Alarmsignale, Scheinwerfern in der Nacht sowie eines Sichtschutzes zum Außenbereich aus hohen Holzpalisaden.
Rolf wird jedoch Zeuge eines Fluchtversuchs, der 1945 außerhalb des Lagers bei einem Arbeitseinsatz der Häftlinge stattfindet. 200 bis 300 Gefangene verrichten die Zuckerrübenernte auf einem angrenzenden Feld, streng bewacht von bewaffneten Posten. In einem unbemerkten Moment gelingt es einem Mitgefangenen, über das Feld und die angrenzende Wiese bis hinauf zum Bahndamm zu laufen. Noch ehe die Wachposten ihre Maschinenpistolen zum Schuss ansetzen, ist der Mann über die Gleise entkommen und ein vorbeifahrender Zug ermöglicht sein Verschwinden im Wald. Zeitzeugenberichten zufolge ist er der einzige Insasse Mühlbergs, dem die Flucht aus dem Speziallager gelingt.
Bis auf die Reinigung ihrer Baracke sind Rolf und der überwiegende Teil der Gefangenen tagaus, tagein zum Nichtstun verdammt, denn Tätigkeiten wie der beschriebene Arbeitseinsatz sind Ausnahmefälle. Nur ein kleiner Teil der Inhaftierten hat die Möglichkeit, sich regelmäßig zu beschäftigen. So gibt es eine Häftlingsgruppe von Musikern, Tänzern und Schauspielern, welche die »Kultura« bildet, also die Kulturabteilung des Lagers mit Theater und Orchester.
Darüber hinaus dienen wenige Arbeitskommandos der Aufrechterhaltung des täglichen Lagerbetriebs: Ein Holzkommando schafft Brennmaterial heran, wenige Ärzte und Schwestern versorgen notdürftig die Erkrankten, Melder erhalten die Kommunikation aufrecht und Köche und ihre Helfer übernehmen die Essenszubereitung und -verteilung. Auf dem Lagergelände werden auch eine Schuhmacherwerkstatt, eine Schneiderei und eine Frisierstube betrieben.
Arbeitende erhalten einen Nachschlag bei der täglichen Ration und haben es – einmal durch diese zusätzliche Suppenkelle, mehr aber durch die tägliche Abwechslung – etwas leichter, dem körperlichen und moralischen Verfall entgegenzuwirken.
Doch es gibt im Lager Mühlberg auch unbeliebte und sogar gefährliche Tätigkeiten, wie das Beerdigungs- und das sogenannte Jauchekommando, in dem bemerkenswerterweise die noch arbeitsfähigen Mitglieder des Reichsgerichts und einige höhere Richter eingesetzt werden.
Die Entsorgung der Fäkalien geschieht unter primitivsten Bedingungen. Mit dem Schöpfer werden die Großlatrinen geleert und die gefüllten Eimer von Mann zu Mann bis zu demjenigen weitergereicht, der den Inhalt in die Jauchetonne füllen muss. Dann wird der volle Jauchewagen, eigentlich ein von Tieren gezogenes landwirtschaftliches Gefährt, von den Gefangenen bis auf weit außerhalb liegende Felder geschoben und dort geleert. Die Arbeit muss täglich und bei jedem Wetter erledigt werden, und die Häftlinge der Jauchekolonne erhalten keinerlei Schutzkleidung. Die körperliche Anstrengung und das Infektionsrisiko sind enorm.
»Eine ganz gefährliche Arbeit. Sind alle nacheinander gestorben.«
Rolf erhält bis zum Frühjahr 1946 zweimal die Gelegenheit zu einem außerordentlichen Arbeitseinsatz. Einmal muss er Baumstämme tragen, eine schwere und ungewohnte Arbeit, und das andere Mal werden Ziegel zum Aufbau eines Hauses im sowjetischen Lagerbereich benötigt. Etwa 1.000 Mann treten in Zehnerreihen an und werden zu den Gebäuden außerhalb des Hauptlagers geführt, wo jedem Häftling befohlen wird, einen Ziegel aufzuheben. Wer zu schwach ist, um den Ziegel so lange zu halten, bis der Abmarschbefehl kommt, wird mit dem Gewehrkolben geschlagen.
»Da war ein Russe dabei, der hielt den Kopf schräg, das war der ›Schiefhals‹. Der sagte zu uns: ›Kleiner Faschist.‹ Der tat uns nichts! Der hatte Mitleid. Es gab solche und solche.«
Das Verhältnis zu den sowjetischen Bewachern ist ambivalent. Rolf erinnert sich an einen gewaltbereiten Wachposten namens Boris, der die Internierten wiederholt aus den Baracken jagt, denn das Hinlegen ist tagsüber nicht gestattet. Ein Mitgefangener, der schon die Gefängniszelle in Reichenbach mit Rolf teilt und in Mühlberg derselben Kompanie zugehört, berichtet ihm von seiner Arbeit im Beerdigungskommando.
Der 4. Februar 1947 ist mit 40 Personen das Datum mit den meisten Todesfällen. Ein Tag, an dem nicht nur die schon jahrelang erduldeten Umstände der Gefangenschaft und die nochmals reduzierten Verpflegungssätze, sondern auch der besonders kalte Winter ihre Opfer fordern. Die Anzahl Verstorbener ist so groß, dass keine Obduktion und Protokollierung der Todesumstände mehr erfolgen. Die Leichen tragen statt Blechmarken nur noch Papierzettel mit fortlaufender Nummerierung am Zeh.
Schon im frühen Morgengrauen steht das Beerdigungskommando an der Lagerstraße bereit, um unbeobachtet von den anderen Gefangenen die Toten unter die Erde zu bringen. Auf Holztragen und nur in Decken eingeschlagen werden die anonymen Körper vom Leichenhaus bis zum nördlichen Rand des Lagers getragen und in bereits ausgehobene Löcher geworfen.
Ein Häftling muss hinabsteigen und die nackten Leiber sortieren, damit sie in das flache Grab passen. Dann wird Chlorkalk darübergestreut und Erde aufgeschüttet. Eine Kennzeichnung der Grabstätten erfolgt nicht. Selten erlauben die sowjetischen Wachposten, dass Gebete für die verstorbenen Kameraden gesprochen werden dürfen.
Wie respektvoll oder respektlos die Beerdigungen erfolgen, dazu gibt es unterschiedliche Berichte von ehemaligen Mühlberg-Insassen. Rolfs Kamerad schildert ihm ein eindrückliches Erlebnis, als der Gefangene, der die Leichen im Grab sortieren muss, anschließend nicht herausgelassen wird. Die sowjetischen Wachposten machen sich einen sadistischen Spaß daraus, das Grab zuzuschütten, bis nur noch der Kopf des Mannes herausschaut. Erst im letzten Moment darf er das Grab verlassen.
»So eine Art Menschen waren das, die uns bewachten. Das waren aber bestimmte Leute, das muss man auch sehen. Und der Hitler hat ja in Russland auch tüchtig gehaust.«
Rolf macht die Erfahrung, dass die deutsche Lagerleitung und deren Gehilfen ihre privilegierte Stellung durchaus zu ihrem Vorteil zu nutzen wissen. Während der Weihnachtstage wird er mit ein paar Männern seiner Kompanie zum Kartoffelschälen in die Küche abkommandiert. Rolf wiegt sich in der Hoffnung, es gäbe anlässlich des bevorstehenden Festes eine bessere Verpflegung als sonst für die Gefangenen. Doch stattdessen muss er feststellen, dass er nur mithilft, einen Kartoffelsalat zuzubereiten, den allein die Stabsmelder, das Küchenpersonal, der Hauptlagerführer und andere Privilegierte zu essen bekommen.
»So lebten die dort. Und die Alten starben wie die Fliegen. Du konntest dir ausrechnen, wann du dran warst. Mühlberg war ein Todeslager. Das war die schlimmste Zeit.«
Die Qualität der Essensversorgung im Speziallager Mühlberg schwankt während der Jahre seines Bestehens außerordentlich. Grundsätzliche Bestandteile der Verpflegung sind zum Morgen 500 bis 600 Gramm trockenes Brot pro Person sowie Ersatzkaffee, und zum Mittag und Abend je eine wässrige Suppe.
Die Rationen der Backware, die weit weniger kompakt und sättigend ist, als man es vom deutschen Brot gewohnt ist, werden im Winter 1946 halbiert. Ebenso verändert sich die Qualität der Suppen zum Schlechten. Ein Dreiviertelliter Suppe weist kaum drei Löffel fester Substanz auf, meistens Graupen oder Hirse, dazu oft angefaulte Möhren oder das aufblähende, aber völlig nährstofffreie Kartoffelwalzmehl, die sogenannte Pülpe.
Die Männer in Rolfs Kompanie zelebrieren das Aufteilen der ihnen zugeteilten Kastenbrote mit einer lebensnotwendigen Ernsthaftigkeit. In Ermangelung von Messern bauen sie sich aus Draht und Holz eine Konstruktion an den Barackentisch, mit der sie die Brote präzise schneiden können.
»Auf drei Mann kam ein Brot. Aber das reichte, dass du erst einmal einen Moment satt warst. Brot war unsere Lebenswichtigkeit hier.«
Die Insassen Mühlbergs bestreiten ihren trostlosen Alltag unter unvorstellbaren hygienischen Bedingungen. Ununterbrochen plagt sie das Ungeziefer: Wanzen, Flöhe, Läuse und andere Blutsauger. Zur Reinigung ihres Körpers stehen nur kaltes Wasser, aber weder Seife, Zahnbürste noch Toilettenpapier zur Verfügung. Sie haben keine Möglichkeit, ihre Kleidung zu wechseln, die über die vielen Monate und Jahre der Gefangenschaft zusehends verschleißt und oftmals noch etliche Zentimeter einbüßt, wenn sie sich mit kleinen herausgerissenen Stücken ihres Hemdes als Lappenersatz behelfen.
Alle sechs bis acht Wochen dürfen die Inhaftierten die Badeanstalt besuchen – eine Einrichtung, die auf das Kriegsgefangenenlager M.-Stalag IV B. zurückgeht, das sich vor der Nutzung als NKWD-Speziallager auf dem Areal befand. Nach einer solchen Dusche erkrankt Rolf im Frühjahr 1946 an Fieber, Erkältung und Durchfall. Er wird in die Krankenbaracke verlegt, in der mit ihm etwa 200 Mann untergebracht sind, die an Ruhr, Dystrophie, Tuberkulose und Hautkrankheiten leiden. Die Ärzte besitzen weder chirurgisches Besteck, Verbandsmaterial noch Medikamente. Wenige der als Krankenschwestern eingesetzten Frauen sind medizinisch ausgebildet.
