»Unser Leben hätte anders verlaufen können.«
Christine Schreiber wird am 26. Juli 1934 als Tochter des späteren Reichenbacher Oberbürgermeisters Dr. Otto Schreiber und dessen Frau Hertha geboren. Gemeinsam mit ihrer fünf Jahre älteren Schwester Inge wächst sie in der Mietwohnung einer Villa in der Bahnhofstraße auf.
Die glücklichen und unbeschwerten Kindheitstage finden ein jähes Ende, als Familie Schreiber 1939 im Urlaub auf der Ostseeinsel Rügen ist, wo Christine zum ersten Mal Kriegsschiffe erblickt. Unbehaglichkeit breitet sich aus, und schließlich, mit dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939, beginnt der Zweite Weltkrieg.
In den ersten Jahren ist Christine von den Kriegsgeschehnissen nicht direkt betroffen. Ihr einziger Bezug zu dem, was an der Front geschieht, liegt im Engagement für das Winterhilfswerk. Da sie wie fast alle Mädchen ihres Alters als Jungmädel in der Hitlerjugend eingegliedert ist, wirkt Christine bei Aufführungen mit, die zur Sammlung von Spenden für die Wehrmachtssoldaten an der Ostfront dienen. Die Kinder wachsen ganz selbstverständlich mit der nationalsozialistischen Ideenlehre auf. Christine stiehlt ihrer großen Schwester sogar einmal die BDM-Jacke, weil sie das Kleidungsstück so fasziniert.
»Wie doch die Ideologie fruchtete! Das war ja nicht das einzige Mal, dass wir Deutschen auf Ideologien hereinfielen und uns lenken ließen.«
Ab Winter 1942 ist es mit den Siegeszügen der Wehrmacht vorbei und es beginnt der sich über mehr als drei Jahre hinziehende, erzwungene Rückzug der deutschen Armee. Kriegshandlungen spielen sich nun größtenteils auf deutschem Boden ab. Bei einem US-amerikanischen Fliegerangriff am 21. März 1945 fallen den Bomben 161 Reichenbacher zum Opfer und die Stadt erfährt zahlreiche Zerstörungen.
Immer wieder gibt es Fliegeralarme. Wenn die Kinder von der Schule nach Hause geschickt werden, rennt Christine eilig durch die Stadt, um sich im Luftschutzkeller zu verstecken. Einmal ist sie nicht schnell genug, kurz vor dem Ziel zieht ein Tiefflieger über sie hinweg. Panisch wirft sich das Mädchen den Hang hinunter und bleibt vor Angst erstarrt im Gebüsch liegen. Sie hat Glück und entkommt dem Angriff unverletzt, doch einige Straßen entfernt stirbt ein Mann im Kugelhagel.
Die zehnjährige Christine hat fürchterliche Angst, wenn sie sich mit ihrer Schwester und der Mutter im Keller vor den Luftangriffen versteckt. Zittert bangt sie um das Überleben der Familie und hat oft große Sorge um ihren Vater, der bei jedem Alarm pflichtbewusst im Rathaus weilt. Und tatsächlich ist der Verlauf der letzten Kriegstage schicksalhaft für die Familie Schreiber.
Aus den überlieferten Aufzeichnungen des Oberbürgermeisters Dr. Otto Schreiber und den Berichten vieler Zeitzeugen kann folgendes Szenario rekonstruiert werden: Am Morgen des 16. April 1945 bezieht eine deutsche Panzerdivision ganz in der Nähe Reichenbachs Stellung und bringt die Stadt damit in die große Gefahr, ins direkte Kampfgeschehen mit der amerikanischen Armee gezogen zu werden.
Otto Schreiber untersteht zu diesem Zeitpunkt den Anweisungen des zuständigen Kampfkommandanten Major Enders und ist zu keiner selbstständigen Handlung befugt. Enders macht sich in der Nacht auf den Weg nach Auerbach, um Informationen zu sammeln, und plant seine Rückkehr für 9 Uhr am nächsten Tag. In den frühen Morgenstunden des 17. April erfährt die untere Stadt Artilleriebeschuss durch amerikavnische Truppen, doch der Kampfkommandant kehrt nicht zur vereinbarten Zeit zurück und ist auch nicht erreichbar.
