Olaf Remus

Olaf Remus

mehr

»Ich sah für meine Zukunft keine Perspektive in der DDR.«

Olaf Remus kommt am 19. Juli 1966 in Bautzen zu Welt. Seine Mutter Brigitta ist Konditormeisterin, sein Vater Dieter arbeitet bei einer Firma für Sprengtechnik im Montage-Einsatz und ist in der Regel nur am Wochenende zu Hause. Der gelernte Polsterer verdient sich etwas Einkommen hinzu, indem er die Sofas von Freunden und Bekannten aufarbeitet.

Aufgrund des hohen Arbeitspensums seiner Eltern verbringt Olaf seine frühe Kindheit vorwiegend bei den Großeltern, die einen kleinen Bauernhof besitzen. 1970 wird seine erste Schwester Constanze geboren.

Als Olaf in die Schule kommt, beginnt eine schwierige Zeit für die Familie. Seine Mutter leidet durch ihre körperlich schwere Arbeit unter massiven Rückenproblemen und muss sich einer Operation unterziehen, die leider fehlschlägt. Ihr gelähmtes Bein sorgt für etliche Monate im Krankenhaus und anschließende Kur-Aufenthalte.

Zeitgleich muss Dieter Remus eine dreijährige Haftstrafe absitzen. Er berichtet seinem Sohn, als Jugendlicher bei illegalen Tauschgeschäften mit Waren aus Westberlin erwischt und daraufhin erpresst worden zu sein. Olaf ist nicht bekannt, für welche Organisation sein Vater als Spitzel angeworben wurde. Dieter Remus behauptet jedoch, dass er sich irgendwann weigerte, den Anweisungen nachzukommen, und man ihm deshalb anhängt, das Baumaterial für das Wochenendhaus der Familie gestohlen zu haben.

1978 und 1984 kommen Olafs Schwestern Cornelia und Antje zur Welt. Olaf unterstützt seinen Vater bei den Bauarbeiten am Haus des Großvaters sowie an ihrem eigenen Wochenendhaus und lernt dadurch zeitig, tatkräftig mitanzupacken. Obwohl er nur durchschnittlich gute Noten erzielt, strebt er das Abitur an. Doch die EOS bleibt ihm verwehrt.

»Ein Kind von einem Ex-Knacki durfte keine Karriere machen, so kam es mir vor.«

Olaf nimmt also an einem dreijährigen Berufsschulprogramm teil, in dessen Rahmen er gleichzeitig den 10. Klasse-Abschluss nachholen und eine Lehre absolvieren kann. Seine Berufsausbildung als Zerspanungsmechaniker beginnt im September 1981 im VEB Kombinat Fortschritt Landmaschinen.

Auch wenn Olaf Mitglied in den gängigen DDR-Massenorganisationen ist, zeigt sich der 16-Jährige zunehmend als weltbeobachtender und kritischer Geist. Eine Rolle spielen Überlegungen zum Umgang mit Krieg und Frieden, bei denen er eine pazifistische Überzeugung vertritt. Es stößt ihm übel auf, dass sein Lehrbetrieb auch Rüstungsgüter für die Sowjetunion fertigt.

»Ich war grundsätzlich dagegen, mich daran zu beteiligen, Waffen zu bauen.«

Zu Beginn der 1980er Jahre entwickelt sich in der DDR mit Unterstützung der Kirche eine staatskritische und unabhängige Friedens- und Umweltbewegung, die regionale und überregionale Aktionen durchführt und dabei vom SED-Regime misstrauisch beobachtet wird. Das Erkennungszeichen der verschiedenen Friedensinitiativen ist die Darstellung eines Mannes, der ein Schwert zu einer Pflugschar umschmiedet.

Das Bild wird auf Vlies gedruckt und umgeht damit trickreich die nötige Druckgenehmigung seitens der DDR-Behörden. Schon bald verbreitet sich das Symbol der »Schwerter zu Pflugscharen«-Bewegung als Ausdrucksmittel oppositioneller Haltung massenhaft im ganzen Land und wird vor allem von jungen Friedensaktivisten als Aufnäher getragen.