Rolf gesundet nach wenigen Wochen, doch der Aufenthalt im Lazarettbereich bleibt ihm in steter Erinnerung, denn er begegnet dort dem ehemaligen Reichenbacher Oberbürgermeister. Otto Schreiber berichtet Rolf von der Übergabe der Stadt an die amerikanischen Streitkräfte und zeigt ihm eine Fotografie, die seine Frau und seine beiden Töchter abbildet. Rolf wundert sich, dass der Mann diesen wertvollen persönlichen Schatz vor den regelmäßigen Leibesvisitationen retten konnte. Wenige Wochen nach Rolfs Entlassung aus dem Krankenrevier ereilt ihn die Nachricht, dass Schreiber gestorben sei.
»Und als ich 1950 heimkam und zum Zahnarzt musste, dachte ich, ich sehe nicht richtig. Die Zahnarzthelferin war die Kleinste vom Bürgermeister Schreiber. Und ich konnte der nichts sagen!«
Ab Juli 1946 gibt es eine Vielzahl von Veränderungen im Lageralltag, welche die Umstände der Inhaftierung zunehmend verschärfen. Zunächst wird eine Zonenunterteilung des Lagergeländes beschlossen und mittels Stacheldrahtzäunen umgesetzt. Den Häftlingen ist es fortan nur noch erlaubt, sich in jener Zone frei zu bewegen, in der sich ihre Unterkunft befindet. Kontakte zu Bekannten in anderen Baracken reduzieren sich somit auf ein Minimum.
Darüber hinaus erfolgt die Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen nach außen. Nach den genannten Kürzungen bei der Essensversorgung finden auch die Aufführungen der Kultura ihr Ende, denen Rolf mit seiner Kompanie zweimal beiwohnen durfte. Die Perspektivlosigkeit spitzt sich zu und die Anzahl der Todesfälle steigt.
»Die Küchenhelfer, Stabsmelder usw. konnten hundert Jahre alt werden. Denen ging es drin besser als draußen. Aber es hatte einen Nachteil: Die kamen mit zum Pelzmützentransport.«
Etwa 15 Prozent der in den sowjetischen Speziallagern inhaftierten Deutschen wird ab 1947 in die Sowjetunion deportiert. Die ausschließlich männlichen Lagerinsassen sollen entlassene und verstorbene deutsche Kriegsgefangene bei der schweren Arbeit im untertägigen Steinkohleabbau und auf Baustellen ersetzen.
Zu diesem Zweck besucht eine sowjetische Ärztekommission im Januar 1947 das Speziallager Nr. 1 und filtert in einer oberflächlichen, aber demütigenden Leibesvisitation die ihrer Einschätzung nach Arbeitsfähigen unter den Häftlingen heraus. Insbesondere Spezialisten aus technischen und handwerklichen Berufen sind gefragt.
Der physische Zustand der Lagerinsassen Mühlbergs ist derart schlecht, dass man unter den etwa 12.000 Häftlingen lediglich 902 Personen als arbeitstauglich einstuft. Die Männer werden mit Watteanzügen und Pelzmützen der Wehrmacht ausgestattet und am 8. Februar 1947 in einem 33 Tage dauernden Transport ins sibirische Anschero-Sudschensk verbracht. Die letzten von ihnen kehren erst 1952 nach Deutschland zurück.
Bevor die Insassen des Mühlberger Speziallagers die später als Pelzmützentransport bezeichnete Verschleppung zur Zwangsarbeit antreten, werden sie in einer gesonderten Baracke isoliert. Während Rolfs Musterung wird schnell klar, dass ihn sein schlechter Gesundheitszustand vor der Deportation bewahrt. Doch zu seiner Überraschung sucht ihn einen Tag später ein Stabsmelder auf und weist ihn an, seine Habseligkeiten zu packen und sich in der Baracke der Arbeitsfähigen einzufinden.
»Da waren die ganzen Kräftigen drin, und ich dürrer Kerl! Dann stellten sie fest, dass es noch einen Schneider Rolf, Jahrgang 1928, gab. Und da wurden wir ausgewechselt.«
Die Verwechslung von Rolf mit seinem älteren Namensvetter, den er nicht zu Gesicht bekommt, klärt sich glücklicherweise rechtzeitig auf. Doch nach diesem Missverständnis wird der mittlerweile 18-Jährige nicht wieder in die Baracke 35 zurückgebracht, sondern in die Baracke 4a in Zone 1 verlegt.
Obwohl er damit aus seinem vertrauten Umfeld gerissen ist und nur wenige Jugendliche in der neuen Unterkunft wohnen, hat der Umzug doch einen Vorteil für Rolf. Er trifft auf Heinz Bachmann aus Reichenbach, der in der Backstube arbeitet und sich auf den Vorschlag einlässt, seine Arbeitsstelle halbtags mit Rolf zu teilen. Der Kamerad Willi Wulsten setzt die Regelung beim Schichtführer durch.
Rolf hat nun die Gelegenheit, sich während der Tätigkeit in der Bäckerei an den produzierten Backwerken zu bedienen. Fast zwei Wochen dauert es, bis er den Hunger nicht mehr verspürt, der schon so viele Monate ein quälender, allgegenwärtiger Begleiter gewesen ist. Das neugewonnene Sättigungsgefühl ermöglicht es Rolf sogar, einen Teil seiner Brotrationen einzutauschen. Dafür lässt er sich von den Handwerkern einen Aluminiumkamm anfertigen.
Gleichzeitig schwemmt Rolfs unterernährter Körper jedoch auf unnatürliche Weise auf und die verbesserte Verpflegungssituation bewahrt ihn nicht vor einer gefährlichen bakteriellen Infektionskrankheit, die in den meisten Speziallagern seuchenartig grassiert: Die Tuberkulose.
Da die Ansteckung durch Tröpfchenübertragung erfolgt und die Krankheit besonders bei Menschen mit geschwächtem Immunsystem ausbricht, infizieren sich die Inhaftierten des Speziallagers Mühlberg reihenweise.
Im Frühjahr 1948 wird ein Röntgengerät angeschafft, um die Krankheit einfacher zu diagnostizieren. Die Küchen- und Bäckereibeschäftigten gehören zu den ersten, die mit dem neuen Apparat untersucht werden, und so wird auch bei Rolf die Tuberkulose festgestellt. Doch die Behandlung der Erkrankten besteht in kaum mehr als einer etwas besseren Ernährung und der Isolation auf den zahlreichen neu eingerichteten Krankenstationen. Rolf wird in einem Drei-Personen-Zimmer untergebracht. Was er darin erlebt, wird er nie vergessen.
»Das Sterben der Menschen! Ein Kamerad führte einen Veitstanz auf, zog sich nackig aus und tanzte dort rum, dann kam Blut aus dem Mund geschossen! Brach er zusammen, war er tot.«
Rolfs langer Aufenthalt im Lazarettbereich fällt genau in die Zeitspanne, in der sich das Lager Mühlberg seiner Auflösung nähert. Der Betrieb des Speziallagers Nr. 1 wird mit dem Befehl Nr. 002 940/6 vom 1. Oktober 1948 eingestellt. Schon ab Mitte Juli 1948 entlässt man täglich 100 bis 200 Gefangene und es sind insgesamt 7.060 Häftlinge, die jetzt ihre Freiheit wiedererlangen. Die verbliebenen Insassen des Speziallagers Mühlberg, mindestens 3.600 Personen, überführt man in das sowjetische Speziallager Nr. 2 Buchenwald.
»Von den 45 Reichenbacher Jungen waren drei gestorben und drei nach Sibirien gekommen. Sechs, sieben entließen sie. Und uns nicht. Wir mussten drinbleiben. Warum wir? Weiß heute noch keiner, was da wie ablief. Das war ganz, ganz schlimm.«
Rolf verlässt sein Krankenzimmer, das er nach dem qualvollen Tod seiner Mitinsassen allein belegt hat – abgesehen von unzähligen Mäusen und Ungeziefer – schließlich am 17. September 1948. Aus eigenen Kräften kann er den Weg nicht bestreiten und so wird er von Sanitätern auf einer Bahre hinausgetragen. Man hängt ihm ein Pappschild um den Hals, auf dem das Kürzel »OT« geschrieben steht, das auf die offene Tuberkulose hinweist. Dann verlädt man ihn auf einen Lkw, auf dem schon andere Schwerkranke liegen, und fährt die Gruppe aus dem Lager hinaus bis zum Bahnhof Neuburxdorf.
Dort angekommen werden je 42 Häftlinge gemeinsam in einen Güterwaggon gesteckt, ungeachtet dessen, wer von ihnen krank und wer noch gesund ist. Laut sowjetischer Zählung befinden sich unter den überführten Gefangenen 672 Menschen mit offener und viele weitere mit geschlossener Tuberkulose, so dass die Krankheit nahezu ungebremst weiter um sich greifen kann.
»Und da machte ich mir das Schild runter. Ich wollte das nicht mehr erleben!«
Seit August 1945 betreibt das NKWD/MWD das Gelände auf dem Ettersberg bei Weimar als Speziallager Nr. 2 Buchenwald. Die meisten der vorhandenen Unterkünfte des ehemaligen NS-Konzentrationslagers sowie das Lazarett und die Versorgungseinrichtungen werden weitergenutzt. Neu entsteht nur eine Bäckerei. Das Krematorium wird nicht wieder in Betrieb genommen.
Auch im Speziallager Buchenwald ist die Isolierung der Internierten allumfassend. Der Bereich der Häftlingsunterkünfte ist in Zonen aufgeteilt und jede der Baracken einzeln eingezäunt. Als die Neuankömmlinge die ihnen zugewiesene Häftlingsbaracke betreten, sitzen auf den Doppelstockbetten ein paar Jungen und singen ein Lied, das Rolf völlig unbekannt ist. Verwundert fragt er nach der Herkunft der Musik. Die jungen Häftlinge berichten ihm, dass es sich um das Lied der Capri-Fischer handelt, das bei Rolfs Verhaftung 1945 noch nicht bekannt war.