Otto Schreiber gerät in einen Zwiespalt. Auf der einen Seite drängen ihn zahlreiche Bürger zur kampflosen Übergabe der Stadt, doch gleichzeitig suchen ihn verschiedene Militärangehörige auf, die mit dem Standgericht drohen, sollte er die Kapitulation anstreben. Die äußerste Verteidigung der Städte ist schließlich seit einem Befehl des Führerhauptquartiers Pflicht und auf jegliche Zuwiderhandlung steht die Todesstrafe.
Mehrere Bürger beginnen damit, an ihren Häusern die weiße Fahne zu hissen. Gegen 10 Uhr greift ein Tiefflieger Reichenbach an, erneut werden Menschenopfer gefordert und das Stadtzentrum wird beschädigt. Offensichtlich ist dies der Impuls, der Oberbürgermeister Schreiber veranlasst, sich seinen Befehlen zu widersetzen.
»Während ich zitternd im Keller saß und heulte und von all diesen Dingen Gott sei Dank nichts wusste, fasste er den Entschluss, dem Amerikaner entgegen zu fahren.«
Gemeinsam mit Polizeileutnant Walter Schreiner, Feuerwehrunterführer Hermann Thoß, dem Friesener Bürgermeister Ullmann und dem Dolmetscher Herr Braun fährt Otto Schreiber in Richtung Greiz, um die 87. Infantry Division zu kontaktieren. Mehrere Stunden später ist die Stadtfahne übergeben und damit die kampflose Übergabe Reichenbachs besiegelt.
Als Hertha Schreiber und ihre Töchter den Keller verlassen, finden sie den Hof komplett überschwemmt vor. Ein Artilleriegeschoss ist in den Teich gefallen, der sich direkt neben dem Haus befindet. Von den Vorgängen der letzten Stunden erfährt Christine erst, als ihr Vater aus dem Rathaus zurückkehrt und seiner Familie davon berichtet. Otto Schreiber macht einen niedergeschlagenen Eindruck, hält seine Entscheidung aber für richtig, da ihm durch sein Amt die Verantwortung für den Schutz der Bürger obliegt.
Die Villa wird vom US-Militär beschlagnahmt. Fasziniert beobachten die Mädchen, wie Soldaten in den Bäumen klettern, um Funkleitungen zu legen. Otto Schreiber ist noch bis Mai im Rathaus beschäftigt, erst dann erfolgt seine Beurlaubung aus dem Bürgermeisteramt.
Am 1. Juli 1945 übernimmt die sowjetische Militäradministration SMAD die Kontrolle über das vogtländische Gebiet, da es in der Besatzungszone liegt, die den Sowjets laut Beschluss der Siegermächte nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht zugeteilt wurde.
Bevor die amerikanischen Truppen abziehen, bieten sie Otto Schreiber und seiner Familie an, sich ihnen anzuschließen. Doch Schreiber sieht keine Notwendigkeit und lehnt das Angebot mit der Begründung ab, er habe sich nichts vorzuwerfen. Christines Vater hält an seinem Ehrenwort, seine Stadt und deren Bürger nicht im Stich zu lassen, unerschütterlich fest.
Am 19. Juli 1945 ist Christine zu einem Kindergeburtstag eingeladen. Als sie nach Hause zurückkehrt, ist ihr Vater fort. Otto Schreiber wurde von einem russischen Offizier und einer weiteren Person abgeholt. Wohin man ihn bringt, weiß zu diesem Zeitpunkt niemand.
»Ich hab ihn nie wieder gesehen. Ich war zehn Jahre alt.«
Im Rahmen von Entnazifizierungsmaßnahmen werden in Reichenbach etliche Männer verhaftet, die während der vergangenen NS-Herrschaft hohe Ämter innehatten. Doch auch Christines Onkel, der zum Volkssturm eingezogen wurde, aber kein Mitglied der NSDAP ist, wird gefangen genommen.