Doch durch massive Repressionen gelingt es den Staatsorganen, das Symbol aus dem Straßenbild zu verdrängen. Schulen, Universitäten, Betriebe und die Volkspolizei nötigen die Jugendlichen teilweise gewaltsam, das Zeichen von ihrer Kleidung abzutrennen. Manche trotzen dem Verbot mit weißen Kreisen oder sogar einem Loch im Ärmel an jener Stelle, an der ihnen der Aufnäher aus der Jacke geschnitten wurde.

Auch Olaf näht sich das »Schwerter zu Pflugscharen«-Symbol an die Jacke und zeigt damit seine Einstellung in der Öffentlichkeit. Eines Tages wird der 16-Jährige von drei Männern in Begleitung des Schuldirektors aus dem Unterricht geholt. Man führt ihn in einen separaten Raum und verhört ihn, um herauszufinden, woher er den Aufnäher hat. Olaf erklärt ihnen, dass er das Symbol von einer Freundin bekommen hat, die aus kirchlichen Kreisen kommt. Die MfS-Beamten stellen ihn vor die Wahl, entweder das unerwünschte Zeichen sofort zu entfernen oder unmittelbar seine Lehrstelle zu verlieren. Widerwillig fügt Olaf sich.

»Ich verstand den ganzen Aufriss damals noch nicht. Ich glaubte nur an das Gute.«

Erst im Nachhinein erkennt Olaf die Tragweite seiner Aussage. In seinem Lehrbetrieb führt man bei ihm seitdem regelmäßige Spind-Kontrollen durch und auch sein Vater wird auf der Arbeitsstelle vom MfS aufgesucht. Besonders die Familie der Freundin, die ihm den Aufnäher gab, leidet unter der Überwachung und Verfolgung durch das MfS. Nach einer eingehenden Hausdurchsuchung und anhaltenden Repressionen sieht sich die Familie zur Übersiedlung in die Bundesrepublik gezwungen.

Schon seit Anfang der 1980er-Jahre versucht Olaf intensiv, sein musikalisches Hobby auszubauen. Gemeinsam mit einem Freund organisiert er Solidaritätsveranstaltungen und tritt als Schallplattenunterhalter in Discotheken auf. Olaf wechselt sogar zweimal den Arbeitsplatz, um eine Tätigkeit zu finden, die keinen Schichtdienst oder Montage-Einsätze fordert und ihm mehr Raum für sein Hobby lässt. Die Freunde investieren viel Zeit und Geld, doch das MfS stellt sich den Aktivitäten immer wieder in den Weg und verweigert die nötigen Spielgenehmigungen.

»Ich war gut in dem, was ich damals machte, konnte mir die Jobs aussuchen. Aber ich hatte immer die Stasi im Nacken sitzen.«

Mit 18 Jahren wird Olaf für den NVA-Grundwehrdienst gemustert. Man schlägt ihm »drei Jahre Urlaub an der Ostsee« vor, also den Wehrdienst als Matrose bei den Seestreitkräften der DDR. Eigentlich hat der junge Mann grundsätzlich keine Lust, den Militärdienst abzuleisten, scheut sich aber vor den sogenannten Baueinheiten, von denen er viel Schlechtes gehört hat.

Die Bausoldaten sind ebenfalls dem NVA-Regime untergeordnet, indem sie Uniform tragen, in Kasernen untergebracht sind und geloben müssen, den militärischen Vorgesetzten zu gehorchen. Ihre Arbeitsbedingungen bei Bauaufgaben, im Braunkohletagebau, in der chemischen Industrie, beim Gleisbau oder auch in der Krankenpflege sind oft unzumutbar.

Männer, die jegliche Form von Wehrdienst verweigern, müssen in der DDR hohe Haftstrafen fürchten. Bis 1985 werden jährlich etwa 150 Totalverweigerer zu einem Freiheitsentzug von 18 bis 22 Monaten verurteilt.

