Elfriede Schulze

Elfriede Schulze

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»Ich hatte immer diese Angst in mir, die ich nicht erklären konnte.«

Mindestens 104 Kinder kommen zwischen 1945 und 1950 in sowjetischen Speziallagern zur Welt. Wahrlich kann nicht die Rede davon sein, dass sie hier das Licht der Welt erblicken – vielmehr werden sie hineingeboren in die Unfreiheit, in dunkle, kalte, schmutzige Baracken hinter etlichen Reihen von Stacheldraht. Elfriede Schulze ist eins dieser Kinder. Um ihren Lebensweg nachzuvollziehen, muss mit der Lebensgeschichte ihrer Mutter Irmgard begonnen werden.

Irmgard Zimmer wird am 30. Dezember 1920 in Jüterbog geboren. Sie hat einen älteren Bruder und eine nur wenig ältere Schwester, zu der sie ein besonders inniges Verhältnis pflegt. Nach dem frühen Tod ihrer Mutter heiratet der Vater erneut und zeugt zwei weitere Kinder. Irmgard und ihre Schwester Elfriede können jedoch keine gute Beziehung zu der Stiefmutter aufbauen.

Schon zeitig verlassen sie das Elternhaus und gehen gemeinsam nach Berlin, wo die Mädchen ihr sogenanntes Pflichtjahr absolvieren. Der im Frühjahr 1938 vom nationalsozialistischen Regime eingeführte Dienst ist für alle Frauen unter 25 Jahren verpflichtend. In der Land- und Hauswirtschaft sowie in Pflegeberufen werden die jungen Frauen auf ihre zukünftige Rolle als Hausfrau und Mutter vorbereitet. Gleichzeitig sollen sie Haushalte entlasten, denen die Arbeitskraft der Männer fehlt, die als Soldaten im Krieg eingesetzt sind.

Irmgard ist bei der Berliner Rechtsanwaltsfamilie Manske als Hausangestellte und bleibt auch nach ihrem Pflichtjahr bei der Familie. Trotz der schweren Kriegsjahre verlebt Irmgard hier eine glückliche Zeit, denn sie versteht sich gut mit ihren Arbeitgebern und wird als »Tante Irmchen« von den drei Kindern der Familie genauso gemocht, wie sie ihrerseits die Kinder liebt. Irmgard lernt in Berlin einen Mann kennen und feiert mit ihm Verlobung. Doch die Liebe des Mannes ist nicht von Dauer, was Irmgard sehr enttäuscht.

Mit dem Fortschreiten der Kriegsgeschehnisse verlässt Familie Manske Berlin und flieht 1941/42 gemeinsam mit Irmgard zu Verwandten, die in Neudamm (Dębno) leben. Die Stadt im polnischen Verwaltungsbezirk Westpommern liegt 17 Kilometer nordöstlich von Küstrin (Kostrzyn nad Odrą). Anfang Februar 1945 marschiert die Rote Armee in das Gebiet ein und besetzt Neudamm.

Nach Aussage von Charlotte Manske müssen Irmgard und weitere Deutsche nun für die Besatzer arbeiten. Von einem dieser Arbeitseinsätze kehrt die 24-Jährige nicht mehr zurück. Gerüchte besagen, die deutschen Arbeiter seien in die Sowjetunion abtransportiert worden. Familie Manske wartet vergeblich auf ein Lebenszeichen von Irmgard. Im Sommer 1945 wird Neudamm dann gemäß dem Potsdamer Abkommen der Verwaltung der Volksrepublik Polen unterstellt, in Dębno umbenannt und polnisch besiedelt. Die deutschen Einwohner vertreibt man.

Irmgard wird ihrer Tochter Elfriede später erzählen, sie sei im Februar 1945 unterwegs gewesen, um für die Kinder Milch zu holen, und dabei von den Russen aufgegriffen worden. Tatsächlich werden ab Ende Januar 1945 über 200.000 »mobilisierte Deutsche« aus den deutschen Ostgebieten durch sowjetische Truppen festgenommen und zum Arbeitsdienst in die Sowjetunion gebracht.

Bei der Zwangsdeportation ostdeutscher Zivilpersonen handelt es sich um eine systematisch betriebene Aktion, die von der obersten sowjetischen Führung geplant und in allen sowjetischen Armeebereichen jenseits von Oder und Neiße in gleicher Weise gehandhabt wird. Man will die Männer und Frauen zum Wiederaufbau der Wirtschaft einsetzen. Sie sind gewissermaßen vorgezogene Reparationsleistungen Deutschlands, das im Begriff ist, den 1939 angezettelten Zweiten Weltkrieg zu verlieren. Während ihrer Verschleppung müssen die Zivilisten tagelange Fußmärsche überstehen und durchlaufen zahlreiche Durchgangs- und Sammellager.

»Unterwegs bekam meine Mutter Typhus und Scharlach. Die Haare fielen ihr aus und das Augenlicht war fast weg. Da ließen die Russen sie halbtot am Straßenrand liegen.«

Irmgard berichtete Elfriede oft davon, wie dann abends eine Streife vorbeigekommen sei. Ein Soldat habe das Gewehr auf sie gerichtet – bereit, sie zu erschießen – der zweite aber sagte »Frau kaputt, keine Kugel«.

Irmgard entgeht der Zwangsarbeit in den sibirischen Straflagern des GULAG. Wie sie jedoch in das System der sowjetischen Speziallager gerät, ist nicht mehr zweifelsfrei nachzuvollziehen. Bis auf Einzelfälle gelangen die »Mobilisierten« nach Kriegsende nicht in die Speziallager der sowjetischen Besatzungszone.

Es ist jedoch anzunehmen, dass Irmgard eine dieser Ausnahmen ist. Möglicherweise wird sie von einem später vorbeiziehenden Gefangenentransport vom Straßenrand aufgesammelt und mitgenommen. Vor ihrer dokumentierten Internierung im »Spezialkontingent« des Lagers Mühlberg muss es jedenfalls eine Zwischenstation gegeben haben, denn das sowjetische Speziallager Nr. 1 Mühlberg wird erst ein halbes Jahr später, am 13. September 1945, vom NKWD in Betrieb genommen.

Naheliegend ist, dass Irmgard nach Schwiebus (heute: Świebodzin) gebracht wird. Die Stadt liegt nur etwa 100 Kilometer von Neudamm entfernt und beherbergt ein Hauptsammellager für die wöchentlich abgehenden Transporte in die Sowjetunion. Das Durchgangslager Schwiebus wird Ende Mai 1945 aufgelöst, die meisten Gefangenen entlassen oder nach Posen (Poznań) verlegt, wo sich das NKWD-Speziallager Nr. 2 der 1. Weißrussischen Front als Durchgangslager für Gefangene und Mobilisierte befindet.

84 ansteckend kranke Gefangene müssen bis Ende August 1945 in Schwiebus bleiben, zum Teil unbewacht und eine Zeitlang ohne Versorgung mit Lebensmitteln. Ende Juni 1945 wird das Speziallager Nr. 1 der 1. Weißrussischen Front von Rembertów, einem Stadtteil Warschaus, kurzzeitig nach Schwiebus verlegt. Anschließend kommt es im September 1945 auf das Areal des ehemaligen Kriegsgefangenenlagers der Wehrmacht »Stalag IV B« bei Mühlberg/Elbe, wo es bis Oktober 1948 als sowjetisches Speziallager Nr. 1 des NKWD der UdSSR betrieben wird.

Die Verlegung von Schwiebus nach Mühlberg umfasst in erster Linie NKWD-Offiziere und -Mannschaften. Zudem kommen aus dem Schwiebuser Lager 84 Gefangene: zur Arbeit mobilisierte Deutsche, die für die sowjetischen Truppen tätig sein müssen, sowie kranke Zivilinternierten, die hier allesamt ohne Schuldnachweis, Verhandlung oder Urteil gefangen gehalten werden. Zeitzeugenberichte belegen einen zweiwöchigen Eisenbahntransport, der irgendwann zwischen Mitte September und Anfang Oktober 1945 den Bahnhof Neuburxdorf bei Mühlberg erreicht. Es ist davon auszugehen, dass sich die schwerkranke Irmgard unter den Neuankömmlingen befindet.

Vermutlich auf ähnliche Art und Weise erreicht Elfriedes Vater Eduard das Speziallager Mühlberg.

Eduard Petzold wird am 14. Juli 1916 in Petrikau (Piotrków Trybunalski) geboren. Seine Eltern betreiben eine große Bäckerei in Polen, die später das Reserve-Lazarett Petrikau 1944 beliefern wird. Eduard geht 1933 bei einem Schuhmachermeister in die Lehre und arbeitet dort bis 1941 als Geselle. Im August 1942 legt er selbst erfolgreich die Meisterprüfung im Schuhmacherhandwerk ab und betreibt anschließend eine eigene Werkstatt im schlesischen Częstochowa. Eduard heiratet und gründet eine Familie mit vier Kindern.

Zwei Tage nach Beginn des Überfalls auf Polen, am 3. September 1939, marschieren die Truppen der Wehrmacht ein. Częstochowa wird in Tschenstochau umbenannt und in das Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete eingegliedert. Im Zuge ihrer Weichsel-Oder-Operation erobert dann am 16. Januar 1945 die Rote Armee Tschenstochau.

Auch Eduard wird nun wahrscheinlich durch die sowjetischen Truppen »mobilisiert«. Wie alle in den Ostgebieten des Deutschen Reiches lebenden Deutschen erhält er kurz nach der Besetzung den Befehl, sich auf der sowjetischen Kommandantur zu melden. Nicht zwangsläufig erfolgt eine Deportation, die Deutschen werden gleichermaßen zur Arbeit vor Ort für die jeweils zuständigen Truppenteile der Roten Armee verpflichtet. In seinem 1958 verfassten Lebenslauf schreibt Eduard: »Ich arbeitete für die sowjetischen Soldaten als Schuhmacher bis 1947, erst in Tschenstochau, dann wurde die Einheit nach Warschau, Posen und zuletzt nach Deutschland versetzt. 1947 wurde ich entlassen.«

Möglicherweise nimmt Eduard also den Weg von Tschenstochau über Rembertów/Warschau, Schwiebus und Posen, bis er ins Speziallager Mühlberg kommt. Geht man davon aus, dass er stets als Schuhmacher für die sowjetischen Truppen eingesetzt ist, so gehört er vielleicht gar nicht zum »Spezialkontingent«. Nichtsdestotrotz ist der 29-Jährige ebenso wie Irmgard für mehrere Jahre Gefangener des NKWD/MWD im sowjetischen Speziallager Nr. 1 Mühlberg. Der Zufall will es, dass sich die beiden hier kennenlernen.