Rolf ist erst wenige Tage im Speziallager Buchenwald, als ihn Fieber und heftige Schmerzen im Brustbereich heimsuchen. Mit der Diagnose Rippenfellentzündung wird er in die Krankenbaracke eingeliefert.
»Das war gegenüber Mühlberg wie eine Erholung für mich. Die Baracken doppelt gedeckt, der Fußboden einwandfrei. Warmes Wasser, Klosetten.«
Rolf gelingt es, sich innerhalb eines Dreivierteljahres zu erholen. Im Frühjahr 1949 kann er das Lazarett verlassen und wird im allgemeinen Teil der Gefangenenbaracken untergebracht. Doch nicht alle Tuberkulose-Patienten, die immerhin etwa 30 Prozent der Lagerinsassen Buchenwalds ausmachen, überstehen die schwere Erkrankung. Sie leiden mitunter noch Jahre nach ihrer Gefangenschaft an den Folgen oder sterben sogar daran.
Für das sowjetische Speziallager Nr. 2 Buchenwald lassen sich über 7.100 Todesfälle nachweisen. Bei insgesamt mehr als 28.000 Häftlingen bedeutet das den Tod jedes vierten Lagerinsassen – eine Zahl, die im Vergleich zu den Statistiken der anderen sowjetischen Speziallager, in denen etwa jeder dritte die Gefangenschaft nicht überlebte, verhältnismäßig klein erscheint.
Die Sterblichkeit muss jedoch genauer betrachtet werden, da sie in den Jahren des Lagerbestehens sehr unterschiedlich verläuft: Das Totenbuch zeigt auf, dass die Sterblichkeitsrate in Buchenwald im Jahr 1947 mit mehr als 16 Prozent am höchsten liegt, während sie sich 1950 nur noch bei 0,72 Prozent befindet. Allein 126 Jugendliche der Jahrgänge 1926 bis 1932 versterben im Speziallager Buchenwald.
Der Alltag der Internierten verändert sich im Laufe der Jahre nur wenig. Eine Arbeit gilt nach wie vor als Privileg und das Prinzip vollständiger Isolation von der Außenwelt bleibt auch in Buchenwald unangetastet. Lediglich Zeitungen werden zeitweise ausgehändigt.
»Ganz raffinierte Leute draußen gaben auf: ›Lieber Hans, wir sind noch alle bei uns, wir sind gesund‹ und so. Als die Russen das merkten, war die Zeitung wieder weg.«
Zu Beginn des Jahres 1950 melden die Zeitungen der DDR, dass die sowjetischen Speziallager vor ihrer Auflösung stünden. Die Staatspartei SED hat sich für die Schließung der Lager ausgesprochen, um sich einer schweren politischen Belastung zu entledigen und das Ansehen der neu gegründeten DDR zu erhöhen. Denn in der Bundesrepublik ist mittlerweile eine breitere Öffentlichkeit über die Zustände im Lager informiert und übt Druck auf die Besatzungsmacht und die Führung der DDR aus. So werden die Auflösungen nun als großmütiger Akt der Sowjetunion dargestellt und die Verhältnisse in den Speziallagern propagandistisch beschönigt.
Allerdings endet die Gefangenschaft nicht etwa für alle Lagerinsassen. Etwa 260 Internierte des Speziallagers Nr. 2 werden in die Sowjetunion deportiert und über 2.400 Häftlinge in die Justizvollzugsanstalt Waldheim überführt, wo sie in den sogenannten Waldheimer Prozessen im Schnellverfahren und ohne Rechtsgrundlage zu langjährigen Haftstrafen und in Einzelfällen sogar zum Tode verurteilt werden.
Bei der Entlassungsaktion übergibt die sowjetische Besatzungsmacht die Häftlinge an die deutschen Landespolizeibehörden und tritt auf den ausgestellten Bescheinigungen der Heimkehrenden ebenso wenig offiziell in Erscheinung, wie der genaue Aufenthaltsort der vergangenen Jahre.
Rolf wird am 30. Januar aufgerufen und über Nacht in eine Quarantänebaracke gesteckt, in der sich das Ungeziefer tummelt. Nicht nur wegen der Wanzen, sondern auch vor lauter Aufregung fällt Rolf das Schlafen schwer. Am Morgen des 31. Januar 1950 stattet man die zu Entlassenden mit frischer Kleidung aus, um ihren schlechten Allgemeinzustand etwas aufzuwerten. Die Sachen passen dem abgemagerten Rolf nur mäßig.
Gemeinsam mit 50 Kameraden wird Rolf zum Bahnhof von Weimar gebracht. Von dort aus fährt er mit dem Zug bis Greiz und läuft dann die restlichen zwölf Kilometer nach Reichenbach zu Fuß. Nach 52 Monaten der Gefangenschaft, in denen seine Familie nicht einen Hinweis auf sein Schicksal hatte, erreicht Rolf nachts um halb zwei sein Elternhaus. Er hüpft über den Gartenzaun und klopft leise an die Fensterscheibe. Die Begeisterung seiner Familie über seine Rückkehr ist riesengroß. Rolf selbst kann die Freudentränen nicht teilen.
»Wir waren so kalt und so kaputt. Keine Freude. Wir waren gar keine richtigen Menschen mehr. Viereinhalb Jahre war ich weg. Die ganze Jugend kaputtgemacht. Die ganze schöne Zeit! Das kannst du nicht mehr einholen.«
Die emotionale Bewältigung der Geschehnisse fällt nicht nur dem mittlerweile 21-Jährigen, sondern der ganzen Familie schwer. Rolfs Vater macht sich schwere Vorwürfe, die Verhaftung seines Sohnes damals nicht verhindert zu haben. Wenige Wochen nach Rolfs Rückkehr verstirbt er und für Rolf versiegt damit die Möglichkeit, sich mit seinen Eltern über die schlimmen Erlebnisse auszutauschen.
Denn Rolfs Mutter hat große Schwierigkeiten, das innere Leiden ihres Sohnes anzuerkennen. Sie ist zu sehr mit der körperlichen Versehrtheit von Rolfs Bruder beschäftigt, der im Zweiten Weltkrieg von einem Explosivgeschoss am Kopf getroffen wurde. Gottfrieds Verletzungen werden in einem langwierigen und komplizierten Prozess behandelt, um das Gesicht operativ wiederherzustellen.
»Also meine Mutter wollte von der Sache gar nichts richtig wissen. Aber ich nehme ihr das nicht übel. Das kann keiner verstehen, das kann keiner nachfühlen.«
Die sowjetischen Speziallager bleiben in der DDR ein Tabuthema, was jedoch nicht bedeutet, dass mit der Entlassung die Beobachtung der ehemaligen Häftlinge durch die DDR-Behörden und Volkspolizeiämter ein Ende findet. Innerhalb der Bevölkerung werden die ehemaligen Häftlinge ambivalent diskutiert und mal als Märtyrer hingestellt, mal ausgegrenzt und mit einem pauschalen Schuldvorwurf stigmatisiert. Anstelle ihrer Wiedereingliederung als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft halten die Repressionen gegen sie oftmals an.
»Es war sogar im Ausweis ein Kennzeichen. Die hatten vielleicht die Befürchtung, dass wir irgendwie was machen oder was weiß ich.«
Auch Rolf erfährt auf mehreren Ebenen Benachteiligung. Die Tuberkulose wird ihm als Vorerkrankung nicht anerkannt. Weil er seine Ausbildung nie abschließen konnte, fällt es ihm beruflich schwer, Fuß zu fassen. Und obwohl es ihm widerstrebt und er deutliche Versuche unternimmt, sich zu weigern, wird Rolf durch die Mitgliedschaft in der DSF in das System der DDR-Massenorganisationen gezwungen.
Eine positive Wendung in Rolfs Privatleben zeichnet sich ab, als er zu Beginn des Jahres 1952 seine zukünftige Frau kennenlernt. 1955 bekommt das Ehepaar einen Sohn und fünfzehn Jahre später eine Tochter.
Bis es dann zum Niedergang der DDR kommt, vergehen noch 29 Jahre. Für Rolf ein viel zu langer Zeitraum. Denn während das kommunistische Regime seine Macht ausübt, ist es ihm unmöglich, Kontakt zu ehemaligen Mithäftlingen aufzunehmen oder über die Zeit der Gefangenschaft frei zu sprechen.
Erst nach der Wende trifft er sich mit Christine Liszewski, der Tochter des ehemaligen Reichenbacher Oberbürgermeisters Schreiber, und berichtet ihr die Wahrheit über das Schicksal ihres Vaters im Speziallager Mühlberg. Zudem setzt er sich dafür ein, Schreiber eine öffentliche Würdigung zuteilwerden zu lassen.
Rolf kontaktiert nun auch die ehemaligen Kameraden, die ihn in den schweren Zeiten der Lagerhaft so wertvoll unterstützten, und er forscht nach seinem Namensvetter, an dessen Stelle er 1947 beinahe nach Sibirien deportiert worden wäre. Die beiden Rolfs treffen sich zum ersten Mal persönlich und tauschen Erinnerungen aus.
»Wir Jugendlichen mussten für das ganze Nazi-Zeug büßen. Die kleinen holten sie – und die großen ließen sie da. Das passt alles nicht zusammen. Aber das ist die Menschheit, die wird nicht schlau!«
Rolf setzt sich bis heute unablässig dafür ein, die Menschen seines Umfelds für die Thematik zu sensibilisieren. Als Überlebender fühlt er sich sämtlichen Verstorbenen gegenüber schuldig, ihr Andenken zu wahren, über das Unrecht aufzuklären und zu mahnen. Rolf engagiert sich in Opferverbänden, unterstützt die Errichtung von Gedenktafeln, er schreibt Zeitungsartikel und sucht das Gespräch mit regionalen Politikern. Doch es enttäuscht ihn, dass er wiederholt auf Desinteresse stößt. Die eigene Erinnerung an die erlebten Grausamkeiten lässt ihn nicht los.