Die Beamten der SMAD entziehen Familie Schreiber sämtliches Vermögen und die Wertgegenstände, sogar die Sparbücher der Kinder werden konfisziert. Hertha Schreiber muss nun allein die Versorgung ihrer Töchter sichern und nimmt deshalb eine Arbeitsstelle als Verkaufshilfe an. Als sogenannte Kriegsverbrecherfrau ist sie zudem Repressalien ausgesetzt und wird verpflichtet, Aufbaustunden zu leisten.
Erneut wird auch die Villa beschlagnahmt, doch diesmal müssen alle Mieter das Wohnhaus verlassen. Christine flieht mit ihrer Mutter und der Schwester zu den Großeltern, wo sie zu dritt in einem Zimmer unterkommen. Der folgende Winter ist so kalt, dass man das Eis an den Wänden glitzern sieht. In der Not fällen die Menschen nahezu jeden Baum, um ihn zu verheizen. Gas, Wasser und Strom sind nur rationiert verfügbar, Nahrungsmittel äußerst knapp.
1946 kehrt Christines Onkel aus der Gefangenschaft zurück. Er ist mit Verdacht auf Tuberkulose vorzeitig aus dem sowjetischen Speziallager Nr. 1 Mühlberg entlassen worden, erliegt aber kurze Zeit später seiner Erkrankung. Weil er seinen Schwager im Lager getroffen hat, weiß man nun endlich über dessen Verbleib Bescheid. Otto Schreiber war zunächst im Speziallager Nr. 4 Bautzen interniert und ist dann nach Mühlberg verlegt worden. Sehnsüchtig wartet Christine auf die Rückkehr ihres Vaters.
Doch Otto Schreiber verstirbt am 04. Juni 1946 in Mühlberg und niemand benachrichtigt die Angehörigen über seinen Tod. Hertha Schreiber erhält nie eine Witwenrente, denn dazu müsste sie ihren als vermisst geltenden Mann für tot erklären lassen.
Nicht nur ihr, sondern auch den Kindern wird indessen die NSDAP-Angehörigkeit des ehemaligen Oberbürgermeisters schwer zur Last gelegt. Christines Schwester Inge darf ihren Schulabschluss an der Oberschule nicht absolvieren. Als Christine alt genug ist, die Oberschule zu besuchen, wird ihr dieser Bildungsweg trotz guter Noten verwehrt. Ihr Wunsch, zu studieren, bleibt somit unerfüllt.
»Unser Leben hätte anders verlaufen können. Ja, so hat es sich ganz anders entwickelt, als wir es mal dachten. Aber wir haben es gemeistert.«
Inge Schreiber hilft infolgedessen auch in dem Laden aus, in dem ihre Mutter arbeitet, und heiratet jung. Christine beendet mit der achten Klasse die Volksschule und macht eine Berufsausbildung als Sprechstundenhilfe in einer Zahnarztpraxis. Sie heiratet 1954 und trägt nun den Namen Liszewski. Mit ihrem Mann bekommt sie drei Kinder. Noch vor der Geburt der ersten Tochter 1956 macht Christine gemeinsam mit ihrer Mutter den Facharbeiterbrief als Zahnarzthelferin.
Als sie gerade mit der zweiten Tochter schwanger ist, erscheint 1958 ein Zeitungsartikel zur Stadtübergabe 1945, in welchem der Feuerwehrunterführer Thoß die Anerkennung der Tat für sich allein beansprucht.
»Das verletzte mich sehr, weil diese Darstellung nicht der Wahrheit entspricht. So begann mein jahrelanger Kampf zur Wahrheitsfindung.«
Christine möchte die Tatsachen richtig stellen, die ihr mit dem Stigma »Kriegsverbrechertochter« so manche beabsichtigte Entwicklung verwehrten. Neben dem von ihrem Vater noch im Juli 1945 verfassten Bericht ist sie auch im Besitz der Aussage von Leutnant Schreiner; beide Ausführungen stimmen in wesentlichen Punkten überein. Christine wendet sich an die Presse und an die Volkskammer der DDR, sie spricht mit den späteren Bürgermeistern Reichenbachs, stößt jedoch ausnahmslos auf Ablehnung.