Porträtfoto Eduard Petzold

Porträtfoto von Eduard Petzold, vermutlich 1946.

Zwischen den Bereichen, in denen die Männer untergebracht sind, und dem Frauenlager, besteht in allen sowjetischen Speziallagern eine strikte Trennung. Durch Arbeitsstellen kann es dennoch zu Begegnungen zwischen den Geschlechtern kommen.

Irmgard ist im Lager Mühlberg in der Küche des Außenlagers beschäftigt, wo die Verpflegung der sowjetischen Lagerverwaltung zubereitet wird. Die Küchenhelfer rekrutieren sich aus den allerersten Gefangenentransporten.

Eduard muss ebenfalls hier einen Posten ausgeübt oder zumindest regelmäßigen Zugang gehabt haben. Weil er Polnisch spricht und sich mit den sowjetischen Wachposten gut versteht, gelingt es ihm, Essen zu organisieren und Irmgard zuzustecken. Die 25-jährige erholt sich langsam von ihrer schweren Scharlach- und den Typhuserkrankung.

»Das war dann wahrscheinlich mit ein Grund, mich zu zeugen. So überlebte sie. Die Extraportion teilte sie redlich mit den Frauen ihrer Gruppe.«

Über die Art und Dauer der Beziehung, die Irmgard und Eduard miteinander pflegen, ist nichts bekannt. Sicher ist nur, dass das Verhältnis zu einer Schwangerschaft führt. Was nach Irmgards langer, schwerer Krankheit und in einem so lebensfeindlichen Umfeld sowieso schon bemerkenswert ist, stellt in der Konsequenz eine schier unmögliche Herausforderung dar.

Eine Schwangerschaft ist in den Speziallagern kein Grund zur mildernden Behandlung, Strafreduzierung oder gar Entlassung, und Frauen werden sogar bei fortgeschrittener Schwangerschaft noch in die Lager eingewiesen.

Die Kinder, die in Gefangenschaft gezeugt werden, entstehen nicht ausschließlich durch freiwillige Kontakte unter Häftlingen. Es sind auch Fälle dokumentiert, in denen das sowjetische Personal Frauen mit falschen Versprechungen auf frühzeitige Entlassung lockt oder »Liebesdienste“ mit Nahrungsmitteln bezahlt. Gleichermaßen berichten ehemalige Gefangene davon, von Wachposten mit Alkohol gefügig gemacht worden zu sein. Ob es in den Speziallagern auch Vergewaltigungen gegeben hat, ist nicht eindeutig geklärt, aber anzunehmen.«

Sexuelle Verhältnisse sind offiziell verboten und werden bei Bekanntwerden streng bestraft. Unbekannt ist, ob die Beziehung zwischen Irmgard und Eduard dem sowjetischen Lagerregime verborgen blieb oder stillschweigend toleriert wurde.

Als bei einer medizinischen Untersuchung festgestellt wird, dass die junge Frau in anderen Umständen ist, ziehen die russischen Lagerärzte eine Abtreibung in Betracht. Doch der heimliche Austausch von Kassibern soll ausschlaggebend für Irmgards festen Entschluss werden, ihr Kind auszutragen. Zwei frühzeitig entlassenen Frauen gibt sie bei deren Abreise in kleines Stück Pergamentpapier mit, das eine Nachricht über ihren Verbleib enthält. Die Frauen suchen Irmgards Elternhaus in Jüterbog auf und überbringen die Botschaft. Es ist das erste Lebenszeichen, das ihre Stiefmutter und Halbschwestern seit Irmgards spurlosem Verschwinden im Februar 1945 erhalten.

»Meine Tante sagte, diesen Zettel hoben sie leider nicht auf, weil sie Angst hatten, dass man ihn fand. Das war ja alles kreuzgefährlich, die überwachten doch alles.«

Irgendwie gelingt es den Frauen sogar, ein Antwortschreiben zurück ins Speziallager Mühlberg zu schmuggeln, das Irmgard erreicht. Doch die überbrachten Nachrichten sind keine guten und erschüttern die Schwangere zutiefst. Im hereingeschmuggelten Kassiber steht, Irmgards Vater sei von einem Russen erstochen worden und ihre Schwester Friedel sowie deren Sohn in Berlin verstorben. Irmgard beschließt daraufhin: »Ich habe meine Schwester nicht mehr, ich habe meinen Vater nicht mehr, aber mein Kind will ich behalten!«

Obwohl Abtreibungen in den sowjetischen Speziallagern verboten sind, gibt es Belege für Fälle, in denen diese durchgeführt werden. Irmgard lehnt einen Abort vehement ab. Stattdessen beginnt sie, sich so aktiv wie möglich zu halten und ihren Körper mit täglicher Gymnastik zu stärken.

»Für sie gab es keine Entscheidung. Sie wollte mich. Das war ihre einzige Hoffnung, überhaupt zu überleben, sagte sie mir oft. Sonst hätte sie keinen Lebensmut mehr gehabt.«

Angeblich nichtsahnend von seiner bevorstehenden Vaterschaft wird Eduard am 20. Oktober 1947 aus dem sowjetischen Speziallager Nr. 1 Mühlberg entlassen. Diese zeitige Rückkehr in die Freiheit könnte ein Indiz dafür sein, dass er nicht dem Spezialkontingent zugehörig war.

Außerdem ist sein Entlassungsschein vom Kommandeur des Truppenteils der Sowjetarmee, Feldpost Nr. 24570, des Verteidigungsministeriums der UdSSR unterzeichnet. Laut diesem Dokument kehrt Eduard zu seinem ständigen Wohnsitz in Erfurt zurück. Den Angaben seines Lebenslaufes zufolge arbeitet er ab dem 4. November 1947 als Schuhmacher in einer Werkstatt in Weißenfels.

Entlassungsbescheinigung Eduard Petzold

Entlassungsbescheinigung

Im August 1945 kommt im Speziallager Ketschendorf das erste Lagerkind zur Welt. Die Mehrzahl der Kinder wird allerdings zwischen 1946 und 1948 geboren.

Ihre Mütter kommen unter den unterschiedlichsten Bedingungen nieder: In einigen Lagern können die Frauen ihre Babys im Krankenrevier zur Welt bringen und werden durch inhaftierte Ärzte oder Hebammen betreut. Andere müssen auf einer gewöhnlichen Pritsche gebären, lediglich unterstützt von ihren Kameradinnen. Bedingt durch den schlechten körperlichen Zustand der Frauen kommt es immer wieder zu Früh- und Totgeburten. Gelingt die Geburt, so sind die Überlebenschancen der Neugeborenen gering.

Im Speziallager Mühlberg werden mindestens drei Kinder geboren. Im März und November 1947 kommen ein Mädchen und ein Junge zur Welt. Irmgards Tochter, Elfriede Zimmer, wird am 2. Dezember 1947 geboren. Trotz ihrer Versuche, sich auf die außerordentliche körperliche Herausforderung vorzubereiten, ist Irmgards Leben bedroht, denn Elfriede ist eine schwierige Steißgeburt. Glücklicherweise steht Irmgard der Gynäkologe und ehemalige SS-Obersturmbannführer Dr. Heinrich Eufinger als Lagerarzt zur Seite.

»Als ich geboren war, traf die Insassin Ursula Rebhahn auf Professor Eufinger. Er strahlte und sagte: ›Es ist ein Kind geboren, das ist doch viel schöner als das Sterben hier.‹«

Der Umgang der jeweiligen Lagerkommandanten mit den Neugeborenen variiert stark. Während in Mühlberg und Jamlitz durch die sowjetischen Offiziere Windeln, Seife und Essen zur Verfügung gestellt werden, gibt es in Buchenwald Sonderrationen und eine Kinderbaracke mit zeitweise fließend warmem Wasser.

Dagegen zählen in Torgau oder Bautzen Kinder für die Lagerführung überhaupt nicht und die Mütter müssen ihre ohnehin erbärmlichen Verpflegungsrationen mit dem Kind teilen.

Irmgard bereut ihre Entscheidung für Elfriede nicht ein einziges Mal. So schwer die Geburt für sie gewesen ist, umso mehr wird sie von der Gegenwart ihrer Tochter belohnt, die sich als unkompliziertes Baby erweist.

»Vom ersten Tag an war ich ihr Sonnenschein.«

Der Alltag mit Babys und Kleinkindern ist für die Mütter problematisch. Nichts im Lager erfüllt die grundlegendsten Bedürfnisse des erwachsenen Menschen an Ernährung, Hygiene oder Wärme – und so sind die Umstände schon gar nicht auf die speziellen Bedürfnisse von Kindern ausgelegt. Sie liegen auf denselben hölzernen Pritschen wie jeder Inhaftierte und müssen ebenso bei jedem Wetter täglich über Stunden Appellstehen.

Bei der Versorgung ihrer Kinder behelfen sich die Mütter mit Tauschgeschäften und durch geschickte Handarbeiten. Elfriede nimmt ihre erste Beikost mit einem eigens für sie angefertigten Aluminiumlöffel, der einen verlängerten Stiel aufweist, zu sich. Vermutlich fertigt Irmgard im Gegenzug eine Näharbeit an oder spart sich Brot vom Mund ab, um den Löffel zu erwerben.

Aluminiumlöffel, Fingerhut aus Patronenhülse, handgeschnitzte Mühlenfigur.

Aluminiumlöffel, Fingerhut aus Patronenhülse, handgeschnitzte Mühlenfigur.

Kinderkleidung nähen die Frauen aus den Textilien von Verstorbenen oder stricken Sachen aus den aufgetrennten Fäden von alten Zuckersäcken. Die inhaftierten Frauen unterstützen sich gegenseitig, so gut es geht, und teilen alles, was sie besitzen oder auftreiben können. Elfriedes »Tanten« im Lager nähen ihr Kleidchen aus Taschentüchern. Das Frauenlager ist wie eine Familie, Zusammenhalt überlebensnotwendig.

»Denn sie wussten ja nicht, wann sie rauskommen, ob sie überleben. Wenn man diese lange Liste von Toten sieht, kann man doch nur staunen, dass sie das schafften.«

Ab Mitte Juli 1948 werden täglich 100 bis 200 Gefangene entlassen, denn das sowjetische Speziallager Nr. 1 Mühlberg befindet sich in der Phase seiner Auflösung. Irmgard und Elfriede dürfen am 18. Juli 1948 den Weg in die Freiheit antreten.

Für die zwei anderen, ebenfalls in Mühlberg geborenen Kinder und ihre Mütter findet das Leiden noch kein Ende. Sie werden gemeinsam mit über 3.600 Gefangenen ins Speziallager Buchenwald weitergereicht, aus dem man sie erst 1950 endgültig entlässt.