»Mir kommen heute noch die Tränen, wenn ich daran denke. Ich verstehe nicht, dass der Mensch so schlecht sein kann, dass Unzufriedenheit und Habgier so stark sind. Das Leben ist ja nicht ewig, man muss eines Tages gehen und kann nichts mitnehmen.«
Rolf wohnt heute noch immer in dem Elternhaus, in dem er im Oktober 1945 verhaftet wurde. Mit Dankbarkeit erinnert er sich an seine bereits verstorbenen Kameraden und ehrt ihr Andenken. Einer von ihnen ist Helmut Janke, den Rolf einst beim Brottragen im Speziallager Mühlberg sah und dessen Biografie ebenfalls in dieser Schriftenreihe dokumentiert werden konnte.
»Also wenn der Janke sagt, er hatte Glück, dann muss ich sagen, ich hatte auch mehr als Glück. Dass ich rauskam.«
»Es war eine Lüge der neuen deutschen Polizei.«
Rolf Schneider wird am 3. Februar 1929 im vogtländischen Reichenbach geboren. Er ist der jüngste von drei Brüdern. Seine Eltern sind Hausfrau und Rentner. Rolf besucht die Volksschule in Reichenbach.
Mit dem Überfall auf Polen entfesselt Adolf Hitler am 1. September 1939 den Zweiten Weltkrieg, der über eine Dauer von fast sechs Jahren weltweit mehr als 65 Millionen Todesopfer fordern wird. Rolf sitzt gemeinsam mit seinem Vater viele Abende vor dem Volksempfänger und hört »Radio London«, um sich über die aktuellen Kriegsgeschehnisse zu informieren.
Sein ältester Bruder ist als Fliegersoldat bei der Wehrmacht eingesetzt und gerät im Verlauf des Krieges in amerikanische Gefangenschaft. Gottfried, der zweitälteste Bruder, meldet sich freiwillig bei der nationalsozialistischen Schutzstaffel (SS).
Auch der mittlerweile zehnjährige Rolf wird durch die Aufnahme ins Deutsche Jungvolk Teil einer nationalsozialistischen Organisation und mit 14 Jahren automatisch in die Hitlerjugend (HJ) übernommen. Die 1926 gegründete nationalsozialistische Jugendbewegung erfasst durch das Verbot konkurrierender Jugendverbände nahezu alle 10- bis 18-Jährigen. Die Massenorganisation vermittelt den Kindern und Jugendlichen die NS-Ideologie mit einem auf Gefolgschaft und Pflichterfüllung basierenden Wertesystem.
Im Frühjahr 1945 befindet sich der 16-jährige Rolf im zweiten Lehrjahr seiner Ausbildung zum Werkzeugmacher. In der Regel werden die Jungen seines Jahrgangs etappenweise von ihren Betrieben freigestellt, um eine mehrwöchige vormilitärische Ausbildung zu absolvieren. Die Lehrgänge in den »Reichsausbildungslagern« dienen nicht nur dem potenziellen Kriegseinsatz, sondern vor allem auch der politisch-weltanschaulichen Schulung der Jugendlichen.
Angesichts des Kriegsverlaufs wird die Einberufung ins Wehrertüchtigungslager Ende März 1945 mit einer Sofortaktion für alle 15- und 16-jährigen Hitlerjungen aus dem Vogtland umgesetzt. Das Nazi-Regime will sie auf den proklamierten »totalen Krieg« vorbereiten und für den Volkssturm ausbilden.
Die Wehrertüchtigung der Jungen im bayrischen Stegenwaldhaus muss aufgrund der unaufhaltsam näher rückenden Kriegsfront nach drei Wochen abgebrochen werden. Man schickt die Jugendlichen nach Mühlleithen bei Klingenthal, wo sich ein neuer Treffpunkt für die Auszubildenden befinden soll. Viele Jungen nutzen den langen Fußmarsch, um schon unterwegs ihre Heimatorte aufzusuchen. Rolf läuft bis nach Mühlleiten, wo man die Gruppe offiziell auflöst und die Jungen nach Hause schickt.
Die Stadt Reichenbach wird unterdessen mit einer friedlichen Kapitulationserklärung an die amerikanischen Streitkräfte übergeben, um die weitere Zerstörung der Stadt zu verhindern. Der vorangegangene Artilleriebeschuss kostete etlichen Einwohnern das Leben. Unter maßgeblicher Beteiligung des Polizeileutnants Walter Schreiner, des Feuerwehrunterführers Hermann Thoß, des Friesener Bürgermeisters Ullmann, des Dolmetschers Braun und anderer Personen ist es Oberbürgermeister Dr. Otto Schreiber, der die US-amerikanischen Truppen kontaktiert, symbolisch die Stadtfahne aushändigt und damit die kampflose Übergabe Reichenbachs besiegelt.
»Der verdammte Krieg war nun endlich vorbei. Als dann im Sommer die amerikanische Besatzungsmacht von der russischen abgelöst wurde, begann die Verhaftungswelle.«
Am 1. Juli 1945 übernimmt die Sowjetische Militäradministration in Deutschland SMAD die Kontrolle über das vogtländische Gebiet, das nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht und den Beschlüssen der alliierten Siegermächte der Sowjetischen Besatzungszone SBZ zugeteilt wird.
Der Tag, der Rolfs Leben unwiderruflich verändern wird, ist der 11. Oktober 1945. Es ist ein nebliger Abend, an dem sich der 16-Jährige schon gegen halb zehn Uhr abends ins Bett legt, weil er unter grippeähnlichen Symptomen leidet. Kurze Zeit später klopfen zwei Männer an die Haustür. Sie tragen Armbinden, die sie als deutsche Hilfspolizisten ausweisen, und fordern Rolfs Eltern auf, ihren Sohn zu wecken. Sie behaupten, den Jungen zu einer kurzen Befragung mitnehmen zu wollen.
»Das war eine Lüge! Und damit trugen sie Mitschuld. Auf diese Art und Weise wurden über 40 Jungen aus Reichenbach den Russen übergeben.«
Die zwei Männer in Zivilkleidung gehören vermutlich der Operativgruppe Plauen des NKWD an, des sowjetischen Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten (russisch: Narodny Kommissariat Wnutrennich Del). Sie bringen Rolf, der trotz seiner Erkältung gehorsam aufsteht und sich anzieht, auf das Reichenbacher Polizeiamt. Dort sind bereits fünf Jungen seiner Altersgruppe versammelt, die sich angesichts der ungewöhnlichen Situation staunend anschauen. Sie sind sich keines Vergehens bewusst und wundern sich, was der Anlass der angekündigten Befragung sein könnte, welche sie in diesem Moment noch gar nicht als Festnahme einordnen.
Mitten in der Nacht wird die kleine Gruppe zu einem Auto geführt und zum Stützpunkt der sowjetischen Kommandantur gefahren, die sich in einer Villa in der heutigen Weststraße Reichenbachs befindet.
Es findet eine Leibesvisitation statt, bei der man den Jugendlichen sämtlichen persönlichen Besitz abnimmt: Gürtel, Schnürsenkel und sogar Rolfs Taschentücher, trotz seines Schnupfens. Dann sperrt man ihn und zwei weitere Jungen in eine Zwei-Mann-Zelle. Der kleine Arrestraum ist nicht leer, es warten bereits sechs ältere Männer darin. Die neun Häftlinge teilen sich die wenigen Quadratmeter, so gut es geht. Nur zwei Mann können die vorhandenen Pritschen nutzen, der Rest schläft auf dem nackten Boden, direkt neben dem stinkenden Kübel, der mit der Notdurft von neun Personen ständig überzulaufen droht.
Was nun folgt, sind schier endlose Verhöre in nahezu jeder Nacht. Die Verständigung ist schwierig, denn die Mitarbeiter des NKWD sprechen nur gebrochenes Deutsch. Dennoch üben sie während der Vernehmungen enormen psychischen Druck auf die Jungen aus. Ihr Vorwurf lautet, Rolf und die anderen Jugendlichen seien Mitglieder der nationalsozialistischen Widerstandsbewegung »Werwolf«.
Die Anklage steht wie in Stein gemeißelt, obwohl es doch keinen Nachweis für die Existenz der Partisanenorganisation im sächsischen Raum gibt. Rolfs Erklärungen und Unschuldsbeteuerungen laufen ins Leere und veranlassen die politischen Geheimpolizisten der UdSSR nur, zu noch aggressiveren Verhörmethoden zu greifen.
»Ich wurde nicht geschlagen. Aber wenn du 16 Jahre alt bist, oder 15 waren manche: die Angst, die wir hatten. Wir waren ja halbe Kinder!«
Mit vorgehaltenen Pistolen und Drohgebärden wollen die Vernehmer Rolf zwingen, ein mehrseitiges, in kyrillischer Schrift verfasstes Protokoll zu unterschreiben. Weil er nicht weiß, was in dem Dokument steht, weigert er sich fast zwei Wochen lang, es zu unterzeichnen, denn er hat Angst davor, ein falsches und für sein weiteres Schicksal fatales Bekenntnis abzulegen. Für diejenigen Zellengenossen, die ihre Unterschrift leisten, haben die nächtlichen Verhöre ein sofortiges Ende. Schließlich erliegt auch Rolf dem Druck der NKWD-Beamten.
»Fünfmal auf Russisch unterschrieben, schon war die Sache abgetan. Der Inhalt des Dokuments wurde mir weder vorgelesen noch übersetzt.«
Die Verhaftungs- und Internierungspraxis der NKWD-Operativgruppen liegt verschiedenen staatlichen Beschlüssen zugrunde. Als einer der wichtigsten zählt der Befehl des Volkskommissars für Innere Angelegenheiten der UdSSR Nr. 00315 vom 18. April 1945, der Vorgaben für die Zielgruppen zu verhaftender Deutscher auflistet.
Da der Fall der Jugendlichen in der Mehrzahl nicht klar liegt, ist es gängige Praxis, ihnen Geständnisse über eine Mitgliedschaft im »Werwolf« abzupressen. So werden Rolf und zahlreiche Jugendliche zwischen 12 und 21 Jahren pauschal den sogenannten Spionen, Diversanten und Terroristen der deutschen Geheimdienste zugeordnet, was der weit gefassten Haftkategorie 1 des Befehls Nr. 00315 entspricht. Die Erfassung der Zielgruppe basiert nicht selten auf Denunziationen oder erfolgt mithilfe der Mitgliedslisten der NS-Organisationen sowie der Teilnehmerlisten der Wehrertüchtigungslager.