Olaf hat von vielen systemkritischen Personen gehört, die erst sehr spät, nach ihrer Familiengründung, zum Grundwehrdienst eingezogen wurden – eine Methode, um sie zu schikanieren. Olaf wünscht sich jedoch, Aufschub zu bekommen. Darum behauptet er der NVA gegenüber, er habe eine Freundin in Westberlin und stelle demnächst einen Ausreiseantrag.

Olaf nutzt mehrere solcher Schlupflöcher, um die gängige Bevormundung des SED-Staates zu umgehen. Er weiß, dass man mitunter bis zu vier Jahre auf die Möglichkeit warten muss, einen Führerschein zu machen, wenn man kein Mitglied der GST ist. Also kauft er sich erst ein altes, günstiges Auto und beantragt dann die Fahrerlaubnis. Auf diese Weise darf er schon innerhalb weniger Monate mit der Fahrschule beginnen und macht den Lkw-Führerschein gleich mit.

Doch die anhaltenden Schwierigkeiten, sich ein Leben nach seinen Bedürfnissen aufzubauen, motivieren Olaf dazu, am 1. November 1985 tatsächlich einen Ausreiseantrag beim Rat des Kreises Bautzen einzureichen.

»Ich merkte, ich kam hier nicht weiter, ich konnte mir nicht wirklich etwas schaffen, was mir Spaß machte. Ich sah für meine Zukunft keine Perspektive.«

In dem sogenannten Informationsgespräch, das unmittelbar vor Ort auf sein Übersiedlungsersuchen folgt, setzt man Olaf stark unter Druck. Aus Sicht der DDR-Behörden ist der Ausreiseantrag eine nicht akzeptable Absage an den propagierten »real existierenden Sozialismus«. Wer die Antragsstellung wagt, muss mit langwierigen und harten Schikanen auf persönlicher, familiärer und beruflicher Ebene rechnen. Auch wenn sich Antragsteller ab 1975 auf das zugesicherte Recht auf Freizügigkeit der von Erich Honecker unterzeichneten KSZE-Schlussakte von Helsinki berufen, werden sie als »rechtswidrige Übersiedlungsersucher« verunglimpft.

Der 19-Jährige muss schnell erkennen, dass er nicht allein die Konsequenzen der Antragstellung trägt. Olafs Vater, der in einer abteilungsleitenden Position arbeitet, wird gedroht, die Stelle könne er angesichts eines laufenden Ausreiseverfahrens seines Sohnes nicht länger ausüben. Der Wunsch von Olafs Schwester, nach dem Schulabschluss zu studieren, ist ebenfalls in Gefahr. Aus Rücksicht auf seine Familie zieht Olaf sein Ersuchen deshalb schon fünf Tage später zurück.

Niederschrift über ein Informationsgespräch Remus, Olaf

»Niederschrift über ein Informationsgespräch« beim Rat des Kreises Bautzen, 6. November 1985. Das Dokument fasst Olafs Motivation zur Antragstellung sowie zur fünf Tage später erfolgten Rücknahme des Übersiedlungsersuchens zusammen.

Im Laufe der nächsten zwei Jahre verlobt sich Olaf und wird Vater einer Tochter. Er hat eine Stelle als Kraftfahrer beim Kombinat Fortschritt Landmaschinen VEB Getriebewerk Kirschau, wo er mit Thomas, einem Freund aus der Lehrzeit, zusammenarbeitet. Als die beiden Freunde im Frühjahr 1988 einen gemeinsamen Urlaub besprechen, schlagen ihre Reisepläne spontan in die Vorbereitung der Republikflucht um.