Nach einem einjährigen Aufenthalt in Leipzig zieht die Familie Liszewski 1960 nach Plauen, wo 1962 ihre dritte Tochter auf die Welt kommt. Christine widmet sich der Erziehung ihrer Kinder und nimmt später ihren Beruf als Zahnarzthelferin wieder auf. Nach einer Qualifizierung arbeitet sie mehrere Jahre in der Poliklinik Plauen als Krankenschwester. Da sie den Eintritt in die SED verweigert, erhält sie nicht den Posten der Oberschwester, statt dessen übernimmt sie die Leitung des Bereitschaftsdienstes, eine verantwortungsvolle Position im Schichtsystem.
Nach der Deutschen Wiedervereinigung besucht Christine die auf dem ehemaligen Lagergelände in Mühlberg eingerichtete Gedenkstätte, wo ihr nach mehr als 44 Jahren Ungewissheit der Tod ihres Vaters offiziell bestätigt wird.
Als sich am 17. April 2010 die Stadtübergabe und damit das Ende der Kriegshandlungen für Reichenbach zum 65. Mal jährt, werden die Geschehnisse im Gedenkmarsch »Liberty Convoy« nachgestellt, bei dem der damalige Oberbürgermeister Dieter Kießling die Rolle des Otto Schreiber übernimmt, indem er symbolisch die Stadtfahne an die amerikanische Generalkonsulin übergibt. Anlässlich des Jubiläums werden immer mehr Stimmen der Reichenbacher Bürger laut, die eine stetige Erinnerung an das Ereignis fordern. Nach einer umfangreichen öffentlichen Diskussion zu dem Thema beschließt der Stadtrat, eine Ehrentafel am Rathaus anzubringen. Allerdings wird sich im November 2010 per Abstimmung dazu entschieden, auf der Gedenktafel keine Namen zu nennen, sondern lediglich die »mutigen Reichenbacher« zu würdigen, die sich in Lebensgefahr begaben, um den geplanten Fliegerangriff der US-amerikanischen Armee zu verhindern.
Der Zwiespalt zwischen Otto Schreibers Engagement in den letzten Kriegstagen und seiner NSDAP-Mitgliedschaft sowie Tätigkeit als SA-Obersturmführer sind der Grund für den Entschluss, auf eine namentliche Ehrung zu verzichten. Christine verleugnet nicht, dass ihr Vater Nationalsozialist gewesen ist, sondern spricht ganz offen über dessen Vergangenheit. Sie weist aber darauf hin, dass Otto Schreiber schon seit 1926 Mitglied des Stadtrats war und 1932 zum 2. Bürgermeister Reichenbachs gewählt wurde – also vor der Machtergreifung des NS-Regimes.
»Wenn er 1933 nicht in die Partei gegangen wäre, wäre er 1935 nicht Oberbürgermeister geworden. Mein Mann musste damals auch der SED beitreten, um seine Position als Bereichsleiter auszuüben, ob er nun wollte oder nicht.«
Vergleichbare Schicksale wie das von Otto Schreiber sind mittlerweile aus mehreren sächsischen Städten bekannt, unter anderem Freiberg und Wurzen. Auch hier widersetzten sich die amtierenden Oberbürgermeister dem Verteidigungsbefehl ihrer Vorgesetzten und leiteten die Kapitulation ihrer Stadt friedlich ein. Beide Amtsinhaber wurden in der Folge durch das NKWD verhaftet und verstarben während ihrer Internierung in sowjetischen Speziallagern.
Christine lebt heute auf einem Grundstück in Jößnitz, auf dem ihr Mann das einstige Gartenhäuschen zum Alterssitz umbaute. Nachdem ihr Mann bereits im Alter von 60 Jahren verstarb, musste Christine schließlich allein einziehen. Angrenzend haben ihre Kinder ein Haus gebaut. Mithilfe der Bezirksgruppe Reichenbach der Vereinigung der Opfer des Stalinismus e. V. (VOS) erreichte Christine im Januar 2011 nach 65 Jahren die politische Rehabilitierung ihres Vaters Dr. Otto Schreiber.
»Ich hatte einen guten Vati.«
Der Film: »Das Kriegsende im Vogtland und Westerzgebirge – 17.04. – 08.05.1945« (2012) vom Plauener Regisseur Heintje Peter ist auf DVD in den Geschäftsstellen der »Freien Presse« im Vogtland erhältlich.