»Das kann sich kein Mensch vorstellen. Dort war einfach: ›Du lüGST, du Werwolf!‹ Aber hier im ganzen Vogtland gabs keinen einzigen Werwolf. Wir waren vollkommen unschuldig!«
Nachdem Rolf seine Unterschrift unter das Vernehmungsprotokoll gesetzt hat, wird ihm ein Koffer ausgehändigt, den seine Eltern für ihn gepackt haben. Darin befinden sich Bettwäsche und ein Übergangsmantel. In zahlreichen Fällen dürfen die Angehörigen der Gefangenen Kleidung, Toilettenartikel und auch Nahrung in den Gefängnissen abgeben. Bei Rolf sind es erneut die deutschen Hilfspolizisten, welche mit dem NKWD zusammenarbeiten und die Abholung der Koffer in den Elternhäusern der verhafteten Jugendlichen organisieren.
»Die deutsche Polizei – das waren Kommunisten, Antifaschisten und Sozialdemokraten, die damals uns Kinder holten.«
Bereits im Juni 1945 erlaubt die SMAD die Bildung von Polizeikräften in der sowjetischen Besatzungszone, die den Innenministerien der fünf in der SBZ liegenden Ländern unterstehen. Beim Aufbau werden fast ausschließlich Mitglieder der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) in die Führungsebene berufen.
Der Ausbildungsstand des Personals ist mangelhaft, bloß etwa 65 bis 95 Prozent sind geschult. In den ab 1946 geschaffenen Polizeischulen kann nur ein mangelhaftes Kursangebot angeboten werden, das meist vierwöchige Lehrgänge umfasst.
Wie Rolfs Erfahrungen bestätigen, ist die Kooperation der deutschen Polizei mit der sowjetischen Besatzungsmacht eng. Das NKWD bedient sich bei der Unterbringung seiner Gefangenen auch der deutschen Polizeigefängnisse. Die Beamten transportieren Rolf und weitere Gefangene am Abend mit einem Bus nach Plauen, wo sie eine Nacht im Gefängnis der Stadt verbringen. Am nächsten Tag erfolgt die Verlegung in eine Haftanstalt in Zwickau.
»Das Zwickauer Gefängnis im Vergleich zu Reichenbach: wie Tag und Nacht. Wasserspülung. Sauberes, warmes Wasser! Essen war natürlich genauso schlecht.«
Nach einigen Tagen werden zwei Busse mit Gefangenen besetzt. Mit zugezogenen Vorhängen, eingeschlossen und unter Bewachung beginnt die Fahrt. Rolf rechnet nicht damit, dass er sich auf dem Weg in ein sowjetisches Speziallager befindet, an einen Ort, an dem er unter den widrigsten Umständen viele Jahre seiner Jugend verlieren wird. Ein Ort, der für 6.766 Personen zum Grab wird.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wird in der SBZ ein System von zehn Speziallagern des NKWD eingerichtet, angewiesen durch dessen Chef Lawrenti Beria mit ebenjenem Befehl Nr. 00315, der auch die Bildung der eigenständigen Verwaltung »Abteilung Speziallager des NKWD der UdSSR in Deutschland« beinhaltet. Die Abteilung Speziallager ist neben den beiden großen sowjetischen Lagerverwaltungen für Strafgefangene GULAG und für Kriegsgefangene und Internierte (GUPWI) ein drittes Lagersystem, das erst 1948 dem GULAG als Hauptverwaltung des sowjetischen Lagersystems unterstellt wird.
Zwischen 1945 und 1950 erleiden weit über 122.600 Deutsche die Gefangenschaft in sowjetischen Speziallagern. Etwa 42.000 überleben die menschenunwürdigen Bedingungen der Haft nicht.
Offiziell gilt die Einrichtung von Internierungslagern in den vier Besatzungszonen als eine Maßnahme der alliierten Siegermächte, um Funktionäre des nationalsozialistischen Machtapparats zur Verantwortung zu ziehen und sich vor ihrer möglichen Betätigung im Untergrund zu schützen.
In der Sowjetischen Besatzungszone erfolgt die Umsetzung der Verhaftungen, Vernehmungen und der Betrieb der dortigen Speziallager jedoch auf eine Art und Weise, die jeglicher rechtsstaatlichen Grundlage entbehrt und über das unmittelbare Ziel der Entnazifizierung weit hinausgeht. Eine Auseinandersetzung mit dem Unrechtssystem der Nazis spielt innerhalb der Lager keine Rolle mehr, was die Annahme nahelegt, dass das NKWD auch diejenigen in Speziallager sperrt, die dem Aufbau der neuen gesellschaftlichen Ordnung im Wege stehen könnten – als präventive Isolationsmaßnahme.
Die Gefangenschaft im sowjetischen Speziallager ist von einer Mangel- und Fehlernährung, desolaten hygienischen Bedingungen, völlig unzureichender medizinischer Versorgung und dem Zwang zur körperlichen und geistigen Beschäftigungslosigkeit der Häftlinge charakterisiert. Sie müssen in den Lagern eine ungewisse Zeit absitzen, in der sie komplett von der Außenwelt isoliert sind.
Über Jahre hinweg wird nicht nur jeglicher Kontakt zu den Angehörigen unterbunden und der Aufenthaltsort der Insassen geheim gehalten, sondern selbst im Falle des Todes dringt keine Nachricht nach außen. Verwandte erfahren mitunter erst 45 Jahre später, nach der Deutschen Einheit, wann und wo das Familienmitglied verstarb.
Als der Gefangenentransport aus Zwickau sein Ziel erreicht und die Gruppe aussteigt, ist das erste, was Rolf wahrnimmt, das fremdartige Geräusch der Elbedampfer, die sich in der nächtlichen Dunkelheit mit Signaltönen bemerkbar machen. Die Gefangenen müssen in einer zerbombten Gebäuderuine übernachten. Erst am nächsten Morgen werden sie durch das Haupttor ins sowjetische Speziallager Nr. 1 Mühlberg/Elbe geführt, wo die sowjetische Lagerleitung jeden Neuankömmling einzeln registriert.
Nachdem diese Aufnahmeprozedur beendet ist, übergibt man die Häftlinge an das deutsche Lagerregime, denn bis auf die täglichen Zählappelle gibt es für die Insassen des Speziallagers nur wenig Berührungspunkte mit der sowjetischen Lagerleitung, die ihren Sitz im Außenlager hat. Innerhalb des Speziallagers Mühlberg erfolgt die Verwaltung durch die Gefangenen selbst. Diese Funktionshäftlinge werden vom NKWD eingesetzt und handeln weisungsgebunden. Darüber hinaus existiert eine Lagerpolizei.
Rolf muss bei der Ankunft seinen Koffer öffnen. Die Funktionshäftlinge nehmen sich daraus, was sie selbst behalten wollen – seine Bettwäsche und seinen Mantel.
»Meine Großmutter, eine gute, alte Frau, schenkte mir den Mantel im Herbst 1945, als ich als 16-Jähriger zum Tanz ging. Der war wie nochmal ein Gruß von ihr. Sie nahmen ihn mir weg.«
Bei Rolfs Ankunft im November 1945 sind im Speziallager Mühlberg erst wenige tausend Gefangene versammelt. Bis zum Jahresende wird das 80 Hektar große Lagergelände mit etwa 10.000 Insassen gefüllt sein. In der Zeit seines Bestehens, also zwischen September 1945 und Oktober 1948, durchlaufen das sowjetische Speziallager Nr. 1 Mühlberg/Elbe insgesamt 21.835 Personen, davon 1.490 Frauen. Mehr als ein Drittel von ihnen wird die Haftumstände nicht überleben. Das im Totenbuch veröffentlichte empirische Material belegt eine Häftlingszahl von 1.319 Jugendlichen, darunter 147 weibliche. Der jüngste Gefangene ist 13 Jahre alt und der älteste über 75.
Im Lager herrscht eine militärische Ordnung. Jeder Neuankömmling ist einer bestimmten Kompanie zugeteilt, der etwa 200 bis 300 Inhaftierte angehören, die gemeinsam eine Barackenhälfte beziehen. Seiner Kompanie entsprechend wird Rolf in der Baracke Nr. 35 einquartiert, wo besonders viele junge Häftlinge unterkommen. Sieben Jugendliche stammen aus Reichenbach und mehrere andere aus der nahen Umgebung.
Die heruntergekommenen Unterkünfte sind mittig durch einen Waschraum aufgeteilt, in dem kaltes Wasser aus durchlöcherten Eisenrohren fließt, die über betonierten Waschmulden angebracht sind. Als Betten dienen die Barackenwände umlaufende, doppelstöckige Liegestätten aus blankem Holz. Jedem Häftling steht rechnerisch eine Liegefläche von 50 bis 60 Zentimetern Breite zu.
»Grauenhaft. Ein Schuppen. Wir taten uns zum Schlafen zu dritt zusammen. Der in der Mitte lag, war am wärmsten. Wir wechselten uns ab. Einer von uns dreien ist mit im Massengraben.«
Am 27. November 1945 fällt der erste Schnee und kündigt den bevorstehenden Winter an. Rolf erinnert sich genau an den Tag, da es der Geburtstag seiner Mutter ist. Noch glaubt er hoffnungsvoll, Weihnachten wieder zu Hause bei seiner Familie zu sein. Stattdessen wird seine Gefangenschaft 52 Monate andauern.
Wenige Häftlinge starten Fluchtversuche. Ein Ausbruch aus dem Lagergelände ist nahezu unmöglich, da es mit Stacheldrahtzäunen gesichert ist und bewaffnete sowjetische Soldaten Posten am Haupteingang und auf den vier Wachtürmen besetzen. Im Sommer 1946 erfolgt eine Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen durch den Einsatz elektrischer Alarmsignale, Scheinwerfern in der Nacht sowie eines Sichtschutzes zum Außenbereich aus hohen Holzpalisaden.
Rolf wird jedoch Zeuge eines Fluchtversuchs, der 1945 außerhalb des Lagers bei einem Arbeitseinsatz der Häftlinge stattfindet. 200 bis 300 Gefangene verrichten die Zuckerrübenernte auf einem angrenzenden Feld, streng bewacht von bewaffneten Posten. In einem unbemerkten Moment gelingt es einem Mitgefangenen, über das Feld und die angrenzende Wiese bis hinauf zum Bahndamm zu laufen. Noch ehe die Wachposten ihre Maschinenpistolen zum Schuss ansetzen, ist der Mann über die Gleise entkommen und ein vorbeifahrender Zug ermöglicht sein Verschwinden im Wald. Zeitzeugenberichten zufolge ist er der einzige Insasse Mühlbergs, dem die Flucht aus dem Speziallager gelingt.