»Ich sah als einzigen Ausweg, in den Westen zu gehen. Man lebt nur einmal und das Leben wollte ich lieber in Freiheit verbringen als eingesperrt.«

Keiner der beiden Freunde muss den anderen überreden – die Organisation der Flucht ist ein Selbstläufer. Die 22-Jährigen studieren Kartenmaterial und buchen eine Touristen-Urlaubsreise nach Bulgarien. Ihr Plan sieht vor, in Bulgarien die Staatsgrenze nach Griechenland zu passieren und anschließend die bundesrepublikanische Botschaft in Athen aufzusuchen. Olaf und Thomas lösen sogar Rückfahrtkarten, um keinen Verdacht zu erregen.

Seine Verlobte warnt Olaf weder vor, noch weiht er sie in sein Vorhaben ein, um sie vor den Konsequenzen einer Mitwisserschaft zu schützen. Er behauptet stattdessen sogar, zu einem Motorradrennen in die Tschechoslowakei zu fahren.

»Ich war sehr verliebt und zu 110 Prozent sicher, dass meine Verlobte zu mir in den Westen nachkommt. Hätte ich vorher gewusst, dass es anders kommt, hätte ichs wahrscheinlich nicht gemacht.«

Am 25. März 1988 beginnen die beiden Freunde ihren als Urlaubsreise getarnten Fluchtversuch mit der Zugfahrt nach Berlin, wo sie auf ihre Reisegruppe treffen und am darauffolgenden Tag nach Sofia fliegen.

In ihrem Urlaubshotel kommen sie mit bundesdeutschen Touristen ins Gespräch. Weil es ihnen gelingt, Informationen über die Bewachungsdichte der Grenzanlagen zu erhalten, werfen Olaf und Thomas ihre Pläne kurzfristig um. Ursprünglich wollten sie in Blagoewgrad die Staatsgrenze zu Griechenland überqueren. Nun möchten sie bei Swilengrad im Dreiländereck von Bulgarien, Griechenland und der Türkei den illegalen Grenzübertritt wagen, da dieser Abschnitt weniger bewacht sein soll.

»Naiv, wie wir waren, dachten wir, dass wir da eine Chance hätten. Hinterher erfuhren wir, dass die Karten so gemacht waren, dass du irgendwo in eine Falle liefst.«

Am 27. März verlassen die beiden jungen Männer ihre Reisegruppe und unternehmen eine Stadtrundfahrt mit einem Taxi. Sie können ihren Fahrer dazu überreden, sie für die Summe von 300 Mark noch am gleichen Abend in das gewünschte Gebiet zu befördern. Am Abend holt der Mann Olaf und Thomas mit seinem Privatauto vom Hotel ab und fährt in Richtung griechische Grenze.

Gegen Mitternacht erreicht das Fahrzeug das Grenzgebiet und wird von einem bulgarischen Kontrollposten angehalten. Da Olaf und sein Freund keine Genehmigung besitzen, die Sperrzone zu betreten, weist man ihre Weiterfahrt ab. Die beiden Männer lassen sich von ihrem Fahrer etwa einen Kilometer zurückbringen, steigen aus dem Wagen aus und setzen ihren Weg zu Fuß fort. Sie klettern über einen Zaun, laufen über ein großes Feld und folgen dann einer Eisenbahnlinie, die an einem Fluss entlang verläuft.

Der Fluchtversuch scheitert. Um 00:45 Uhr am 28. März 1988 werden Olaf und Thomas an einer Eisenbahnbrücke von bulgarischen Grenzsicherungskräften festgenommen. Die Beamten sind in hellem Aufruhr. Mit ihren Maschinenpistolen bedrohen sie die jungen Männer und wollen mit Prügel aus ihnen herauspressen, wie sie es geschafft haben, über das Feld zu gelangen, das sich als drei Kilometer breiter Minenstreifen entpuppt.

Zunächst werden Olaf und Thomas mehrere Tage lang in der Nähe des Fluchtorts inhaftiert. Die Freunde zeigen sich reumütig und gestehen ihre Tat sofort, trotzdem werden sie von den bulgarischen Beamten außerordentlich schlecht behandelt.