»Unser Leben hätte anders verlaufen können.«
Christine Schreiber wird am 26. Juli 1934 als Tochter des späteren Reichenbacher Oberbürgermeisters Dr. Otto Schreiber und dessen Frau Hertha geboren. Gemeinsam mit ihrer fünf Jahre älteren Schwester Inge wächst sie in der Mietwohnung einer Villa in der Bahnhofstraße auf.
Die glücklichen und unbeschwerten Kindheitstage finden ein jähes Ende, als Familie Schreiber 1939 im Urlaub auf der Ostseeinsel Rügen ist, wo Christine zum ersten Mal Kriegsschiffe erblickt. Unbehaglichkeit breitet sich aus, und schließlich, mit dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939, beginnt der Zweite Weltkrieg.
In den ersten Jahren ist Christine von den Kriegsgeschehnissen nicht direkt betroffen. Ihr einziger Bezug zu dem, was an der Front geschieht, liegt im Engagement für das Winterhilfswerk. Da sie wie fast alle Mädchen ihres Alters als Jungmädel in der Hitlerjugend eingegliedert ist, wirkt Christine bei Aufführungen mit, die zur Sammlung von Spenden für die Wehrmachtssoldaten an der Ostfront dienen. Die Kinder wachsen ganz selbstverständlich mit der nationalsozialistischen Ideenlehre auf. Christine stiehlt ihrer großen Schwester sogar einmal die BDM-Jacke, weil sie das Kleidungsstück so fasziniert.
»Wie doch die Ideologie fruchtete! Das war ja nicht das einzige Mal, dass wir Deutschen auf Ideologien hereinfielen und uns lenken ließen.«
Ab Winter 1942 ist es mit den Siegeszügen der Wehrmacht vorbei und es beginnt der sich über mehr als drei Jahre hinziehende, erzwungene Rückzug der deutschen Armee. Kriegshandlungen spielen sich nun größtenteils auf deutschem Boden ab. Bei einem US-amerikanischen Fliegerangriff am 21. März 1945 fallen den Bomben 161 Reichenbacher zum Opfer und die Stadt erfährt zahlreiche Zerstörungen.
Immer wieder gibt es Fliegeralarme. Wenn die Kinder von der Schule nach Hause geschickt werden, rennt Christine eilig durch die Stadt, um sich im Luftschutzkeller zu verstecken. Einmal ist sie nicht schnell genug, kurz vor dem Ziel zieht ein Tiefflieger über sie hinweg. Panisch wirft sich das Mädchen den Hang hinunter und bleibt vor Angst erstarrt im Gebüsch liegen. Sie hat Glück und entkommt dem Angriff unverletzt, doch einige Straßen entfernt stirbt ein Mann im Kugelhagel.
Die zehnjährige Christine hat fürchterliche Angst, wenn sie sich mit ihrer Schwester und der Mutter im Keller vor den Luftangriffen versteckt. Zittert bangt sie um das Überleben der Familie und hat oft große Sorge um ihren Vater, der bei jedem Alarm pflichtbewusst im Rathaus weilt. Und tatsächlich ist der Verlauf der letzten Kriegstage schicksalhaft für die Familie Schreiber.
Aus den überlieferten Aufzeichnungen des Oberbürgermeisters Dr. Otto Schreiber und den Berichten vieler Zeitzeugen kann folgendes Szenario rekonstruiert werden: Am Morgen des 16. April 1945 bezieht eine deutsche Panzerdivision ganz in der Nähe Reichenbachs Stellung und bringt die Stadt damit in die große Gefahr, ins direkte Kampfgeschehen mit der amerikanischen Armee gezogen zu werden.
Otto Schreiber untersteht zu diesem Zeitpunkt den Anweisungen des zuständigen Kampfkommandanten Major Enders und ist zu keiner selbstständigen Handlung befugt. Enders macht sich in der Nacht auf den Weg nach Auerbach, um Informationen zu sammeln, und plant seine Rückkehr für 9 Uhr am nächsten Tag. In den frühen Morgenstunden des 17. April erfährt die untere Stadt Artilleriebeschuss durch amerikavnische Truppen, doch der Kampfkommandant kehrt nicht zur vereinbarten Zeit zurück und ist auch nicht erreichbar.