Bis auf die Reinigung ihrer Baracke sind Rolf und der überwiegende Teil der Gefangenen tagaus, tagein zum Nichtstun verdammt, denn Tätigkeiten wie der beschriebene Arbeitseinsatz sind Ausnahmefälle. Nur ein kleiner Teil der Inhaftierten hat die Möglichkeit, sich regelmäßig zu beschäftigen. So gibt es eine Häftlingsgruppe von Musikern, Tänzern und Schauspielern, welche die »Kultura« bildet, also die Kulturabteilung des Lagers mit Theater und Orchester.
Darüber hinaus dienen wenige Arbeitskommandos der Aufrechterhaltung des täglichen Lagerbetriebs: Ein Holzkommando schafft Brennmaterial heran, wenige Ärzte und Schwestern versorgen notdürftig die Erkrankten, Melder erhalten die Kommunikation aufrecht und Köche und ihre Helfer übernehmen die Essenszubereitung und -verteilung. Auf dem Lagergelände werden auch eine Schuhmacherwerkstatt, eine Schneiderei und eine Frisierstube betrieben.
Arbeitende erhalten einen Nachschlag bei der täglichen Ration und haben es – einmal durch diese zusätzliche Suppenkelle, mehr aber durch die tägliche Abwechslung – etwas leichter, dem körperlichen und moralischen Verfall entgegenzuwirken.
Doch es gibt im Lager Mühlberg auch unbeliebte und sogar gefährliche Tätigkeiten, wie das Beerdigungs- und das sogenannte Jauchekommando, in dem bemerkenswerterweise die noch arbeitsfähigen Mitglieder des Reichsgerichts und einige höhere Richter eingesetzt werden.
Die Entsorgung der Fäkalien geschieht unter primitivsten Bedingungen. Mit dem Schöpfer werden die Großlatrinen geleert und die gefüllten Eimer von Mann zu Mann bis zu demjenigen weitergereicht, der den Inhalt in die Jauchetonne füllen muss. Dann wird der volle Jauchewagen, eigentlich ein von Tieren gezogenes landwirtschaftliches Gefährt, von den Gefangenen bis auf weit außerhalb liegende Felder geschoben und dort geleert. Die Arbeit muss täglich und bei jedem Wetter erledigt werden, und die Häftlinge der Jauchekolonne erhalten keinerlei Schutzkleidung. Die körperliche Anstrengung und das Infektionsrisiko sind enorm.
»Eine ganz gefährliche Arbeit. Sind alle nacheinander gestorben.«
Rolf erhält bis zum Frühjahr 1946 zweimal die Gelegenheit zu einem außerordentlichen Arbeitseinsatz. Einmal muss er Baumstämme tragen, eine schwere und ungewohnte Arbeit, und das andere Mal werden Ziegel zum Aufbau eines Hauses im sowjetischen Lagerbereich benötigt. Etwa 1.000 Mann treten in Zehnerreihen an und werden zu den Gebäuden außerhalb des Hauptlagers geführt, wo jedem Häftling befohlen wird, einen Ziegel aufzuheben. Wer zu schwach ist, um den Ziegel so lange zu halten, bis der Abmarschbefehl kommt, wird mit dem Gewehrkolben geschlagen.
»Da war ein Russe dabei, der hielt den Kopf schräg, das war der ›Schiefhals‹. Der sagte zu uns: ›Kleiner Faschist.‹ Der tat uns nichts! Der hatte Mitleid. Es gab solche und solche.«
Das Verhältnis zu den sowjetischen Bewachern ist ambivalent. Rolf erinnert sich an einen gewaltbereiten Wachposten namens Boris, der die Internierten wiederholt aus den Baracken jagt, denn das Hinlegen ist tagsüber nicht gestattet. Ein Mitgefangener, der schon die Gefängniszelle in Reichenbach mit Rolf teilt und in Mühlberg derselben Kompanie zugehört, berichtet ihm von seiner Arbeit im Beerdigungskommando.
Der 4. Februar 1947 ist mit 40 Personen das Datum mit den meisten Todesfällen. Ein Tag, an dem nicht nur die schon jahrelang erduldeten Umstände der Gefangenschaft und die nochmals reduzierten Verpflegungssätze, sondern auch der besonders kalte Winter ihre Opfer fordern. Die Anzahl Verstorbener ist so groß, dass keine Obduktion und Protokollierung der Todesumstände mehr erfolgen. Die Leichen tragen statt Blechmarken nur noch Papierzettel mit fortlaufender Nummerierung am Zeh.
Schon im frühen Morgengrauen steht das Beerdigungskommando an der Lagerstraße bereit, um unbeobachtet von den anderen Gefangenen die Toten unter die Erde zu bringen. Auf Holztragen und nur in Decken eingeschlagen werden die anonymen Körper vom Leichenhaus bis zum nördlichen Rand des Lagers getragen und in bereits ausgehobene Löcher geworfen.
Ein Häftling muss hinabsteigen und die nackten Leiber sortieren, damit sie in das flache Grab passen. Dann wird Chlorkalk darübergestreut und Erde aufgeschüttet. Eine Kennzeichnung der Grabstätten erfolgt nicht. Selten erlauben die sowjetischen Wachposten, dass Gebete für die verstorbenen Kameraden gesprochen werden dürfen.
Wie respektvoll oder respektlos die Beerdigungen erfolgen, dazu gibt es unterschiedliche Berichte von ehemaligen Mühlberg-Insassen. Rolfs Kamerad schildert ihm ein eindrückliches Erlebnis, als der Gefangene, der die Leichen im Grab sortieren muss, anschließend nicht herausgelassen wird. Die sowjetischen Wachposten machen sich einen sadistischen Spaß daraus, das Grab zuzuschütten, bis nur noch der Kopf des Mannes herausschaut. Erst im letzten Moment darf er das Grab verlassen.
»So eine Art Menschen waren das, die uns bewachten. Das waren aber bestimmte Leute, das muss man auch sehen. Und der Hitler hat ja in Russland auch tüchtig gehaust.«
Rolf macht die Erfahrung, dass die deutsche Lagerleitung und deren Gehilfen ihre privilegierte Stellung durchaus zu ihrem Vorteil zu nutzen wissen. Während der Weihnachtstage wird er mit ein paar Männern seiner Kompanie zum Kartoffelschälen in die Küche abkommandiert. Rolf wiegt sich in der Hoffnung, es gäbe anlässlich des bevorstehenden Festes eine bessere Verpflegung als sonst für die Gefangenen. Doch stattdessen muss er feststellen, dass er nur mithilft, einen Kartoffelsalat zuzubereiten, den allein die Stabsmelder, das Küchenpersonal, der Hauptlagerführer und andere Privilegierte zu essen bekommen.
»So lebten die dort. Und die Alten starben wie die Fliegen. Du konntest dir ausrechnen, wann du dran warst. Mühlberg war ein Todeslager. Das war die schlimmste Zeit.«
Die Qualität der Essensversorgung im Speziallager Mühlberg schwankt während der Jahre seines Bestehens außerordentlich. Grundsätzliche Bestandteile der Verpflegung sind zum Morgen 500 bis 600 Gramm trockenes Brot pro Person sowie Ersatzkaffee, und zum Mittag und Abend je eine wässrige Suppe.
Die Rationen der Backware, die weit weniger kompakt und sättigend ist, als man es vom deutschen Brot gewohnt ist, werden im Winter 1946 halbiert. Ebenso verändert sich die Qualität der Suppen zum Schlechten. Ein Dreiviertelliter Suppe weist kaum drei Löffel fester Substanz auf, meistens Graupen oder Hirse, dazu oft angefaulte Möhren oder das aufblähende, aber völlig nährstofffreie Kartoffelwalzmehl, die sogenannte Pülpe.
Die Männer in Rolfs Kompanie zelebrieren das Aufteilen der ihnen zugeteilten Kastenbrote mit einer lebensnotwendigen Ernsthaftigkeit. In Ermangelung von Messern bauen sie sich aus Draht und Holz eine Konstruktion an den Barackentisch, mit der sie die Brote präzise schneiden können.
»Auf drei Mann kam ein Brot. Aber das reichte, dass du erst einmal einen Moment satt warst. Brot war unsere Lebenswichtigkeit hier.«
Die Insassen Mühlbergs bestreiten ihren trostlosen Alltag unter unvorstellbaren hygienischen Bedingungen. Ununterbrochen plagt sie das Ungeziefer: Wanzen, Flöhe, Läuse und andere Blutsauger. Zur Reinigung ihres Körpers stehen nur kaltes Wasser, aber weder Seife, Zahnbürste noch Toilettenpapier zur Verfügung. Sie haben keine Möglichkeit, ihre Kleidung zu wechseln, die über die vielen Monate und Jahre der Gefangenschaft zusehends verschleißt und oftmals noch etliche Zentimeter einbüßt, wenn sie sich mit kleinen herausgerissenen Stücken ihres Hemdes als Lappenersatz behelfen.
Alle sechs bis acht Wochen dürfen die Inhaftierten die Badeanstalt besuchen – eine Einrichtung, die auf das Kriegsgefangenenlager M.-Stalag IV B. zurückgeht, das sich vor der Nutzung als NKWD-Speziallager auf dem Areal befand. Nach einer solchen Dusche erkrankt Rolf im Frühjahr 1946 an Fieber, Erkältung und Durchfall. Er wird in die Krankenbaracke verlegt, in der mit ihm etwa 200 Mann untergebracht sind, die an Ruhr, Dystrophie, Tuberkulose und Hautkrankheiten leiden. Die Ärzte besitzen weder chirurgisches Besteck, Verbandsmaterial noch Medikamente. Wenige der als Krankenschwestern eingesetzten Frauen sind medizinisch ausgebildet.