Mit der Bürde eines strikten Redeverbots über ihre Zeit der Gefangenschaft und einer Entlassungsbescheinigung aus einem namenlosen Internierungslager – die Elfriede mit keiner Silbe erwähnt – reisen Mutter und Kind in Irmgards Heimatstadt Jüterbog. Dort leben sie zunächst im Haushalt von Irmgards Stiefmutter. Irmgards Halbschwester kümmert sich liebevoll mit um ihre sieben Monate alte Nichte.

Nahezu alle der in den Speziallagern geborenen Kinder leiden unter gesundheitlichen Folgeerscheinungen durch die pränatale und frühkindliche Mangelversorgung, die sie besonders anfällig für Krankheiten macht.

Was man den Kindern nicht ansieht, sind die traumatischen Folgen des Lagerlebens. Je länger sie hinter Stacheldraht zubringen mussten, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit der Entwicklung von Ängsten vor der ihnen unbekannten Welt außerhalb des Lagergeländes.

Auch bei den Erwachsenen hinterlassen die gemachten Erfahrungen tiefe Narben. Darüber hinaus erleben die ehemaligen Häftlinge nach der Freilassung nicht selten Stigmatisierung, gesellschaftliche und berufliche Benachteiligung und die pauschale Unterstellung einer Schuld an ihrem Schicksal. Irmgard wird damit konfrontiert, dass ihr die Menschen in ihrer Umgebung immer wieder vermitteln, sich sicher zu sein, es müsse einen triftigen Grund für ihre Inhaftierung gegeben haben.

»Es war immer ein Makel: Die war weg und da muss sie ja irgendwas gemacht haben. Aber meine Mutter war total unschuldig.«

Behördengänge und Anmeldungen sind Herausforderungen, denen sich die Heimgekehrten oft lieber entziehen möchten, und die dennoch Pflicht für den Neubeginn sind. Der christliche Glaube ist für Irmgard stets ein wichtiger Zufluchtsort. Doch als sie nach ihrer Rückkehr zum ersten Mal wieder eine Kirche betritt und man ihr das Kirchengeld über die Jahre ihrer Gefangenschaft rückwirkend abfordern will, tritt sie aus der Kirche aus.

Im August 1948 wird die Existenz der bereits acht Monate alten Elfriede erstmals mit einer Geburtsurkunde amtlich beglaubigt. In der Regel sind Kinder in der Buchführung der Speziallager des NKWD/MWD nämlich nicht verzeichnet, nur selten gibt es die Erwähnung einer Geburt auf der Karteikarte der Mutter.

Irmgards Stiefmutter besteht darauf, die Vaterschaftsfeststellung über den Behördenweg zu gehen, um den Kindsvater zu Unterhaltszahlungen zu verpflichten. Die Anerkennung der Vaterschaft durch Eduard Petzold erfolgt ohne weiteren persönlichen Kontakt mit Irmgard auf postalischem Wege.

Elfriede Schulze Geburtsurkunde

Elfriedes Geburtsurkunde

1949 wird Irmgard mit dem geschiedenen Johann Szalek verkuppelt und heiratet. Johann, Irmgard und Elfriede ziehen nach Gräfendorf – in ein Haus direkt neben Johanns erste Frau. Sie bekommen dessen älteren Sohn zugesprochen, während Johanns Tochter in der Familie der Ex-Frau verbleibt. Die Situation ist für Irmgard nicht einfach. Elfriede erinnert sich, dass stets der gepackte Koffer unter dem Bett ihrer Mutter steht.

Für Elfriede allerdings beginnt mit dem Umzug nach Gräfendorf eine schöne Kindheit. Das Mädchen ist stolz auf ihren großen Stiefbruder. Als Irmgard 1954 ein zweites Kind zur Welt bringt, komplettiert der kleine Bruder Elfriedes neue Familie. Elfriede weiß nicht, dass Johann Szalek nicht ihr leiblicher Vater ist. Der Stiefvater nimmt sie wie sein eigenes Kind an und die beiden pflegen ein inniges Verhältnis.

Sowohl durch die Geborgenheit, die sie in ihrer Familie erfährt, als auch aus Unkenntnis, entwickelt Elfriede zunächst eine Unbefangenheit über die Umstände ihrer Geburt. Als sie zur Schule kommt und nach ihrem Geburtsort befragt wird, antwortet sie »im Internierungslager« – denn genau so steht es in ihrer Geburtsurkunde. Doch die Antwort stößt auf große Empörung bei der Lehrerschaft.

Elfriede versteht die Problematik damals nicht, sie hat keine Vorstellung davon, was ein Internierungslager ist. Doch sie beschränkt sich in Zukunft darauf, die Stadt Mühlberg als Geburtsort anzugeben. Nachfragen bei ihrer Mutter führen nicht weit.

»Sie durften ja auch nicht reden, das war schon schwierig für die Frauen.«

Die sowjetische Haftpraxis wird in der DDR tabuisiert, die Existenz der Speziallager verleugnet. Das Lager Mühlberg ist zu diesem Zeitpunkt längst geräumt und seine Baracken und Gebäude sind demontiert oder abgerissen.

Eigentlich ist das Gelände anschließend für die landwirtschaftliche Nutzung vorgesehen, doch bei Feldarbeiten werden immer wieder menschliche Knochen gefunden. So entschließt sich das SED-Regime, einen Schleier des Vergessens über die Massengräber zu legen, und lässt das Areal aufforsten. Heimlich von Angehörigen am Gelände niedergelegte Blumensträuße und Kränze werden von den DDR-Behörden umgehend beseitigt.

Die stetige Vorsicht und Geheimhaltung üben auf die ehemaligen Häftlinge einen ständigen Druck aus. Durch die Öffnung der Stasi-Unterlagen ist heute bekannt, dass die aus den Speziallagern Heimgekehrten bei ihrer Anmeldung auf den Behörden ihrer Heimatgemeinden besonders registriert werden. Zunächst überwacht vom »K5« wird ihre besondere Beobachtung später von Mitarbeitern des MfS fortgeführt.

Bei einem Besuch der Verwandtschaft in der Bundesrepublik bietet Irmgards Bruder ihr an, mit Elfriede und dem Sohn zu bleiben. Doch Irmgard schlägt das Angebot aus, sie will ihre neue Familie nicht im Stich lassen.

»Obwohl das eine sehr kritische Ehe war, wie es so ist, wenn man zusammengeschrieben wird. Aber das hätte sie ihm nicht angetan.«

1957 zieht Familie Szalek zurück nach Jüterbog. Elfriede kommt in die dritte Klasse, sie ist eine gute Schülerin. Irmgard arbeitet als Hausangestellte und hilft später tageweise in einem Geschäft aus, dessen Besitzerin ebenfalls ein ehemaliger Häftling eines Speziallagers ist. Sie wird zu einer engen Bezugsperson und übernimmt Elfriedes Patenschaft.

Irmgard und die Ladenbesitzerin organisieren nun heimliche Treffen mit ihren Kameradinnen. Als Elfriede zehn Jahre alt ist, bekommt sie mit, dass ihre Mutter regelmäßigen Besuch von ihr unbekannten Frauen erhält. Sie ist neugierig, aber auch besorgt, da sie die Bekanntschaften nicht einordnen kann. Die Frauengruppe verschanzt sich für ihre Treffen in der Küche der Familie und Elfriede gelingt es durch die geschlossene Tür nicht, die Gespräche zu belauschen.

Es ist bemerkenswert, dass Irmgard ausgerechnet in Jüterbog mit den geheimen Zusammenkünften beginnt, denn das kleine brandenburgische Städtchen ist zu DDR-Zeiten einer der größten Stützpunkte der stationierten Truppen der Sowjetunion.

Der in der Mitte des 19. Jahrhunderts angelegte Garnisonsstandort für die königlich-preußische Armee wird mit der Stationierung von Streitkräften der UdSSR für Jahrzehnte zu einer der wichtigsten sowjetischen Militärbasen in Deutschland. Die Zahl der Rotarmisten übersteigt die der Einheimischen deutlich. Neben etwa 15.000 Einwohnern bevölkern rund 40.000 Soldaten das militärische Sperrgebiet.

»Sie hatte immer Angst. Wenn wir Soldaten trafen, war sie wie eingeschüchtert. Und ich hatte auch immer diese Angst in mir, aber konnte mir nicht erklären, warum.«

Trotz der zunehmenden Anzahl von Fragen vertraut Irmgard ihrer heranwachsenden Tochter noch immer nichts über die gemeinsame Vergangenheit im Lager Mühlberg an. Elfriede wundert sich oft über das ihr unerklärliche Verhalten der Mutter. Irmgard möchte sie aus allen DDR-Massenorganisationen heraushalten. Elfriede gehorcht ihr aber nicht, für sie sind diese Dinge normal. Ihrer Mutter zuliebe feiert sie allerdings nach der Jugendweihe auch die kirchliche Konfirmation.

Auf ihrem schulischen Bildungsweg erfährt sie keinerlei Benachteiligungen und macht ihr Abitur in der Abendschule. Irmgard ist stolz auf die guten Leistungen ihrer Tochter. Zeitig bekommt Elfriede ihr erstes Kind und heiratet.

Mit dem Stichtag ihrer Volljährigkeit lüftet Irmgard plötzlich das große Geheimnis, von dem Elfriede nichts ahnt. Irmgard teilt Elfriede mit, dass nicht Johann Szalek, sondern Eduard Petzold ihr leiblicher Vater ist. Sie gibt ihrer Tochter Eduards Adresse und stellt es ihr frei, Kontakt aufzunehmen.

Elfriede vereinbart umgehend ein Treffen. Gemeinsam mit ihrem Mann besucht sie Eduard, der mit seiner neuen Familie in Halle/Saale lebt. Er hat im Juli 1949 eine ehemalige Mühlberg-Insassin geheiratet. Die Frau war während ihrer Haftzeit noch eng mit Irmgard befreundet, doch wegen Eduard zerbricht der Freundschaftsbund.

»Später redeten die nie wieder ein Wort miteinander. Und ich stand dazwischen.«

Das erste Kennenlernen erfolgt unter kühler Atmosphäre, denn Eduards Ehefrau gibt sich äußerst distanziert. Ihren Halbbruder, der in einer anderen Stadt studiert, lernt Elfriede nicht kennen. Als Eduard sie aus der Wohnung begleitet, steckt er ihr eine Telefonnummer zu und bittet sie, den weiteren Kontakt über seine Arbeit laufen zu lassen.