Otto Schreiber gerät in einen Zwiespalt. Auf der einen Seite drängen ihn zahlreiche Bürger zur kampflosen Übergabe der Stadt, doch gleichzeitig suchen ihn verschiedene Militärangehörige auf, die mit dem Standgericht drohen, sollte er die Kapitulation anstreben. Die äußerste Verteidigung der Städte ist schließlich seit einem Befehl des Führerhauptquartiers Pflicht und auf jegliche Zuwiderhandlung steht die Todesstrafe.
Mehrere Bürger beginnen damit, an ihren Häusern die weiße Fahne zu hissen. Gegen 10 Uhr greift ein Tiefflieger Reichenbach an, erneut werden Menschenopfer gefordert und das Stadtzentrum wird beschädigt. Offensichtlich ist dies der Impuls, der Oberbürgermeister Schreiber veranlasst, sich seinen Befehlen zu widersetzen.
»Während ich zitternd im Keller saß und heulte und von all diesen Dingen Gott sei Dank nichts wusste, fasste er den Entschluss, dem Amerikaner entgegen zu fahren.«
Gemeinsam mit Polizeileutnant Walter Schreiner, Feuerwehrunterführer Hermann Thoß, dem Friesener Bürgermeister Ullmann und dem Dolmetscher Herr Braun fährt Otto Schreiber in Richtung Greiz, um die 87. Infantry Division zu kontaktieren. Mehrere Stunden später ist die Stadtfahne übergeben und damit die kampflose Übergabe Reichenbachs besiegelt.
Als Hertha Schreiber und ihre Töchter den Keller verlassen, finden sie den Hof komplett überschwemmt vor. Ein Artilleriegeschoss ist in den Teich gefallen, der sich direkt neben dem Haus befindet. Von den Vorgängen der letzten Stunden erfährt Christine erst, als ihr Vater aus dem Rathaus zurückkehrt und seiner Familie davon berichtet. Otto Schreiber macht einen niedergeschlagenen Eindruck, hält seine Entscheidung aber für richtig, da ihm durch sein Amt die Verantwortung für den Schutz der Bürger obliegt.
Die Villa wird vom US-Militär beschlagnahmt. Fasziniert beobachten die Mädchen, wie Soldaten in den Bäumen klettern, um Funkleitungen zu legen. Otto Schreiber ist noch bis Mai im Rathaus beschäftigt, erst dann erfolgt seine Beurlaubung aus dem Bürgermeisteramt.
Am 1. Juli 1945 übernimmt die sowjetische Militäradministration SMAD die Kontrolle über das vogtländische Gebiet, da es in der Besatzungszone liegt, die den Sowjets laut Beschluss der Siegermächte nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht zugeteilt wurde.
Bevor die amerikanischen Truppen abziehen, bieten sie Otto Schreiber und seiner Familie an, sich ihnen anzuschließen. Doch Schreiber sieht keine Notwendigkeit und lehnt das Angebot mit der Begründung ab, er habe sich nichts vorzuwerfen. Christines Vater hält an seinem Ehrenwort, seine Stadt und deren Bürger nicht im Stich zu lassen, unerschütterlich fest.
Am 19. Juli 1945 ist Christine zu einem Kindergeburtstag eingeladen. Als sie nach Hause zurückkehrt, ist ihr Vater fort. Otto Schreiber wurde von einem russischen Offizier und einer weiteren Person abgeholt. Wohin man ihn bringt, weiß zu diesem Zeitpunkt niemand.
»Ich hab ihn nie wieder gesehen. Ich war zehn Jahre alt.«
Im Rahmen von Entnazifizierungsmaßnahmen werden in Reichenbach etliche Männer verhaftet, die während der vergangenen NS-Herrschaft hohe Ämter innehatten. Doch auch Christines Onkel, der zum Volkssturm eingezogen wurde, aber kein Mitglied der NSDAP ist, wird gefangen genommen.