»Die schmissen uns bei Schneeregen in Pfützen auf dem Hof und ließen uns stundenlang liegen. Sie sperrten uns auch tagelang in eine Zelle. Es gab keine Möglichkeit, außer in eine alte Flasche zu pinkeln und es aus dem Fenster zu kippen.«

Mit angelegten Handschellen bringt man Olaf und seinen Freund anschließend per Zug in ein Gefängnis in Sofia, wo sie bis zu ihrer Überführung in die DDR für knapp vier Wochen in Gewahrsam bleiben. Olaf wird von seinem Freund getrennt und teilt die Zelle mit einem Mann, der zum Tode verurteilt ist.

Die Zustände der Unterbringung sind menschenunwürdig. Das einzige Inventar ist eine schwache Glühbirne, ein Holzpodest, ein Strohsack und ein Kübel für die Notdurft, der einmal täglich geleert wird.

»Ich wog vor der Inhaftierung 78 Kilo und danach 54. Wasser und Brot und nur Hunger, Hunger, Hunger. Skorbut gekriegt, die Zähne alle lose.«

Am 20. April 1988 werden die beiden Häftlinge an das MfS übergeben, mit deren Mitarbeitern sie die Rückreise nach Berlin antreten. Während sie auf dem Hinflug in einer klapprigen Propellermaschine saßen, der man ansah, dass die Motoren hin und wieder brannten, erfolgt der Rückflug in einer modernen großen Düsenmaschine, die insgesamt mit nur drei Gefangenen und etwa zehn Bewachern besetzt ist. Die Stasi-Beamten bringen Olaf in ein Berliner Gefängnis, wo sie ihn erneut verhören.

Olafs Haftunterlagen belegen, dass sein Ermittlungsverfahren am 25. April 1988 mit der Begründung, es falle nicht in den Zuständigkeitsbereich des MfS, an die Bezirksbehörden der Deutschen Volkspolizei Dresden, Dezernat II, und damit in den Verantwortungsbereich des MdI übergeben wird. Die Gründe für dieses Vorgehen sind anhand des vorliegenden Aktenmaterials nicht nachvollziehbar.

Am 26. April 1988 wird Olaf dennoch in eine Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit eingeliefert. In dem Gebäudekomplex der Bautzner Straße am Dresdner Elbhang unterhält das MfS seit 1953 einen Standort für die Verwaltung des Bezirkes Dresden und die dazugehörige Untersuchungshaftanstalt. Es nutzt das Gelände damit in direkter Nachfolge des NKWD/MWD. In dem vierstöckigen Hafthaus sitzen bis 1989 zwischen 12.000 und 15.000 DDR-Bürger in MfS-Untersuchungshaft.

Bis zu seiner Verurteilung ist Olaf für etwa anderthalb Monate den zermürbenden Haftbedingungen der DDR-Untersuchungshaft ausgesetzt. Er wird in seiner Einzelzelle isoliert, ohne Brieferlaubnis, ohne Besuche. Im halbstündlichen Rhythmus wird das Licht angeschaltet, weshalb Olaf nach spätestens drei Tagen jegliches Zeitgefühl verliert. Nur im Freigang auf dem Gefängnishof erkennt er, dass Tag sein muss.

Hofgang bedeutet den sogenannten Tigerkäfig, einen oben vergitterten Betonverschlag, auf dessen übermannshohen Mauern Wachposten patrouillieren. Ein solches Abteil misst nur wenige Quadratmeter zum Auf- und Abgehen, verspricht aber dennoch eine gewisse Abwechslung zum starren Verharren in der Gefängniszelle.

Während der Nachtruhe ist Olaf gezwungen, auf dem Rücken zu liegen und seine Hände auf der Decke zu haben. Das Schlafen auf der Seite ist den Häftlingen nicht erlaubt.

Man beraubt die Inhaftierten ihrer Identität. Nur unter der Häftlingsnummer wird Olaf in der UHA angesprochen, wenn er zur Vernehmung gerufen wird – sein Name spielt keine Rolle mehr. Olaf gibt in den Verhören zu, die Flucht zu bereuen, doch die Vernehmer teilen ihm mit, dass dies keine Rolle spiele, er gehe ohnehin erstmal für ein paar Jahre in den Knast. Die Ermittlungsmethoden der Beamten ziehen ihre Kreise auch außerhalb der Dresdener Gefängnismauern.