Nach seinen Arbeitsstellen in der sowjetischen Schuhfabrikation in Halle und den Werkstätten für sowjetische Offiziere Heiderand hatte der Schuhmacher bis Oktober 1956 bei der Kasernierten Volkspolizei gearbeitet, seit November 1956 ist er Werkstattleiter der Abteilung Schuhmachen HO Spezialhandel.

Eduard und Elfriede halten telefonisch Kontakt und verabreden sich regelmäßig. Eduard besucht Elfriede und ihre Familie, die sich mittlerweile um ein zweites Kind vergrößert hat, in Jüterbog. Auch Irmgard nimmt an den Treffen teil, obwohl Johann Szalek eifersüchtig ist und es deswegen großen Streit gibt.

»Meine Mutter kam dann heimlich und wollte ihn nochmal sehen. Also die Neugierde von beiden Seiten war immer groß.«

Nur durch intensive Nachfrage gelingt es Elfriede über die Jahre, kleine Puzzleteile der Familiengeschichte zusammenzutragen. Einige Informationen bekommt sie von ihrer Tante, der Halbschwester ihrer Mutter. Doch mit einer Mischung aus Angst und Verdrängung ist Irmgard selbst nicht bereit, sich Elfriede freiwillig anzuvertrauen. Während der Besuche sprechen ihre Eltern nie über die Haftzeit. Sie trinken gemeinsam Kaffee, bereden belanglose Themen und dann fährt ihr Vater wieder nach Hause.

Als Elfriede eines Tages im Jahr 1977 erneut auf der Arbeitsstelle ihres Vaters anruft, teilen ihr seine Kollegen mit, dass Eduard an Darmkrebs verstorben sei. Die Nachricht kommt für Elfriede völlig überraschend, denn sie wusste nichts von der Erkrankung. Bei ihrem letzten Gespräch hatte Eduard lediglich mitgeteilt, er habe eine große OP vor sich, vor der er sich fürchte.

Elfriede fährt ein letztes Mal nach Halle. Eduards Witwe überlässt ihr ein Fernglas und eine Pelzmütze als Andenken an den verstorbenen Vater. Wo sich sein Grab befindet, erfährt die Tochter nicht.

In den darauffolgenden Jahren lässt Elfriede die Vergangenheit ruhen und konzentriert sich ganz auf ihre Familie und die berufliche Karriere. Nach einem Frauensonderstudium im Bereich Ökonomie ziehen sie 1979 nach Schwerin um, wo Elfriede als Arbeitsökonomin arbeitet. Elf Jahre später wird sie Vereinsvorsitzende und Geschäftsführerin des Schweriner Umschulungs- und Bildungszentrums und steckt viel Herzblut und Engagement in die Tätigkeit, die sie bis zur Rente ausübt.

Erst nach der politischen Wende und der deutschen Wiedervereinigung beginnt in der Öffentlichkeit eine Aufarbeitung der Speziallagerzeit. Irmgard wird mit dem lange verdrängten Thema plötzlich medial konfrontiert und bricht zusammen. Elfriedes Halbbruder, der mit seiner Mutter in Jüterbog zusammenlebt, macht sich große Sorgen und informiert Elfriede.

Es treffen Briefe von ehemaligen Häftlingen ein, doch Irmgard antwortet nicht darauf. Auch als sich im Januar 1991 die Initiativgruppe Lager Mühlberg e.V. (ILM) als Zusammenschluss der Überlebenden des Lagers und ihrer Angehörigen gründet und ein erstes Ehemaligentreffen organisiert, lehnt Irmgard eine Teilnahme ab.

»Meine Mutter sagte, damit will sie nichts mehr zu tun haben. Sie hatte keine Kraft dazu. War dann ganz schlimm.«

Irmgards Gesundheitszustand verschlechtert sich rapide. 1992 verstirbt sie im Alter von 71 Jahren. In der hintersten Ecke eines Schranks finden ihre Kinder das Verlobungsgeschenk aus Berlin, ein Set Tassen mit Punkten, das Irmgard zwar immer schrecklich fand, aber nie hergeben wollte. Im Portemonnaie steckt eine Fotografie ihres damaligen Berliner Verlobten, für Elfriede ein Zeichen, dass Irmgard gedanklich mit diesem Lebenslauf nie abgeschlossen hatte.

2007 wird Elfriede von einer 10. Klasse des Gymnasiums Elsterwerda angeschrieben, die in Kooperation mit der Initiativgruppe Lager Mühlberg ein Schülerprojekt durchführt. Die Schüler bitten um Elfriedes Mitarbeit bei der Recherche nach den Umständen ihrer Geburt im Speziallager Mühlberg.

Das Projekt ist der Funke, der Elfriedes jahrzehntelange mühsame Nachforschungen, die sie eigentlich schon als abgeschlossen betrachten wollte, neu entfacht. Systematisch trägt sie alle ihr bekannten Informationen zusammen und erhält Hinweise durch die Mitglieder der Initiativgruppe, die in ihren Archivbeständen recherchieren. Mehrere ehemalige Kameradinnen schreiben auf, woran sie sich aus der gemeinsamen Zeit in Gefangenschaft erinnern.

Elfriede wendet sich auch an Familie Manske, zu der ihre Mutter bis zum Tod Kontakt gehalten hatte, und bekommt ein Schreiben, dass die gemeinsamen Jahre, die Flucht nach Neudamm und Irmgards plötzliches Verschwinden im Februar 1945 bestätigt. Als sie zur Abschlussveranstaltung des Schulprojekts eingeladen ist, bekommt Elfriede eine Dokumentation überreicht, die neue Informationen über ihre Vergangenheit beinhaltet.

Elfriede geht nun einen weiteren großen Schritt und kontaktiert 2008 ihren Halbbruder Volker, den Sohn von Eduard und dessen Frau, den sie 60 Jahre lang nicht kennenlernen durfte. Monate vergehen, ohne dass sie eine Rückmeldung zu ihrem Brief erhält.

Erst nach einem Jahr trifft ein Antwortschreiben ein, denn so lange benötigt Elfriedes Bruder, um die Information zu verarbeiten und sich sicher zu werden, keiner Hochstaplerin aufzusitzen. Er wurde von seinen Eltern nie über Elfriedes Existenz informiert. Die Geschwister treffen sich in Halle und Volker zeigt Elfriede das Grab ihres gemeinsamen Vaters.

»Das ist ein schönes Gefühl, noch einen Bruder zu haben und zu wissen, wo der Vater liegt.«

Gemeinsam erforschen die Geschwister fortan ihre Familiengeschichte. Volker sichtet akribisch den Nachlass seiner Eltern, befragt die lebenden Verwandten und fährt sogar zu Eduards Geburtsort Petrikau in Polen. Seine Ergebnisse stellt er Elfriede in einer dicken Mappe zusammen. Volker und Elfriede halten einen guten Kontakt miteinander.

Mit Ursula Rebhahn macht Elfriede 2014 eine weitere ehemalige Insassin des Lagers Mühlberg ausfindig, die ihre Mutter persönlich kannte und viele Einzelheiten bestätigt. Elfriede erfährt, dass derzeit über »Irmchen Zimmer« gemunkelt worden sei, sie hätte ein Verhältnis mit einem Volksdeutschen. Der Begriff ist in der Zeit des Nationalsozialismus geläufig für Personen deutscher Volkszugehörigkeit, die außerhalb der Grenzen Deutschlands von 1937 leben – so wie Eduard Petzold.

Nur kurze Zeit später wird Elfriede von Alexander Latotzky kontaktiert. Latotzky, der selbst in Haft geboren wurde, widmet sich seit Jahren mit großem Engagement der Erforschung der Schicksale der Lagerkinder und recherchiert Hinweise auf mindestens 104 Kinder, die in einem sowjetischen Speziallager oder einem Gefängnis in der SBZ/DDR geboren sind.

Anlässlich ihres Treffens mit Alexander Latotzky betritt Elfriede im Jahr 2015 zum ersten Mal bewusst das Gelände in Mühlberg, auf dem eine Mahn- und Gedenkstätte eingerichtet ist. Sie ist schockiert, dass vom ehemaligen Speziallager kaum noch etwas zu erahnen ist. Zwischen Gedenktafeln und Wald liegen die Reste der Baracken und Latrinen nahezu verborgen.

»Ich wurde ja bald nicht mehr, ich war so emotional dran.«

Neben der multimedialen Aufarbeitung der Thematik organisiert Alexander Latotzky die seit 1999 jährlich und bundesweit stattfindenden Zusammenkünfte der Lagerkinder und ihrer Mütter, an denen sowohl Elfriede als auch ihr Bruder Volker teilnehmen. Elfriede tritt als Zeitzeugin auf. Das Schicksal von ihr und ihrer Mutter Irmgard wird in der Wanderausstellung »Kindheit hinter Stacheldraht« und in Hans-Dieter Rutschs Film »Geboren hinter Gittern. Kinderschicksale in der Nachkriegszeit« dokumentiert.

2017 erkrankt Elfriede dann schwer. Die Ärzte können sich ihre Symptomatik nicht erklären, sie finden weder organische noch psychische Ursachen für ihr Leiden.

»Ich war fast unter der Erde. Ich kann es mir nur so erklären, dass irgendwann mal ein Zusammenbruch kommt aus diesem Ganzen, was da so rundrum an Problemen ist.«

Nur sehr langsam tritt Besserung ein und Elfriede kommt wieder zu Kräften. Anlässlich ihres 70. Geburtstags besucht sie gemeinsam mit ihrer Familie noch einmal Gräfendorf, die Heimat ihrer Kindheit. Auch ihre Kinder und Enkel verfolgten alle Entwicklungen interessiert und zeigten sich überrascht von der anderen, emotionalen Seite ihrer sonst so unbeschwerten Mutter und Großmutter.

Elfriede ist dankbar, endlich ihre Vergangenheit zu kennen und ist all jenen verbunden, die ihr bei der komplizierten Spurensuche halfen. Rückblickend stellt sie jedoch auch fest, froh zu sein, alle Details erst nach und nach erfahren zu haben. Das Schicksal all jener Frauen, die ihre Kinder unter den widrigen Umständen der Speziallager-Haft zur Welt gebracht und großgezogen haben, berührt Elfriede nachhaltig. Ehrfürchtig wertschätzt sie deren Durchhaltevermögen und innere Stärke. Elfriede sagt, dass sie mit ihrer eigenen Geschichte wohl nie fertig werden wird, weil sie immer neue Puzzleteile findet.