Die Beamten der SMAD entziehen Familie Schreiber sämtliches Vermögen und die Wertgegenstände, sogar die Sparbücher der Kinder werden konfisziert. Hertha Schreiber muss nun allein die Versorgung ihrer Töchter sichern und nimmt deshalb eine Arbeitsstelle als Verkaufshilfe an. Als sogenannte Kriegsverbrecherfrau ist sie zudem Repressalien ausgesetzt und wird verpflichtet, Aufbaustunden zu leisten.
Erneut wird auch die Villa beschlagnahmt, doch diesmal müssen alle Mieter das Wohnhaus verlassen. Christine flieht mit ihrer Mutter und der Schwester zu den Großeltern, wo sie zu dritt in einem Zimmer unterkommen. Der folgende Winter ist so kalt, dass man das Eis an den Wänden glitzern sieht. In der Not fällen die Menschen nahezu jeden Baum, um ihn zu verheizen. Gas, Wasser und Strom sind nur rationiert verfügbar, Nahrungsmittel äußerst knapp.
1946 kehrt Christines Onkel aus der Gefangenschaft zurück. Er ist mit Verdacht auf Tuberkulose vorzeitig aus dem sowjetischen Speziallager Nr. 1 Mühlberg entlassen worden, erliegt aber kurze Zeit später seiner Erkrankung. Weil er seinen Schwager im Lager getroffen hat, weiß man nun endlich über dessen Verbleib Bescheid. Otto Schreiber war zunächst im Speziallager Nr. 4 Bautzen interniert und ist dann nach Mühlberg verlegt worden. Sehnsüchtig wartet Christine auf die Rückkehr ihres Vaters.
Doch Otto Schreiber verstirbt am 04. Juni 1946 in Mühlberg und niemand benachrichtigt die Angehörigen über seinen Tod. Hertha Schreiber erhält nie eine Witwenrente, denn dazu müsste sie ihren als vermisst geltenden Mann für tot erklären lassen.
Nicht nur ihr, sondern auch den Kindern wird indessen die NSDAP-Angehörigkeit des ehemaligen Oberbürgermeisters schwer zur Last gelegt. Christines Schwester Inge darf ihren Schulabschluss an der Oberschule nicht absolvieren. Als Christine alt genug ist, die Oberschule zu besuchen, wird ihr dieser Bildungsweg trotz guter Noten verwehrt. Ihr Wunsch, zu studieren, bleibt somit unerfüllt.
»Unser Leben hätte anders verlaufen können. Ja, so hat es sich ganz anders entwickelt, als wir es mal dachten. Aber wir haben es gemeistert.«
Inge Schreiber hilft infolgedessen auch in dem Laden aus, in dem ihre Mutter arbeitet, und heiratet jung. Christine beendet mit der achten Klasse die Volksschule und macht eine Berufsausbildung als Sprechstundenhilfe in einer Zahnarztpraxis. Sie heiratet 1954 und trägt nun den Namen Liszewski. Mit ihrem Mann bekommt sie drei Kinder. Noch vor der Geburt der ersten Tochter 1956 macht Christine gemeinsam mit ihrer Mutter den Facharbeiterbrief als Zahnarzthelferin.
Als sie gerade mit der zweiten Tochter schwanger ist, erscheint 1958 ein Zeitungsartikel zur Stadtübergabe 1945, in welchem der Feuerwehrunterführer Thoß die Anerkennung der Tat für sich allein beansprucht.
»Das verletzte mich sehr, weil diese Darstellung nicht der Wahrheit entspricht. So begann mein jahrelanger Kampf zur Wahrheitsfindung.«
Christine möchte die Tatsachen richtig stellen, die ihr mit dem Stigma »Kriegsverbrechertochter« so manche beabsichtigte Entwicklung verwehrten. Neben dem von ihrem Vater noch im Juli 1945 verfassten Bericht ist sie auch im Besitz der Aussage von Leutnant Schreiner; beide Ausführungen stimmen in wesentlichen Punkten überein. Christine wendet sich an die Presse und an die Volkskammer der DDR, sie spricht mit den späteren Bürgermeistern Reichenbachs, stößt jedoch ausnahmslos auf Ablehnung.