»Sie setzten meine Verlobte unter Druck, riefen bei ihrer Ausbildungsstelle an, bestellten sie und terrorisierten sie, bis sie sich letzten Endes von mir distanzierte.«

Am 12. Mai 1988 überführt man Olaf in die Justizvollzugsanstalt Görlitz, wo er die Zeit bis zu seiner bevorstehenden Gerichtsverhandlung absitzt. Der Gebäudekomplex des ehemaligen Gerichtsgefängnisses befindet sich hinter dem Amts- und Landgericht am Postplatz in der Innenstadt. Hier trifft Olaf beim Freigang auf dem Gefängnishof zum ersten Mal wieder auf seinen Freund Thomas.

Auswertungsbericht Olaf Remus

Auswertungsbericht der Bezirksbehörde der DVP Dresden, Kriminalpolizei, Außenstelle Görlitz, 24. Mai 1988. Der vierseitige Bericht beschreibt den Tathergang und die Gründe der versuchten Republikflucht. Olafs Persönlichkeit wird positiv dargestellt und seine Motivation zur Flucht mit der Beeinflussung »durch Gespräche und die Massenmedien der BRD« erklärt.

Auch in Görlitz finden weitere Vernehmungen statt, in denen Olaf wiederholt ankündigt, auch nach der Verbüßung seiner bevorstehenden Haftstrafe einen Antrag auf Ausreise aus der DDR stellen zu wollen.

»Ich hatte in der U-Haft schon so einen Hass auf den Staat entwickelt.«

Während der Untersuchungshaft teilt Olaf gelegentlich die Zelle mit Gefangenen, bei denen er sich allerdings nie sicher sein kann, ob sie zur Bespitzelung angehalten wurden und deshalb mit seinen Äußerungen Vorsicht walten lässt.

Dennoch zieht er einen Vorteil daraus, denn von einem der Zellengenossen erfährt er von dem DDR-Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, der als offizieller »Beauftragter der DDR für humanitäre Fragen« eine zentrale Rolle beim sogenannten Häftlingsfreikauf spielt und maßgeblich bei der Ausreise von über 215.000 DDR-Bürgern im Wege der Familienzusammenführung mitwirkt. Olaf kontaktiert den Juristen und bekommt den Rechtsanwalt Maiwald, einen Vertreter aus Dresden, für seinen Prozess zur Seite gestellt.

»Der vertrat mich und sagte: ›Alles bis zwei Jahre unterschreibst du, weil nach der Verurteilung kann ich dich an den Westen freikaufen lassen.‹ Also unterschrieb ich das Urteil.«

Am 13. Juni 1988 erfolgt der Prozess, in dem die beiden Freunde durch die Strafkammer des Kreisgerichts Bautzen wegen versuchten ungesetzlichen Grenzübertritts im schweren Fall angeklagt werden. Da unter den beiden Männern kein Rädelsführer auszumachen ist, erhalten sie dasselbe Strafmaß von einem Jahr und zehn Monaten Freiheitsentzug nach Paragraf 213 Absatz 2,3 Ziffer 5 und Absatz 4, 21 Absatz 3, 22 Absatz 2 Ziffer 2 des StGB der DDR.

Das Urteil formuliert: »Die Intensität der Handlung wird auch dadurch geprägt, daß sie eine Reisebüroreise in die VR Bulgarien hierzu ausnutzten und die Staatsgrenze nach Griechenland überschreiten wollten. Mit dieser Handlung griffen sie widerrechtlich die Souveränität der DDR an.« Die Strafbarkeit der Republikflucht im DDR-Strafrecht steht damit im krassen Widerspruch zum Artikel 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN, welche das Recht auf Freizügigkeit und Auswanderung jedes Menschen garantiert.