Rolf gesundet nach wenigen Wochen, doch der Aufenthalt im Lazarettbereich bleibt ihm in steter Erinnerung, denn er begegnet dort dem ehemaligen Reichenbacher Oberbürgermeister. Otto Schreiber berichtet Rolf von der Übergabe der Stadt an die amerikanischen Streitkräfte und zeigt ihm eine Fotografie, die seine Frau und seine beiden Töchter abbildet. Rolf wundert sich, dass der Mann diesen wertvollen persönlichen Schatz vor den regelmäßigen Leibesvisitationen retten konnte. Wenige Wochen nach Rolfs Entlassung aus dem Krankenrevier ereilt ihn die Nachricht, dass Schreiber gestorben sei.
»Und als ich 1950 heimkam und zum Zahnarzt musste, dachte ich, ich sehe nicht richtig. Die Zahnarzthelferin war die Kleinste vom Bürgermeister Schreiber. Und ich konnte der nichts sagen!«
Ab Juli 1946 gibt es eine Vielzahl von Veränderungen im Lageralltag, welche die Umstände der Inhaftierung zunehmend verschärfen. Zunächst wird eine Zonenunterteilung des Lagergeländes beschlossen und mittels Stacheldrahtzäunen umgesetzt. Den Häftlingen ist es fortan nur noch erlaubt, sich in jener Zone frei zu bewegen, in der sich ihre Unterkunft befindet. Kontakte zu Bekannten in anderen Baracken reduzieren sich somit auf ein Minimum.
Darüber hinaus erfolgt die Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen nach außen. Nach den genannten Kürzungen bei der Essensversorgung finden auch die Aufführungen der Kultura ihr Ende, denen Rolf mit seiner Kompanie zweimal beiwohnen durfte. Die Perspektivlosigkeit spitzt sich zu und die Anzahl der Todesfälle steigt.
»Die Küchenhelfer, Stabsmelder usw. konnten hundert Jahre alt werden. Denen ging es drin besser als draußen. Aber es hatte einen Nachteil: Die kamen mit zum Pelzmützentransport.«
Etwa 15 Prozent der in den sowjetischen Speziallagern inhaftierten Deutschen wird ab 1947 in die Sowjetunion deportiert. Die ausschließlich männlichen Lagerinsassen sollen entlassene und verstorbene deutsche Kriegsgefangene bei der schweren Arbeit im untertägigen Steinkohleabbau und auf Baustellen ersetzen.
Zu diesem Zweck besucht eine sowjetische Ärztekommission im Januar 1947 das Speziallager Nr. 1 und filtert in einer oberflächlichen, aber demütigenden Leibesvisitation die ihrer Einschätzung nach Arbeitsfähigen unter den Häftlingen heraus. Insbesondere Spezialisten aus technischen und handwerklichen Berufen sind gefragt.
Der physische Zustand der Lagerinsassen Mühlbergs ist derart schlecht, dass man unter den etwa 12.000 Häftlingen lediglich 902 Personen als arbeitstauglich einstuft. Die Männer werden mit Watteanzügen und Pelzmützen der Wehrmacht ausgestattet und am 8. Februar 1947 in einem 33 Tage dauernden Transport ins sibirische Anschero-Sudschensk verbracht. Die letzten von ihnen kehren erst 1952 nach Deutschland zurück.
Bevor die Insassen des Mühlberger Speziallagers die später als Pelzmützentransport bezeichnete Verschleppung zur Zwangsarbeit antreten, werden sie in einer gesonderten Baracke isoliert. Während Rolfs Musterung wird schnell klar, dass ihn sein schlechter Gesundheitszustand vor der Deportation bewahrt. Doch zu seiner Überraschung sucht ihn einen Tag später ein Stabsmelder auf und weist ihn an, seine Habseligkeiten zu packen und sich in der Baracke der Arbeitsfähigen einzufinden.
»Da waren die ganzen Kräftigen drin, und ich dürrer Kerl! Dann stellten sie fest, dass es noch einen Schneider Rolf, Jahrgang 1928, gab. Und da wurden wir ausgewechselt.«
Die Verwechslung von Rolf mit seinem älteren Namensvetter, den er nicht zu Gesicht bekommt, klärt sich glücklicherweise rechtzeitig auf. Doch nach diesem Missverständnis wird der mittlerweile 18-Jährige nicht wieder in die Baracke 35 zurückgebracht, sondern in die Baracke 4a in Zone 1 verlegt.
Obwohl er damit aus seinem vertrauten Umfeld gerissen ist und nur wenige Jugendliche in der neuen Unterkunft wohnen, hat der Umzug doch einen Vorteil für Rolf. Er trifft auf Heinz Bachmann aus Reichenbach, der in der Backstube arbeitet und sich auf den Vorschlag einlässt, seine Arbeitsstelle halbtags mit Rolf zu teilen. Der Kamerad Willi Wulsten setzt die Regelung beim Schichtführer durch.
Rolf hat nun die Gelegenheit, sich während der Tätigkeit in der Bäckerei an den produzierten Backwerken zu bedienen. Fast zwei Wochen dauert es, bis er den Hunger nicht mehr verspürt, der schon so viele Monate ein quälender, allgegenwärtiger Begleiter gewesen ist. Das neugewonnene Sättigungsgefühl ermöglicht es Rolf sogar, einen Teil seiner Brotrationen einzutauschen. Dafür lässt er sich von den Handwerkern einen Aluminiumkamm anfertigen.
Gleichzeitig schwemmt Rolfs unterernährter Körper jedoch auf unnatürliche Weise auf und die verbesserte Verpflegungssituation bewahrt ihn nicht vor einer gefährlichen bakteriellen Infektionskrankheit, die in den meisten Speziallagern seuchenartig grassiert: Die Tuberkulose.
Da die Ansteckung durch Tröpfchenübertragung erfolgt und die Krankheit besonders bei Menschen mit geschwächtem Immunsystem ausbricht, infizieren sich die Inhaftierten des Speziallagers Mühlberg reihenweise.
Im Frühjahr 1948 wird ein Röntgengerät angeschafft, um die Krankheit einfacher zu diagnostizieren. Die Küchen- und Bäckereibeschäftigten gehören zu den ersten, die mit dem neuen Apparat untersucht werden, und so wird auch bei Rolf die Tuberkulose festgestellt. Doch die Behandlung der Erkrankten besteht in kaum mehr als einer etwas besseren Ernährung und der Isolation auf den zahlreichen neu eingerichteten Krankenstationen. Rolf wird in einem Drei-Personen-Zimmer untergebracht. Was er darin erlebt, wird er nie vergessen.
»Das Sterben der Menschen! Ein Kamerad führte einen Veitstanz auf, zog sich nackig aus und tanzte dort rum, dann kam Blut aus dem Mund geschossen! Brach er zusammen, war er tot.«
Rolfs langer Aufenthalt im Lazarettbereich fällt genau in die Zeitspanne, in der sich das Lager Mühlberg seiner Auflösung nähert. Der Betrieb des Speziallagers Nr. 1 wird mit dem Befehl Nr. 002 940/6 vom 1. Oktober 1948 eingestellt. Schon ab Mitte Juli 1948 entlässt man täglich 100 bis 200 Gefangene und es sind insgesamt 7.060 Häftlinge, die jetzt ihre Freiheit wiedererlangen. Die verbliebenen Insassen des Speziallagers Mühlberg, mindestens 3.600 Personen, überführt man in das sowjetische Speziallager Nr. 2 Buchenwald.
»Von den 45 Reichenbacher Jungen waren drei gestorben und drei nach Sibirien gekommen. Sechs, sieben entließen sie. Und uns nicht. Wir mussten drinbleiben. Warum wir? Weiß heute noch keiner, was da wie ablief. Das war ganz, ganz schlimm.«
Rolf verlässt sein Krankenzimmer, das er nach dem qualvollen Tod seiner Mitinsassen allein belegt hat – abgesehen von unzähligen Mäusen und Ungeziefer – schließlich am 17. September 1948. Aus eigenen Kräften kann er den Weg nicht bestreiten und so wird er von Sanitätern auf einer Bahre hinausgetragen. Man hängt ihm ein Pappschild um den Hals, auf dem das Kürzel »OT« geschrieben steht, das auf die offene Tuberkulose hinweist. Dann verlädt man ihn auf einen Lkw, auf dem schon andere Schwerkranke liegen, und fährt die Gruppe aus dem Lager hinaus bis zum Bahnhof Neuburxdorf.
Dort angekommen werden je 42 Häftlinge gemeinsam in einen Güterwaggon gesteckt, ungeachtet dessen, wer von ihnen krank und wer noch gesund ist. Laut sowjetischer Zählung befinden sich unter den überführten Gefangenen 672 Menschen mit offener und viele weitere mit geschlossener Tuberkulose, so dass die Krankheit nahezu ungebremst weiter um sich greifen kann.
»Und da machte ich mir das Schild runter. Ich wollte das nicht mehr erleben!«
Seit August 1945 betreibt das NKWD/MWD das Gelände auf dem Ettersberg bei Weimar als Speziallager Nr. 2 Buchenwald. Die meisten der vorhandenen Unterkünfte des ehemaligen NS-Konzentrationslagers sowie das Lazarett und die Versorgungseinrichtungen werden weitergenutzt. Neu entsteht nur eine Bäckerei. Das Krematorium wird nicht wieder in Betrieb genommen.
Auch im Speziallager Buchenwald ist die Isolierung der Internierten allumfassend. Der Bereich der Häftlingsunterkünfte ist in Zonen aufgeteilt und jede der Baracken einzeln eingezäunt. Als die Neuankömmlinge die ihnen zugewiesene Häftlingsbaracke betreten, sitzen auf den Doppelstockbetten ein paar Jungen und singen ein Lied, das Rolf völlig unbekannt ist. Verwundert fragt er nach der Herkunft der Musik. Die jungen Häftlinge berichten ihm, dass es sich um das Lied der Capri-Fischer handelt, das bei Rolfs Verhaftung 1945 noch nicht bekannt war.
Rolf ist erst wenige Tage im Speziallager Buchenwald, als ihn Fieber und heftige Schmerzen im Brustbereich heimsuchen. Mit der Diagnose Rippenfellentzündung wird er in die Krankenbaracke eingeliefert.