»Aber ich bin trotzdem unbeschwert und lebe mein Leben. Ich habe eine tolle Familie, uns gehts gut, wir haben Frieden.«

»Ich hatte immer diese Angst in mir, die ich nicht erklären konnte.«

Mindestens 104 Kinder kommen zwischen 1945 und 1950 in sowjetischen Speziallagern zur Welt. Wahrlich kann nicht die Rede davon sein, dass sie hier das Licht der Welt erblicken – vielmehr werden sie hineingeboren in die Unfreiheit, in dunkle, kalte, schmutzige Baracken hinter etlichen Reihen von Stacheldraht. Elfriede Schulze ist eins dieser Kinder. Um ihren Lebensweg nachzuvollziehen, muss mit der Lebensgeschichte ihrer Mutter Irmgard begonnen werden.

Irmgard Zimmer wird am 30. Dezember 1920 in Jüterbog geboren. Sie hat einen älteren Bruder und eine nur wenig ältere Schwester, zu der sie ein besonders inniges Verhältnis pflegt. Nach dem frühen Tod ihrer Mutter heiratet der Vater erneut und zeugt zwei weitere Kinder. Irmgard und ihre Schwester Elfriede können jedoch keine gute Beziehung zu der Stiefmutter aufbauen.

Schon zeitig verlassen sie das Elternhaus und gehen gemeinsam nach Berlin, wo die Mädchen ihr sogenanntes Pflichtjahr absolvieren. Der im Frühjahr 1938 vom nationalsozialistischen Regime eingeführte Dienst ist für alle Frauen unter 25 Jahren verpflichtend. In der Land- und Hauswirtschaft sowie in Pflegeberufen werden die jungen Frauen auf ihre zukünftige Rolle als Hausfrau und Mutter vorbereitet. Gleichzeitig sollen sie Haushalte entlasten, denen die Arbeitskraft der Männer fehlt, die als Soldaten im Krieg eingesetzt sind.

Irmgard ist bei der Berliner Rechtsanwaltsfamilie Manske als Hausangestellte und bleibt auch nach ihrem Pflichtjahr bei der Familie. Trotz der schweren Kriegsjahre verlebt Irmgard hier eine glückliche Zeit, denn sie versteht sich gut mit ihren Arbeitgebern und wird als »Tante Irmchen« von den drei Kindern der Familie genauso gemocht, wie sie ihrerseits die Kinder liebt. Irmgard lernt in Berlin einen Mann kennen und feiert mit ihm Verlobung. Doch die Liebe des Mannes ist nicht von Dauer, was Irmgard sehr enttäuscht.

Mit dem Fortschreiten der Kriegsgeschehnisse verlässt Familie Manske Berlin und flieht 1941/42 gemeinsam mit Irmgard zu Verwandten, die in Neudamm (Dębno) leben. Die Stadt im polnischen Verwaltungsbezirk Westpommern liegt 17 Kilometer nordöstlich von Küstrin (Kostrzyn nad Odrą). Anfang Februar 1945 marschiert die Rote Armee in das Gebiet ein und besetzt Neudamm.

Nach Aussage von Charlotte Manske müssen Irmgard und weitere Deutsche nun für die Besatzer arbeiten. Von einem dieser Arbeitseinsätze kehrt die 24-Jährige nicht mehr zurück. Gerüchte besagen, die deutschen Arbeiter seien in die Sowjetunion abtransportiert worden. Familie Manske wartet vergeblich auf ein Lebenszeichen von Irmgard. Im Sommer 1945 wird Neudamm dann gemäß dem Potsdamer Abkommen der Verwaltung der Volksrepublik Polen unterstellt, in Dębno umbenannt und polnisch besiedelt. Die deutschen Einwohner vertreibt man.

Irmgard wird ihrer Tochter Elfriede später erzählen, sie sei im Februar 1945 unterwegs gewesen, um für die Kinder Milch zu holen, und dabei von den Russen aufgegriffen worden. Tatsächlich werden ab Ende Januar 1945 über 200.000 »mobilisierte Deutsche« aus den deutschen Ostgebieten durch sowjetische Truppen festgenommen und zum Arbeitsdienst in die Sowjetunion gebracht.

Bei der Zwangsdeportation ostdeutscher Zivilpersonen handelt es sich um eine systematisch betriebene Aktion, die von der obersten sowjetischen Führung geplant und in allen sowjetischen Armeebereichen jenseits von Oder und Neiße in gleicher Weise gehandhabt wird. Man will die Männer und Frauen zum Wiederaufbau der Wirtschaft einsetzen. Sie sind gewissermaßen vorgezogene Reparationsleistungen Deutschlands, das im Begriff ist, den 1939 angezettelten Zweiten Weltkrieg zu verlieren. Während ihrer Verschleppung müssen die Zivilisten tagelange Fußmärsche überstehen und durchlaufen zahlreiche Durchgangs- und Sammellager.

»Unterwegs bekam meine Mutter Typhus und Scharlach. Die Haare fielen ihr aus und das Augenlicht war fast weg. Da ließen die Russen sie halbtot am Straßenrand liegen.«

Irmgard berichtete Elfriede oft davon, wie dann abends eine Streife vorbeigekommen sei. Ein Soldat habe das Gewehr auf sie gerichtet – bereit, sie zu erschießen – der zweite aber sagte »Frau kaputt, keine Kugel«.

Irmgard entgeht der Zwangsarbeit in den sibirischen Straflagern des GULAG. Wie sie jedoch in das System der sowjetischen Speziallager gerät, ist nicht mehr zweifelsfrei nachzuvollziehen. Bis auf Einzelfälle gelangen die »Mobilisierten« nach Kriegsende nicht in die Speziallager der sowjetischen Besatzungszone.

Es ist jedoch anzunehmen, dass Irmgard eine dieser Ausnahmen ist. Möglicherweise wird sie von einem später vorbeiziehenden Gefangenentransport vom Straßenrand aufgesammelt und mitgenommen. Vor ihrer dokumentierten Internierung im »Spezialkontingent« des Lagers Mühlberg muss es jedenfalls eine Zwischenstation gegeben haben, denn das sowjetische Speziallager Nr. 1 Mühlberg wird erst ein halbes Jahr später, am 13. September 1945, vom NKWD in Betrieb genommen.

Naheliegend ist, dass Irmgard nach Schwiebus (heute: Świebodzin) gebracht wird. Die Stadt liegt nur etwa 100 Kilometer von Neudamm entfernt und beherbergt ein Hauptsammellager für die wöchentlich abgehenden Transporte in die Sowjetunion. Das Durchgangslager Schwiebus wird Ende Mai 1945 aufgelöst, die meisten Gefangenen entlassen oder nach Posen (Poznań) verlegt, wo sich das NKWD-Speziallager Nr. 2 der 1. Weißrussischen Front als Durchgangslager für Gefangene und Mobilisierte befindet.

84 ansteckend kranke Gefangene müssen bis Ende August 1945 in Schwiebus bleiben, zum Teil unbewacht und eine Zeitlang ohne Versorgung mit Lebensmitteln. Ende Juni 1945 wird das Speziallager Nr. 1 der 1. Weißrussischen Front von Rembertów, einem Stadtteil Warschaus, kurzzeitig nach Schwiebus verlegt. Anschließend kommt es im September 1945 auf das Areal des ehemaligen Kriegsgefangenenlagers der Wehrmacht »Stalag IV B« bei Mühlberg/Elbe, wo es bis Oktober 1948 als sowjetisches Speziallager Nr. 1 des NKWD der UdSSR betrieben wird.

Die Verlegung von Schwiebus nach Mühlberg umfasst in erster Linie NKWD-Offiziere und -Mannschaften. Zudem kommen aus dem Schwiebuser Lager 84 Gefangene: zur Arbeit mobilisierte Deutsche, die für die sowjetischen Truppen tätig sein müssen, sowie kranke Zivilinternierten, die hier allesamt ohne Schuldnachweis, Verhandlung oder Urteil gefangen gehalten werden. Zeitzeugenberichte belegen einen zweiwöchigen Eisenbahntransport, der irgendwann zwischen Mitte September und Anfang Oktober 1945 den Bahnhof Neuburxdorf bei Mühlberg erreicht. Es ist davon auszugehen, dass sich die schwerkranke Irmgard unter den Neuankömmlingen befindet.

Vermutlich auf ähnliche Art und Weise erreicht Elfriedes Vater Eduard das Speziallager Mühlberg.

Eduard Petzold wird am 14. Juli 1916 in Petrikau (Piotrków Trybunalski) geboren. Seine Eltern betreiben eine große Bäckerei in Polen, die später das Reserve-Lazarett Petrikau 1944 beliefern wird. Eduard geht 1933 bei einem Schuhmachermeister in die Lehre und arbeitet dort bis 1941 als Geselle. Im August 1942 legt er selbst erfolgreich die Meisterprüfung im Schuhmacherhandwerk ab und betreibt anschließend eine eigene Werkstatt im schlesischen Częstochowa. Eduard heiratet und gründet eine Familie mit vier Kindern.

Zwei Tage nach Beginn des Überfalls auf Polen, am 3. September 1939, marschieren die Truppen der Wehrmacht ein. Częstochowa wird in Tschenstochau umbenannt und in das Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete eingegliedert. Im Zuge ihrer Weichsel-Oder-Operation erobert dann am 16. Januar 1945 die Rote Armee Tschenstochau.

Auch Eduard wird nun wahrscheinlich durch die sowjetischen Truppen »mobilisiert«. Wie alle in den Ostgebieten des Deutschen Reiches lebenden Deutschen erhält er kurz nach der Besetzung den Befehl, sich auf der sowjetischen Kommandantur zu melden. Nicht zwangsläufig erfolgt eine Deportation, die Deutschen werden gleichermaßen zur Arbeit vor Ort für die jeweils zuständigen Truppenteile der Roten Armee verpflichtet. In seinem 1958 verfassten Lebenslauf schreibt Eduard: »Ich arbeitete für die sowjetischen Soldaten als Schuhmacher bis 1947, erst in Tschenstochau, dann wurde die Einheit nach Warschau, Posen und zuletzt nach Deutschland versetzt. 1947 wurde ich entlassen.«

Möglicherweise nimmt Eduard also den Weg von Tschenstochau über Rembertów/Warschau, Schwiebus und Posen, bis er ins Speziallager Mühlberg kommt. Geht man davon aus, dass er stets als Schuhmacher für die sowjetischen Truppen eingesetzt ist, so gehört er vielleicht gar nicht zum »Spezialkontingent«. Nichtsdestotrotz ist der 29-Jährige ebenso wie Irmgard für mehrere Jahre Gefangener des NKWD/MWD im sowjetischen Speziallager Nr. 1 Mühlberg. Der Zufall will es, dass sich die beiden hier kennenlernen.