Olafs Freund wird nach der Verurteilung zur Haftarbeit in das Stahlwerk nach Zeithain gebracht. Olaf dagegen durchläuft für zwei Tage die Strafvollzugsanstalt Cottbus und für etwa zwei Wochen das Strafvollzugskommando Schwarze Pumpe.

»Als ich in Schwarze Pumpe ankam, lief es mir kalt den Rücken runter. Das war ja im Prinzip aufgebaut wie Buchenwald.«

Im Strafvollzugskommando Schwarze Pumpe werden die Strafgefangenen vorwiegend im Braunkohlenkombinat und den Tagebauen zur Haftarbeit eingesetzt. Olaf ist aber der Küche zugeteilt und muss den ganzen Tag in einem dunklen Keller Kartoffeln schälen.

»Die Baracken waren direkt neben den Kühltürmen dieses Kohlekraftwerks. Die Fenster waren undicht und morgens war der ganze Boden gelb vom Schwefel. Die ganze Gegend dort war unheimlich ätzend.«

Protokoll Aufnahmegespräch Olaf Remus

Protokoll über das Aufnahmegespräch in der StVE Schwarze Pumpe, 8. Juli 1988. Das Dokument behauptet, Olaf lebe »teilweise in einer Wunschwelt« und ordnet seine Vorstellungen von einer persönlich erfüllenden Lebensweise in der Bundesrepublik als absurd und realitätsfern ein. Der Verfasser warnt außerdem, dass »ein erneutes illegales Verlassen nicht auszuschließen« sei.

Am 12. Juli 1988 wird Olaf schließlich in die Strafvollzugseinrichtung Luckau eingeliefert, dessen Hafthaus sich in einer historischen Klosterkirche befindet. Hier verbüßen sowohl politisch Verurteilte ihre Freiheitsstrafen als auch kriminelle Gefangene, die wegen Körperverletzung oder Tötungsdelikten verurteilt wurden. Zu zwölft belegt man eine Gemeinschaftszelle.

Auf der Etage, die Olaf bewohnt, sind knapp 70 Häftlinge untergebracht, davon lediglich sechs »Politische«. Olaf erlebt, wie ehemalige Strafgefangene durch anhaltende politische Verfolgung und strategische Repressionen in die erneute Straffälligkeit geraten.

»Wenn sie gegen irgendeine Bewährungsauflage verstießen, bekamen sie grundsätzlich wieder ein Jahr. Ich traf da viele, die das erste Mal wegen was Politischem drin waren und dann so kriminalisiert wurden.«

Es ist auffällig, dass Olaf und die anderen politisch Verurteilten während des Strafvollzugs in Luckau deutlich strenger behandelt und sogar zielgerichtet Schikanen ausgesetzt werden. Solche Quälereien werden nicht nur durch die Strafvollzugsbeamten selbst durchgeführt. Das Wachpersonal befördert die Auseinandersetzungen unter den Häftlingen regelrecht.

»Die gaben Kriminellen Geld, damit sie die Politischen verprügelten und denen die Sachen wegnahmen.«

Unter den Häftlingen herrscht das »Wolfsgesetz«: fressen oder gefressen werden. Olaf muss sich zur Wehr setzen. Als er das erste Mal angegriffen wird, schlägt er zurück und bricht dem Mithäftling Nase und Kiefer. Damit handelt er sich zwar eine Arreststrafe, aber auch den Respekt der Mithäftlinge ein.

»Dann hatten die anderen Angst vor mir und ließen mich in Ruhe.«

Wie in allen DDR-Haftanstalten setzt man auch die Luckauer Strafgefangenen zur Arbeit ein, die hier vorwiegend in den Sparten Möbeltischlerei, Schlosserei oder in der Fertigung von Maschinenkleinteilen erfolgt. In einer Schneiderei werden die Watteanzüge der NVA produziert.