»Das war gegenüber Mühlberg wie eine Erholung für mich. Die Baracken doppelt gedeckt, der Fußboden einwandfrei. Warmes Wasser, Klosetten.«
Rolf gelingt es, sich innerhalb eines Dreivierteljahres zu erholen. Im Frühjahr 1949 kann er das Lazarett verlassen und wird im allgemeinen Teil der Gefangenenbaracken untergebracht. Doch nicht alle Tuberkulose-Patienten, die immerhin etwa 30 Prozent der Lagerinsassen Buchenwalds ausmachen, überstehen die schwere Erkrankung. Sie leiden mitunter noch Jahre nach ihrer Gefangenschaft an den Folgen oder sterben sogar daran.
Für das sowjetische Speziallager Nr. 2 Buchenwald lassen sich über 7.100 Todesfälle nachweisen. Bei insgesamt mehr als 28.000 Häftlingen bedeutet das den Tod jedes vierten Lagerinsassen – eine Zahl, die im Vergleich zu den Statistiken der anderen sowjetischen Speziallager, in denen etwa jeder dritte die Gefangenschaft nicht überlebte, verhältnismäßig klein erscheint.
Die Sterblichkeit muss jedoch genauer betrachtet werden, da sie in den Jahren des Lagerbestehens sehr unterschiedlich verläuft: Das Totenbuch zeigt auf, dass die Sterblichkeitsrate in Buchenwald im Jahr 1947 mit mehr als 16 Prozent am höchsten liegt, während sie sich 1950 nur noch bei 0,72 Prozent befindet. Allein 126 Jugendliche der Jahrgänge 1926 bis 1932 versterben im Speziallager Buchenwald.
Der Alltag der Internierten verändert sich im Laufe der Jahre nur wenig. Eine Arbeit gilt nach wie vor als Privileg und das Prinzip vollständiger Isolation von der Außenwelt bleibt auch in Buchenwald unangetastet. Lediglich Zeitungen werden zeitweise ausgehändigt.
»Ganz raffinierte Leute draußen gaben auf: ›Lieber Hans, wir sind noch alle bei uns, wir sind gesund‹ und so. Als die Russen das merkten, war die Zeitung wieder weg.«
Zu Beginn des Jahres 1950 melden die Zeitungen der DDR, dass die sowjetischen Speziallager vor ihrer Auflösung stünden. Die Staatspartei SED hat sich für die Schließung der Lager ausgesprochen, um sich einer schweren politischen Belastung zu entledigen und das Ansehen der neu gegründeten DDR zu erhöhen. Denn in der Bundesrepublik ist mittlerweile eine breitere Öffentlichkeit über die Zustände im Lager informiert und übt Druck auf die Besatzungsmacht und die Führung der DDR aus. So werden die Auflösungen nun als großmütiger Akt der Sowjetunion dargestellt und die Verhältnisse in den Speziallagern propagandistisch beschönigt.
Allerdings endet die Gefangenschaft nicht etwa für alle Lagerinsassen. Etwa 260 Internierte des Speziallagers Nr. 2 werden in die Sowjetunion deportiert und über 2.400 Häftlinge in die Justizvollzugsanstalt Waldheim überführt, wo sie in den sogenannten Waldheimer Prozessen im Schnellverfahren und ohne Rechtsgrundlage zu langjährigen Haftstrafen und in Einzelfällen sogar zum Tode verurteilt werden.
Bei der Entlassungsaktion übergibt die sowjetische Besatzungsmacht die Häftlinge an die deutschen Landespolizeibehörden und tritt auf den ausgestellten Bescheinigungen der Heimkehrenden ebenso wenig offiziell in Erscheinung, wie der genaue Aufenthaltsort der vergangenen Jahre.
Rolf wird am 30. Januar aufgerufen und über Nacht in eine Quarantänebaracke gesteckt, in der sich das Ungeziefer tummelt. Nicht nur wegen der Wanzen, sondern auch vor lauter Aufregung fällt Rolf das Schlafen schwer. Am Morgen des 31. Januar 1950 stattet man die zu Entlassenden mit frischer Kleidung aus, um ihren schlechten Allgemeinzustand etwas aufzuwerten. Die Sachen passen dem abgemagerten Rolf nur mäßig.
Gemeinsam mit 50 Kameraden wird Rolf zum Bahnhof von Weimar gebracht. Von dort aus fährt er mit dem Zug bis Greiz und läuft dann die restlichen zwölf Kilometer nach Reichenbach zu Fuß. Nach 52 Monaten der Gefangenschaft, in denen seine Familie nicht einen Hinweis auf sein Schicksal hatte, erreicht Rolf nachts um halb zwei sein Elternhaus. Er hüpft über den Gartenzaun und klopft leise an die Fensterscheibe. Die Begeisterung seiner Familie über seine Rückkehr ist riesengroß. Rolf selbst kann die Freudentränen nicht teilen.
»Wir waren so kalt und so kaputt. Keine Freude. Wir waren gar keine richtigen Menschen mehr. Viereinhalb Jahre war ich weg. Die ganze Jugend kaputtgemacht. Die ganze schöne Zeit! Das kannst du nicht mehr einholen.«
Die emotionale Bewältigung der Geschehnisse fällt nicht nur dem mittlerweile 21-Jährigen, sondern der ganzen Familie schwer. Rolfs Vater macht sich schwere Vorwürfe, die Verhaftung seines Sohnes damals nicht verhindert zu haben. Wenige Wochen nach Rolfs Rückkehr verstirbt er und für Rolf versiegt damit die Möglichkeit, sich mit seinen Eltern über die schlimmen Erlebnisse auszutauschen.
Denn Rolfs Mutter hat große Schwierigkeiten, das innere Leiden ihres Sohnes anzuerkennen. Sie ist zu sehr mit der körperlichen Versehrtheit von Rolfs Bruder beschäftigt, der im Zweiten Weltkrieg von einem Explosivgeschoss am Kopf getroffen wurde. Gottfrieds Verletzungen werden in einem langwierigen und komplizierten Prozess behandelt, um das Gesicht operativ wiederherzustellen.
»Also meine Mutter wollte von der Sache gar nichts richtig wissen. Aber ich nehme ihr das nicht übel. Das kann keiner verstehen, das kann keiner nachfühlen.«
Die sowjetischen Speziallager bleiben in der DDR ein Tabuthema, was jedoch nicht bedeutet, dass mit der Entlassung die Beobachtung der ehemaligen Häftlinge durch die DDR-Behörden und Volkspolizeiämter ein Ende findet. Innerhalb der Bevölkerung werden die ehemaligen Häftlinge ambivalent diskutiert und mal als Märtyrer hingestellt, mal ausgegrenzt und mit einem pauschalen Schuldvorwurf stigmatisiert. Anstelle ihrer Wiedereingliederung als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft halten die Repressionen gegen sie oftmals an.
»Es war sogar im Ausweis ein Kennzeichen. Die hatten vielleicht die Befürchtung, dass wir irgendwie was machen oder was weiß ich.«
Auch Rolf erfährt auf mehreren Ebenen Benachteiligung. Die Tuberkulose wird ihm als Vorerkrankung nicht anerkannt. Weil er seine Ausbildung nie abschließen konnte, fällt es ihm beruflich schwer, Fuß zu fassen. Und obwohl es ihm widerstrebt und er deutliche Versuche unternimmt, sich zu weigern, wird Rolf durch die Mitgliedschaft in der DSF in das System der DDR-Massenorganisationen gezwungen.
Eine positive Wendung in Rolfs Privatleben zeichnet sich ab, als er zu Beginn des Jahres 1952 seine zukünftige Frau kennenlernt. 1955 bekommt das Ehepaar einen Sohn und fünfzehn Jahre später eine Tochter.
Bis es dann zum Niedergang der DDR kommt, vergehen noch 29 Jahre. Für Rolf ein viel zu langer Zeitraum. Denn während das kommunistische Regime seine Macht ausübt, ist es ihm unmöglich, Kontakt zu ehemaligen Mithäftlingen aufzunehmen oder über die Zeit der Gefangenschaft frei zu sprechen.
Erst nach der Wende trifft er sich mit Christine Liszewski, der Tochter des ehemaligen Reichenbacher Oberbürgermeisters Schreiber, und berichtet ihr die Wahrheit über das Schicksal ihres Vaters im Speziallager Mühlberg. Zudem setzt er sich dafür ein, Schreiber eine öffentliche Würdigung zuteilwerden zu lassen.
Rolf kontaktiert nun auch die ehemaligen Kameraden, die ihn in den schweren Zeiten der Lagerhaft so wertvoll unterstützten, und er forscht nach seinem Namensvetter, an dessen Stelle er 1947 beinahe nach Sibirien deportiert worden wäre. Die beiden Rolfs treffen sich zum ersten Mal persönlich und tauschen Erinnerungen aus.
»Wir Jugendlichen mussten für das ganze Nazi-Zeug büßen. Die kleinen holten sie – und die großen ließen sie da. Das passt alles nicht zusammen. Aber das ist die Menschheit, die wird nicht schlau!«
Rolf setzt sich bis heute unablässig dafür ein, die Menschen seines Umfelds für die Thematik zu sensibilisieren. Als Überlebender fühlt er sich sämtlichen Verstorbenen gegenüber schuldig, ihr Andenken zu wahren, über das Unrecht aufzuklären und zu mahnen. Rolf engagiert sich in Opferverbänden, unterstützt die Errichtung von Gedenktafeln, er schreibt Zeitungsartikel und sucht das Gespräch mit regionalen Politikern. Doch es enttäuscht ihn, dass er wiederholt auf Desinteresse stößt. Die eigene Erinnerung an die erlebten Grausamkeiten lässt ihn nicht los.
»Mir kommen heute noch die Tränen, wenn ich daran denke. Ich verstehe nicht, dass der Mensch so schlecht sein kann, dass Unzufriedenheit und Habgier so stark sind. Das Leben ist ja nicht ewig, man muss eines Tages gehen und kann nichts mitnehmen.«
Rolf wohnt heute noch immer in dem Elternhaus, in dem er im Oktober 1945 verhaftet wurde. Mit Dankbarkeit erinnert er sich an seine bereits verstorbenen Kameraden und ehrt ihr Andenken. Einer von ihnen ist Helmut Janke, den Rolf einst beim Brottragen im Speziallager Mühlberg sah und dessen Biografie ebenfalls in dieser Schriftenreihe dokumentiert werden konnte.
»Also wenn der Janke sagt, er hatte Glück, dann muss ich sagen, ich hatte auch mehr als Glück. Dass ich rauskam.«