Porträtfoto Eduard Petzold

Porträtfoto von Eduard Petzold, vermutlich 1946.

Zwischen den Bereichen, in denen die Männer untergebracht sind, und dem Frauenlager, besteht in allen sowjetischen Speziallagern eine strikte Trennung. Durch Arbeitsstellen kann es dennoch zu Begegnungen zwischen den Geschlechtern kommen.

Irmgard ist im Lager Mühlberg in der Küche des Außenlagers beschäftigt, wo die Verpflegung der sowjetischen Lagerverwaltung zubereitet wird. Die Küchenhelfer rekrutieren sich aus den allerersten Gefangenentransporten.

Eduard muss ebenfalls hier einen Posten ausgeübt oder zumindest regelmäßigen Zugang gehabt haben. Weil er Polnisch spricht und sich mit den sowjetischen Wachposten gut versteht, gelingt es ihm, Essen zu organisieren und Irmgard zuzustecken. Die 25-jährige erholt sich langsam von ihrer schweren Scharlach- und den Typhuserkrankung.

»Das war dann wahrscheinlich mit ein Grund, mich zu zeugen. So überlebte sie. Die Extraportion teilte sie redlich mit den Frauen ihrer Gruppe.«

Über die Art und Dauer der Beziehung, die Irmgard und Eduard miteinander pflegen, ist nichts bekannt. Sicher ist nur, dass das Verhältnis zu einer Schwangerschaft führt. Was nach Irmgards langer, schwerer Krankheit und in einem so lebensfeindlichen Umfeld sowieso schon bemerkenswert ist, stellt in der Konsequenz eine schier unmögliche Herausforderung dar.

Eine Schwangerschaft ist in den Speziallagern kein Grund zur mildernden Behandlung, Strafreduzierung oder gar Entlassung, und Frauen werden sogar bei fortgeschrittener Schwangerschaft noch in die Lager eingewiesen.

Die Kinder, die in Gefangenschaft gezeugt werden, entstehen nicht ausschließlich durch freiwillige Kontakte unter Häftlingen. Es sind auch Fälle dokumentiert, in denen das sowjetische Personal Frauen mit falschen Versprechungen auf frühzeitige Entlassung lockt oder »Liebesdienste“ mit Nahrungsmitteln bezahlt. Gleichermaßen berichten ehemalige Gefangene davon, von Wachposten mit Alkohol gefügig gemacht worden zu sein. Ob es in den Speziallagern auch Vergewaltigungen gegeben hat, ist nicht eindeutig geklärt, aber anzunehmen.«

Sexuelle Verhältnisse sind offiziell verboten und werden bei Bekanntwerden streng bestraft. Unbekannt ist, ob die Beziehung zwischen Irmgard und Eduard dem sowjetischen Lagerregime verborgen blieb oder stillschweigend toleriert wurde.

Als bei einer medizinischen Untersuchung festgestellt wird, dass die junge Frau in anderen Umständen ist, ziehen die russischen Lagerärzte eine Abtreibung in Betracht. Doch der heimliche Austausch von Kassibern soll ausschlaggebend für Irmgards festen Entschluss werden, ihr Kind auszutragen. Zwei frühzeitig entlassenen Frauen gibt sie bei deren Abreise in kleines Stück Pergamentpapier mit, das eine Nachricht über ihren Verbleib enthält. Die Frauen suchen Irmgards Elternhaus in Jüterbog auf und überbringen die Botschaft. Es ist das erste Lebenszeichen, das ihre Stiefmutter und Halbschwestern seit Irmgards spurlosem Verschwinden im Februar 1945 erhalten.

»Meine Tante sagte, diesen Zettel hoben sie leider nicht auf, weil sie Angst hatten, dass man ihn fand. Das war ja alles kreuzgefährlich, die überwachten doch alles.«

Irgendwie gelingt es den Frauen sogar, ein Antwortschreiben zurück ins Speziallager Mühlberg zu schmuggeln, das Irmgard erreicht. Doch die überbrachten Nachrichten sind keine guten und erschüttern die Schwangere zutiefst. Im hereingeschmuggelten Kassiber steht, Irmgards Vater sei von einem Russen erstochen worden und ihre Schwester Friedel sowie deren Sohn in Berlin verstorben. Irmgard beschließt daraufhin: »Ich habe meine Schwester nicht mehr, ich habe meinen Vater nicht mehr, aber mein Kind will ich behalten!«

Obwohl Abtreibungen in den sowjetischen Speziallagern verboten sind, gibt es Belege für Fälle, in denen diese durchgeführt werden. Irmgard lehnt einen Abort vehement ab. Stattdessen beginnt sie, sich so aktiv wie möglich zu halten und ihren Körper mit täglicher Gymnastik zu stärken.

»Für sie gab es keine Entscheidung. Sie wollte mich. Das war ihre einzige Hoffnung, überhaupt zu überleben, sagte sie mir oft. Sonst hätte sie keinen Lebensmut mehr gehabt.«

Angeblich nichtsahnend von seiner bevorstehenden Vaterschaft wird Eduard am 20. Oktober 1947 aus dem sowjetischen Speziallager Nr. 1 Mühlberg entlassen. Diese zeitige Rückkehr in die Freiheit könnte ein Indiz dafür sein, dass er nicht dem Spezialkontingent zugehörig war.

Außerdem ist sein Entlassungsschein vom Kommandeur des Truppenteils der Sowjetarmee, Feldpost Nr. 24570, des Verteidigungsministeriums der UdSSR unterzeichnet. Laut diesem Dokument kehrt Eduard zu seinem ständigen Wohnsitz in Erfurt zurück. Den Angaben seines Lebenslaufes zufolge arbeitet er ab dem 4. November 1947 als Schuhmacher in einer Werkstatt in Weißenfels.

Entlassungsbescheinigung Eduard Petzold

Entlassungsbescheinigung

Im August 1945 kommt im Speziallager Ketschendorf das erste Lagerkind zur Welt. Die Mehrzahl der Kinder wird allerdings zwischen 1946 und 1948 geboren.

Ihre Mütter kommen unter den unterschiedlichsten Bedingungen nieder: In einigen Lagern können die Frauen ihre Babys im Krankenrevier zur Welt bringen und werden durch inhaftierte Ärzte oder Hebammen betreut. Andere müssen auf einer gewöhnlichen Pritsche gebären, lediglich unterstützt von ihren Kameradinnen. Bedingt durch den schlechten körperlichen Zustand der Frauen kommt es immer wieder zu Früh- und Totgeburten. Gelingt die Geburt, so sind die Überlebenschancen der Neugeborenen gering.

Im Speziallager Mühlberg werden mindestens drei Kinder geboren. Im März und November 1947 kommen ein Mädchen und ein Junge zur Welt. Irmgards Tochter, Elfriede Zimmer, wird am 2. Dezember 1947 geboren. Trotz ihrer Versuche, sich auf die außerordentliche körperliche Herausforderung vorzubereiten, ist Irmgards Leben bedroht, denn Elfriede ist eine schwierige Steißgeburt. Glücklicherweise steht Irmgard der Gynäkologe und ehemalige SS-Obersturmbannführer Dr. Heinrich Eufinger als Lagerarzt zur Seite.

»Als ich geboren war, traf die Insassin Ursula Rebhahn auf Professor Eufinger. Er strahlte und sagte: ›Es ist ein Kind geboren, das ist doch viel schöner als das Sterben hier.‹«

Der Umgang der jeweiligen Lagerkommandanten mit den Neugeborenen variiert stark. Während in Mühlberg und Jamlitz durch die sowjetischen Offiziere Windeln, Seife und Essen zur Verfügung gestellt werden, gibt es in Buchenwald Sonderrationen und eine Kinderbaracke mit zeitweise fließend warmem Wasser.

Dagegen zählen in Torgau oder Bautzen Kinder für die Lagerführung überhaupt nicht und die Mütter müssen ihre ohnehin erbärmlichen Verpflegungsrationen mit dem Kind teilen.

Irmgard bereut ihre Entscheidung für Elfriede nicht ein einziges Mal. So schwer die Geburt für sie gewesen ist, umso mehr wird sie von der Gegenwart ihrer Tochter belohnt, die sich als unkompliziertes Baby erweist.

»Vom ersten Tag an war ich ihr Sonnenschein.«

Der Alltag mit Babys und Kleinkindern ist für die Mütter problematisch. Nichts im Lager erfüllt die grundlegendsten Bedürfnisse des erwachsenen Menschen an Ernährung, Hygiene oder Wärme – und so sind die Umstände schon gar nicht auf die speziellen Bedürfnisse von Kindern ausgelegt. Sie liegen auf denselben hölzernen Pritschen wie jeder Inhaftierte und müssen ebenso bei jedem Wetter täglich über Stunden Appellstehen.

Bei der Versorgung ihrer Kinder behelfen sich die Mütter mit Tauschgeschäften und durch geschickte Handarbeiten. Elfriede nimmt ihre erste Beikost mit einem eigens für sie angefertigten Aluminiumlöffel, der einen verlängerten Stiel aufweist, zu sich. Vermutlich fertigt Irmgard im Gegenzug eine Näharbeit an oder spart sich Brot vom Mund ab, um den Löffel zu erwerben.

Aluminiumlöffel, Fingerhut aus Patronenhülse, handgeschnitzte Mühlenfigur.

Aluminiumlöffel, Fingerhut aus Patronenhülse, handgeschnitzte Mühlenfigur.

Kinderkleidung nähen die Frauen aus den Textilien von Verstorbenen oder stricken Sachen aus den aufgetrennten Fäden von alten Zuckersäcken. Die inhaftierten Frauen unterstützen sich gegenseitig, so gut es geht, und teilen alles, was sie besitzen oder auftreiben können. Elfriedes »Tanten« im Lager nähen ihr Kleidchen aus Taschentüchern. Das Frauenlager ist wie eine Familie, Zusammenhalt überlebensnotwendig.

»Denn sie wussten ja nicht, wann sie rauskommen, ob sie überleben. Wenn man diese lange Liste von Toten sieht, kann man doch nur staunen, dass sie das schafften.«

Ab Mitte Juli 1948 werden täglich 100 bis 200 Gefangene entlassen, denn das sowjetische Speziallager Nr. 1 Mühlberg befindet sich in der Phase seiner Auflösung. Irmgard und Elfriede dürfen am 18. Juli 1948 den Weg in die Freiheit antreten.

Für die zwei anderen, ebenfalls in Mühlberg geborenen Kinder und ihre Mütter findet das Leiden noch kein Ende. Sie werden gemeinsam mit über 3.600 Gefangenen ins Speziallager Buchenwald weitergereicht, aus dem man sie erst 1950 endgültig entlässt.