Nach einem einjährigen Aufenthalt in Leipzig zieht die Familie Liszewski 1960 nach Plauen, wo 1962 ihre dritte Tochter auf die Welt kommt. Christine widmet sich der Erziehung ihrer Kinder und nimmt später ihren Beruf als Zahnarzthelferin wieder auf. Nach einer Qualifizierung arbeitet sie mehrere Jahre in der Poliklinik Plauen als Krankenschwester. Da sie den Eintritt in die SED verweigert, erhält sie nicht den Posten der Oberschwester, statt dessen übernimmt sie die Leitung des Bereitschaftsdienstes, eine verantwortungsvolle Position im Schichtsystem.
Nach der Deutschen Wiedervereinigung besucht Christine die auf dem ehemaligen Lagergelände in Mühlberg eingerichtete Gedenkstätte, wo ihr nach mehr als 44 Jahren Ungewissheit der Tod ihres Vaters offiziell bestätigt wird.
Als sich am 17. April 2010 die Stadtübergabe und damit das Ende der Kriegshandlungen für Reichenbach zum 65. Mal jährt, werden die Geschehnisse im Gedenkmarsch »Liberty Convoy« nachgestellt, bei dem der damalige Oberbürgermeister Dieter Kießling die Rolle des Otto Schreiber übernimmt, indem er symbolisch die Stadtfahne an die amerikanische Generalkonsulin übergibt. Anlässlich des Jubiläums werden immer mehr Stimmen der Reichenbacher Bürger laut, die eine stetige Erinnerung an das Ereignis fordern. Nach einer umfangreichen öffentlichen Diskussion zu dem Thema beschließt der Stadtrat, eine Ehrentafel am Rathaus anzubringen. Allerdings wird sich im November 2010 per Abstimmung dazu entschieden, auf der Gedenktafel keine Namen zu nennen, sondern lediglich die »mutigen Reichenbacher« zu würdigen, die sich in Lebensgefahr begaben, um den geplanten Fliegerangriff der US-amerikanischen Armee zu verhindern.
Der Zwiespalt zwischen Otto Schreibers Engagement in den letzten Kriegstagen und seiner NSDAP-Mitgliedschaft sowie Tätigkeit als SA-Obersturmführer sind der Grund für den Entschluss, auf eine namentliche Ehrung zu verzichten. Christine verleugnet nicht, dass ihr Vater Nationalsozialist gewesen ist, sondern spricht ganz offen über dessen Vergangenheit. Sie weist aber darauf hin, dass Otto Schreiber schon seit 1926 Mitglied des Stadtrats war und 1932 zum 2. Bürgermeister Reichenbachs gewählt wurde – also vor der Machtergreifung des NS-Regimes.
»Wenn er 1933 nicht in die Partei gegangen wäre, wäre er 1935 nicht Oberbürgermeister geworden. Mein Mann musste damals auch der SED beitreten, um seine Position als Bereichsleiter auszuüben, ob er nun wollte oder nicht.«
Vergleichbare Schicksale wie das von Otto Schreiber sind mittlerweile aus mehreren sächsischen Städten bekannt, unter anderem Freiberg und Wurzen. Auch hier widersetzten sich die amtierenden Oberbürgermeister dem Verteidigungsbefehl ihrer Vorgesetzten und leiteten die Kapitulation ihrer Stadt friedlich ein. Beide Amtsinhaber wurden in der Folge durch das NKWD verhaftet und verstarben während ihrer Internierung in sowjetischen Speziallagern.
Christine lebt heute auf einem Grundstück in Jößnitz, auf dem ihr Mann das einstige Gartenhäuschen zum Alterssitz umbaute. Nachdem ihr Mann bereits im Alter von 60 Jahren verstarb, musste Christine schließlich allein einziehen. Angrenzend haben ihre Kinder ein Haus gebaut. Mithilfe der Bezirksgruppe Reichenbach der Vereinigung der Opfer des Stalinismus e. V. (VOS) erreichte Christine im Januar 2011 nach 65 Jahren die politische Rehabilitierung ihres Vaters Dr. Otto Schreiber.
»Ich hatte einen guten Vati.«
Der Film: »Das Kriegsende im Vogtland und Westerzgebirge – 17.04. – 08.05.1945« (2012) vom Plauener Regisseur Heintje Peter ist auf DVD in den Geschäftsstellen der »Freien Presse« im Vogtland erhältlich.