Mit der Bürde eines strikten Redeverbots über ihre Zeit der Gefangenschaft und einer Entlassungsbescheinigung aus einem namenlosen Internierungslager – die Elfriede mit keiner Silbe erwähnt – reisen Mutter und Kind in Irmgards Heimatstadt Jüterbog. Dort leben sie zunächst im Haushalt von Irmgards Stiefmutter. Irmgards Halbschwester kümmert sich liebevoll mit um ihre sieben Monate alte Nichte.

Nahezu alle der in den Speziallagern geborenen Kinder leiden unter gesundheitlichen Folgeerscheinungen durch die pränatale und frühkindliche Mangelversorgung, die sie besonders anfällig für Krankheiten macht.

Was man den Kindern nicht ansieht, sind die traumatischen Folgen des Lagerlebens. Je länger sie hinter Stacheldraht zubringen mussten, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit der Entwicklung von Ängsten vor der ihnen unbekannten Welt außerhalb des Lagergeländes.

Auch bei den Erwachsenen hinterlassen die gemachten Erfahrungen tiefe Narben. Darüber hinaus erleben die ehemaligen Häftlinge nach der Freilassung nicht selten Stigmatisierung, gesellschaftliche und berufliche Benachteiligung und die pauschale Unterstellung einer Schuld an ihrem Schicksal. Irmgard wird damit konfrontiert, dass ihr die Menschen in ihrer Umgebung immer wieder vermitteln, sich sicher zu sein, es müsse einen triftigen Grund für ihre Inhaftierung gegeben haben.

»Es war immer ein Makel: Die war weg und da muss sie ja irgendwas gemacht haben. Aber meine Mutter war total unschuldig.«

Behördengänge und Anmeldungen sind Herausforderungen, denen sich die Heimgekehrten oft lieber entziehen möchten, und die dennoch Pflicht für den Neubeginn sind. Der christliche Glaube ist für Irmgard stets ein wichtiger Zufluchtsort. Doch als sie nach ihrer Rückkehr zum ersten Mal wieder eine Kirche betritt und man ihr das Kirchengeld über die Jahre ihrer Gefangenschaft rückwirkend abfordern will, tritt sie aus der Kirche aus.

Im August 1948 wird die Existenz der bereits acht Monate alten Elfriede erstmals mit einer Geburtsurkunde amtlich beglaubigt. In der Regel sind Kinder in der Buchführung der Speziallager des NKWD/MWD nämlich nicht verzeichnet, nur selten gibt es die Erwähnung einer Geburt auf der Karteikarte der Mutter.

Irmgards Stiefmutter besteht darauf, die Vaterschaftsfeststellung über den Behördenweg zu gehen, um den Kindsvater zu Unterhaltszahlungen zu verpflichten. Die Anerkennung der Vaterschaft durch Eduard Petzold erfolgt ohne weiteren persönlichen Kontakt mit Irmgard auf postalischem Wege.

Elfriede Schulze Geburtsurkunde

Elfriedes Geburtsurkunde

1949 wird Irmgard mit dem geschiedenen Johann Szalek verkuppelt und heiratet. Johann, Irmgard und Elfriede ziehen nach Gräfendorf – in ein Haus direkt neben Johanns erste Frau. Sie bekommen dessen älteren Sohn zugesprochen, während Johanns Tochter in der Familie der Ex-Frau verbleibt. Die Situation ist für Irmgard nicht einfach. Elfriede erinnert sich, dass stets der gepackte Koffer unter dem Bett ihrer Mutter steht.

Für Elfriede allerdings beginnt mit dem Umzug nach Gräfendorf eine schöne Kindheit. Das Mädchen ist stolz auf ihren großen Stiefbruder. Als Irmgard 1954 ein zweites Kind zur Welt bringt, komplettiert der kleine Bruder Elfriedes neue Familie. Elfriede weiß nicht, dass Johann Szalek nicht ihr leiblicher Vater ist. Der Stiefvater nimmt sie wie sein eigenes Kind an und die beiden pflegen ein inniges Verhältnis.

Sowohl durch die Geborgenheit, die sie in ihrer Familie erfährt, als auch aus Unkenntnis, entwickelt Elfriede zunächst eine Unbefangenheit über die Umstände ihrer Geburt. Als sie zur Schule kommt und nach ihrem Geburtsort befragt wird, antwortet sie »im Internierungslager« – denn genau so steht es in ihrer Geburtsurkunde. Doch die Antwort stößt auf große Empörung bei der Lehrerschaft.

Elfriede versteht die Problematik damals nicht, sie hat keine Vorstellung davon, was ein Internierungslager ist. Doch sie beschränkt sich in Zukunft darauf, die Stadt Mühlberg als Geburtsort anzugeben. Nachfragen bei ihrer Mutter führen nicht weit.

»Sie durften ja auch nicht reden, das war schon schwierig für die Frauen.«

Die sowjetische Haftpraxis wird in der DDR tabuisiert, die Existenz der Speziallager verleugnet. Das Lager Mühlberg ist zu diesem Zeitpunkt längst geräumt und seine Baracken und Gebäude sind demontiert oder abgerissen.

Eigentlich ist das Gelände anschließend für die landwirtschaftliche Nutzung vorgesehen, doch bei Feldarbeiten werden immer wieder menschliche Knochen gefunden. So entschließt sich das SED-Regime, einen Schleier des Vergessens über die Massengräber zu legen, und lässt das Areal aufforsten. Heimlich von Angehörigen am Gelände niedergelegte Blumensträuße und Kränze werden von den DDR-Behörden umgehend beseitigt.

Die stetige Vorsicht und Geheimhaltung üben auf die ehemaligen Häftlinge einen ständigen Druck aus. Durch die Öffnung der Stasi-Unterlagen ist heute bekannt, dass die aus den Speziallagern Heimgekehrten bei ihrer Anmeldung auf den Behörden ihrer Heimatgemeinden besonders registriert werden. Zunächst überwacht vom »K5« wird ihre besondere Beobachtung später von Mitarbeitern des MfS fortgeführt.

Bei einem Besuch der Verwandtschaft in der Bundesrepublik bietet Irmgards Bruder ihr an, mit Elfriede und dem Sohn zu bleiben. Doch Irmgard schlägt das Angebot aus, sie will ihre neue Familie nicht im Stich lassen.

»Obwohl das eine sehr kritische Ehe war, wie es so ist, wenn man zusammengeschrieben wird. Aber das hätte sie ihm nicht angetan.«

1957 zieht Familie Szalek zurück nach Jüterbog. Elfriede kommt in die dritte Klasse, sie ist eine gute Schülerin. Irmgard arbeitet als Hausangestellte und hilft später tageweise in einem Geschäft aus, dessen Besitzerin ebenfalls ein ehemaliger Häftling eines Speziallagers ist. Sie wird zu einer engen Bezugsperson und übernimmt Elfriedes Patenschaft.

Irmgard und die Ladenbesitzerin organisieren nun heimliche Treffen mit ihren Kameradinnen. Als Elfriede zehn Jahre alt ist, bekommt sie mit, dass ihre Mutter regelmäßigen Besuch von ihr unbekannten Frauen erhält. Sie ist neugierig, aber auch besorgt, da sie die Bekanntschaften nicht einordnen kann. Die Frauengruppe verschanzt sich für ihre Treffen in der Küche der Familie und Elfriede gelingt es durch die geschlossene Tür nicht, die Gespräche zu belauschen.

Es ist bemerkenswert, dass Irmgard ausgerechnet in Jüterbog mit den geheimen Zusammenkünften beginnt, denn das kleine brandenburgische Städtchen ist zu DDR-Zeiten einer der größten Stützpunkte der stationierten Truppen der Sowjetunion.

Der in der Mitte des 19. Jahrhunderts angelegte Garnisonsstandort für die königlich-preußische Armee wird mit der Stationierung von Streitkräften der UdSSR für Jahrzehnte zu einer der wichtigsten sowjetischen Militärbasen in Deutschland. Die Zahl der Rotarmisten übersteigt die der Einheimischen deutlich. Neben etwa 15.000 Einwohnern bevölkern rund 40.000 Soldaten das militärische Sperrgebiet.

»Sie hatte immer Angst. Wenn wir Soldaten trafen, war sie wie eingeschüchtert. Und ich hatte auch immer diese Angst in mir, aber konnte mir nicht erklären, warum.«

Trotz der zunehmenden Anzahl von Fragen vertraut Irmgard ihrer heranwachsenden Tochter noch immer nichts über die gemeinsame Vergangenheit im Lager Mühlberg an. Elfriede wundert sich oft über das ihr unerklärliche Verhalten der Mutter. Irmgard möchte sie aus allen DDR-Massenorganisationen heraushalten. Elfriede gehorcht ihr aber nicht, für sie sind diese Dinge normal. Ihrer Mutter zuliebe feiert sie allerdings nach der Jugendweihe auch die kirchliche Konfirmation.

Auf ihrem schulischen Bildungsweg erfährt sie keinerlei Benachteiligungen und macht ihr Abitur in der Abendschule. Irmgard ist stolz auf die guten Leistungen ihrer Tochter. Zeitig bekommt Elfriede ihr erstes Kind und heiratet.

Mit dem Stichtag ihrer Volljährigkeit lüftet Irmgard plötzlich das große Geheimnis, von dem Elfriede nichts ahnt. Irmgard teilt Elfriede mit, dass nicht Johann Szalek, sondern Eduard Petzold ihr leiblicher Vater ist. Sie gibt ihrer Tochter Eduards Adresse und stellt es ihr frei, Kontakt aufzunehmen.

Elfriede vereinbart umgehend ein Treffen. Gemeinsam mit ihrem Mann besucht sie Eduard, der mit seiner neuen Familie in Halle/Saale lebt. Er hat im Juli 1949 eine ehemalige Mühlberg-Insassin geheiratet. Die Frau war während ihrer Haftzeit noch eng mit Irmgard befreundet, doch wegen Eduard zerbricht der Freundschaftsbund.

»Später redeten die nie wieder ein Wort miteinander. Und ich stand dazwischen.«

Das erste Kennenlernen erfolgt unter kühler Atmosphäre, denn Eduards Ehefrau gibt sich äußerst distanziert. Ihren Halbbruder, der in einer anderen Stadt studiert, lernt Elfriede nicht kennen. Als Eduard sie aus der Wohnung begleitet, steckt er ihr eine Telefonnummer zu und bittet sie, den weiteren Kontakt über seine Arbeit laufen zu lassen.

Nach seinen Arbeitsstellen in der sowjetischen Schuhfabrikation in Halle und den Werkstätten für sowjetische Offiziere Heiderand hatte der Schuhmacher bis Oktober 1956 bei der Kasernierten Volkspolizei gearbeitet, seit November 1956 ist er Werkstattleiter der Abteilung Schuhmachen HO Spezialhandel.

Eduard und Elfriede halten telefonisch Kontakt und verabreden sich regelmäßig. Eduard besucht Elfriede und ihre Familie, die sich mittlerweile um ein zweites Kind vergrößert hat, in Jüterbog. Auch Irmgard nimmt an den Treffen teil, obwohl Johann Szalek eifersüchtig ist und es deswegen großen Streit gibt.

»Meine Mutter kam dann heimlich und wollte ihn nochmal sehen. Also die Neugierde von beiden Seiten war immer groß.«

Nur durch intensive Nachfrage gelingt es Elfriede über die Jahre, kleine Puzzleteile der Familiengeschichte zusammenzutragen. Einige Informationen bekommt sie von ihrer Tante, der Halbschwester ihrer Mutter. Doch mit einer Mischung aus Angst und Verdrängung ist Irmgard selbst nicht bereit, sich Elfriede freiwillig anzuvertrauen. Während der Besuche sprechen ihre Eltern nie über die Haftzeit. Sie trinken gemeinsam Kaffee, bereden belanglose Themen und dann fährt ihr Vater wieder nach Hause.

Als Elfriede eines Tages im Jahr 1977 erneut auf der Arbeitsstelle ihres Vaters anruft, teilen ihr seine Kollegen mit, dass Eduard an Darmkrebs verstorben sei. Die Nachricht kommt für Elfriede völlig überraschend, denn sie wusste nichts von der Erkrankung. Bei ihrem letzten Gespräch hatte Eduard lediglich mitgeteilt, er habe eine große OP vor sich, vor der er sich fürchte.

Elfriede fährt ein letztes Mal nach Halle. Eduards Witwe überlässt ihr ein Fernglas und eine Pelzmütze als Andenken an den verstorbenen Vater. Wo sich sein Grab befindet, erfährt die Tochter nicht.

In den darauffolgenden Jahren lässt Elfriede die Vergangenheit ruhen und konzentriert sich ganz auf ihre Familie und die berufliche Karriere. Nach einem Frauensonderstudium im Bereich Ökonomie ziehen sie 1979 nach Schwerin um, wo Elfriede als Arbeitsökonomin arbeitet. Elf Jahre später wird sie Vereinsvorsitzende und Geschäftsführerin des Schweriner Umschulungs- und Bildungszentrums und steckt viel Herzblut und Engagement in die Tätigkeit, die sie bis zur Rente ausübt.

Erst nach der politischen Wende und der deutschen Wiedervereinigung beginnt in der Öffentlichkeit eine Aufarbeitung der Speziallagerzeit. Irmgard wird mit dem lange verdrängten Thema plötzlich medial konfrontiert und bricht zusammen. Elfriedes Halbbruder, der mit seiner Mutter in Jüterbog zusammenlebt, macht sich große Sorgen und informiert Elfriede.

Es treffen Briefe von ehemaligen Häftlingen ein, doch Irmgard antwortet nicht darauf. Auch als sich im Januar 1991 die Initiativgruppe Lager Mühlberg e.V. (ILM) als Zusammenschluss der Überlebenden des Lagers und ihrer Angehörigen gründet und ein erstes Ehemaligentreffen organisiert, lehnt Irmgard eine Teilnahme ab.

»Meine Mutter sagte, damit will sie nichts mehr zu tun haben. Sie hatte keine Kraft dazu. War dann ganz schlimm.«

Irmgards Gesundheitszustand verschlechtert sich rapide. 1992 verstirbt sie im Alter von 71 Jahren. In der hintersten Ecke eines Schranks finden ihre Kinder das Verlobungsgeschenk aus Berlin, ein Set Tassen mit Punkten, das Irmgard zwar immer schrecklich fand, aber nie hergeben wollte. Im Portemonnaie steckt eine Fotografie ihres damaligen Berliner Verlobten, für Elfriede ein Zeichen, dass Irmgard gedanklich mit diesem Lebenslauf nie abgeschlossen hatte.

2007 wird Elfriede von einer 10. Klasse des Gymnasiums Elsterwerda angeschrieben, die in Kooperation mit der Initiativgruppe Lager Mühlberg ein Schülerprojekt durchführt. Die Schüler bitten um Elfriedes Mitarbeit bei der Recherche nach den Umständen ihrer Geburt im Speziallager Mühlberg.

Das Projekt ist der Funke, der Elfriedes jahrzehntelange mühsame Nachforschungen, die sie eigentlich schon als abgeschlossen betrachten wollte, neu entfacht. Systematisch trägt sie alle ihr bekannten Informationen zusammen und erhält Hinweise durch die Mitglieder der Initiativgruppe, die in ihren Archivbeständen recherchieren. Mehrere ehemalige Kameradinnen schreiben auf, woran sie sich aus der gemeinsamen Zeit in Gefangenschaft erinnern.

Elfriede wendet sich auch an Familie Manske, zu der ihre Mutter bis zum Tod Kontakt gehalten hatte, und bekommt ein Schreiben, dass die gemeinsamen Jahre, die Flucht nach Neudamm und Irmgards plötzliches Verschwinden im Februar 1945 bestätigt. Als sie zur Abschlussveranstaltung des Schulprojekts eingeladen ist, bekommt Elfriede eine Dokumentation überreicht, die neue Informationen über ihre Vergangenheit beinhaltet.

Elfriede geht nun einen weiteren großen Schritt und kontaktiert 2008 ihren Halbbruder Volker, den Sohn von Eduard und dessen Frau, den sie 60 Jahre lang nicht kennenlernen durfte. Monate vergehen, ohne dass sie eine Rückmeldung zu ihrem Brief erhält.

Erst nach einem Jahr trifft ein Antwortschreiben ein, denn so lange benötigt Elfriedes Bruder, um die Information zu verarbeiten und sich sicher zu werden, keiner Hochstaplerin aufzusitzen. Er wurde von seinen Eltern nie über Elfriedes Existenz informiert. Die Geschwister treffen sich in Halle und Volker zeigt Elfriede das Grab ihres gemeinsamen Vaters.

»Das ist ein schönes Gefühl, noch einen Bruder zu haben und zu wissen, wo der Vater liegt.«

Gemeinsam erforschen die Geschwister fortan ihre Familiengeschichte. Volker sichtet akribisch den Nachlass seiner Eltern, befragt die lebenden Verwandten und fährt sogar zu Eduards Geburtsort Petrikau in Polen. Seine Ergebnisse stellt er Elfriede in einer dicken Mappe zusammen. Volker und Elfriede halten einen guten Kontakt miteinander.

Mit Ursula Rebhahn macht Elfriede 2014 eine weitere ehemalige Insassin des Lagers Mühlberg ausfindig, die ihre Mutter persönlich kannte und viele Einzelheiten bestätigt. Elfriede erfährt, dass derzeit über »Irmchen Zimmer« gemunkelt worden sei, sie hätte ein Verhältnis mit einem Volksdeutschen. Der Begriff ist in der Zeit des Nationalsozialismus geläufig für Personen deutscher Volkszugehörigkeit, die außerhalb der Grenzen Deutschlands von 1937 leben – so wie Eduard Petzold.

Nur kurze Zeit später wird Elfriede von Alexander Latotzky kontaktiert. Latotzky, der selbst in Haft geboren wurde, widmet sich seit Jahren mit großem Engagement der Erforschung der Schicksale der Lagerkinder und recherchiert Hinweise auf mindestens 104 Kinder, die in einem sowjetischen Speziallager oder einem Gefängnis in der SBZ/DDR geboren sind.

Anlässlich ihres Treffens mit Alexander Latotzky betritt Elfriede im Jahr 2015 zum ersten Mal bewusst das Gelände in Mühlberg, auf dem eine Mahn- und Gedenkstätte eingerichtet ist. Sie ist schockiert, dass vom ehemaligen Speziallager kaum noch etwas zu erahnen ist. Zwischen Gedenktafeln und Wald liegen die Reste der Baracken und Latrinen nahezu verborgen.

»Ich wurde ja bald nicht mehr, ich war so emotional dran.«

Neben der multimedialen Aufarbeitung der Thematik organisiert Alexander Latotzky die seit 1999 jährlich und bundesweit stattfindenden Zusammenkünfte der Lagerkinder und ihrer Mütter, an denen sowohl Elfriede als auch ihr Bruder Volker teilnehmen. Elfriede tritt als Zeitzeugin auf. Das Schicksal von ihr und ihrer Mutter Irmgard wird in der Wanderausstellung »Kindheit hinter Stacheldraht« und in Hans-Dieter Rutschs Film »Geboren hinter Gittern. Kinderschicksale in der Nachkriegszeit« dokumentiert.

2017 erkrankt Elfriede dann schwer. Die Ärzte können sich ihre Symptomatik nicht erklären, sie finden weder organische noch psychische Ursachen für ihr Leiden.

»Ich war fast unter der Erde. Ich kann es mir nur so erklären, dass irgendwann mal ein Zusammenbruch kommt aus diesem Ganzen, was da so rundrum an Problemen ist.«

Nur sehr langsam tritt Besserung ein und Elfriede kommt wieder zu Kräften. Anlässlich ihres 70. Geburtstags besucht sie gemeinsam mit ihrer Familie noch einmal Gräfendorf, die Heimat ihrer Kindheit. Auch ihre Kinder und Enkel verfolgten alle Entwicklungen interessiert und zeigten sich überrascht von der anderen, emotionalen Seite ihrer sonst so unbeschwerten Mutter und Großmutter.

Elfriede ist dankbar, endlich ihre Vergangenheit zu kennen und ist all jenen verbunden, die ihr bei der komplizierten Spurensuche halfen. Rückblickend stellt sie jedoch auch fest, froh zu sein, alle Details erst nach und nach erfahren zu haben. Das Schicksal all jener Frauen, die ihre Kinder unter den widrigen Umständen der Speziallager-Haft zur Welt gebracht und großgezogen haben, berührt Elfriede nachhaltig. Ehrfürchtig wertschätzt sie deren Durchhaltevermögen und innere Stärke. Elfriede sagt, dass sie mit ihrer eigenen Geschichte wohl nie fertig werden wird, weil sie immer neue Puzzleteile findet.

»Aber ich bin trotzdem unbeschwert und lebe mein Leben. Ich habe eine tolle Familie, uns gehts gut, wir haben Frieden.«