Unter den Häftlingen munkelt man, die in Fließbandarbeit gefertigten Antriebsmotoren und Laugenpumpen für Waschmaschinen würden an die westdeutsche Haushaltsgeräte-Firma Miele geliefert. Olaf steht diesem Gerücht skeptisch gegenüber, da er an seinen positiven Vorstellungen von der Bundesrepublik festhält.

»Später in der Bundesrepublik stellte ich eine Miele-Maschine auf den Kopf. Es war so.«

Die Haftzwangsarbeit fordert den Strafgefangenen ein enorm hohes Tagespensum ab. Gleichzeitig fehlt jeglicher Arbeitsschutz. Die oftmals unzumutbaren Bedingungen gehen auf Kosten der Gesundheit. Olaf verbringt den ganzen Tag ungeschützt in giftigen Lötdämpfen.

Wieder macht er zudem die Erfahrung, dass sein Hunger nie gestillt werden kann. Die StVE versorgt ihre Gefangenen nur mit unzureichenden Mengen Nahrung in minderwertiger Qualität. In den Arreststrafen wird ihm teilweise zwölf Stunden lang die Verpflegung verwehrt. Olaf beobachtet, dass die kriminellen Strafgefangenen hingegen sogar mit einer Bockwurst und einem Beutel Tee für ihre Samstagsarbeit entlohnt werden.

Als Olaf gegen die Wochenendarbeit aufbegehrt, bringt ihm das Strafen und Schikanen durch das Wachpersonal der Strafvollzugseinrichtung ein. Nach dem Putzen der Toiletten trägt man ihm auf, mehrere Stunden lang die Traditionszelle von Karl Liebknecht zu putzen. Der museale Raum ist stets abgeschlossen und quasi staubfrei, was Olaf dazu verleitet, sich nach der in kürzester Zeit getanen Arbeit auf das Bett zu legen, wo er einschläft und von den Wachhabenden ertappt wird.

»Daraufhin machten sie mich mit Handschellen an einer Leitung fest und verprügelten mich mit Holzknüppeln. Dabei brachen sie mir einen Finger.«

Olaf befürchtet, dass die Verletzung seine Chancen auf den Freikauf mindert – die DDR möchte doch sicher keine Beweise für ihre Misshandlungen in den Westen liefern. Aus diesem Grund verschweigt er seinen Knochenbruch. Der Finger wächst unbehandelt krumm zusammen.

Ein Beurteilungsbogen aus Olafs Haftakte erwähnt auch weder diesen Zwischenfall, noch dokumentiert sie die Arreststrafen. Das handschriftliche Dokument beinhaltet stattdessen mehrere lobende Beurteilungen, unter anderem im Eintrag vom 28. September 1988: »Das Gesamtverhalten des SG ist unauffällig. Er erbringt eine gute Arbeitsleistung und verhält sich diszipliniert u. bescheiden.«

Die Haftzeit macht Olaf zum Zeugen der perfiden Zersetzungsstrategien des DDR-Strafvollzugsystems, die auf das Erzwingen von Ordnung, Gehorsam und politischem Wohlverhalten abzielen. Gängige Spielbälle dieser Erziehungsmethoden sind die Bücher-, Schreib- und Besuchserlaubnisse der Strafgefangenen. In einem Brief an die Familie schreibt der 22-Jährige, dass er die Bibel lese und große Kraft daraus ziehe. Kurze Zeit darauf wird ihm die Heilige Schrift weggenommen. Auf seinen Protest hin erfolgt die Drohung, ihn wieder zurück in das Strafvollzugskommando Schwarze Pumpe zu verlegen.

»Also verzichtete ich und stieg auf Schiller und Goethe um. In Luckau wars schon hart, die setzten mich dort richtig unter Druck.«

Olafs Mutter besucht ihn während der Untersuchungshaft in Görlitz und im Strafvollzug in Luckau je einmal. Zwar beantragt Olaf weitere Zusammenkünfte, doch sie werden ihm auf perfide Art und Weise versagt: Er erlebt, wie die Häftlinge gemeinsam in einem Raum darauf warten, zu ihren Angehörigen im angrenzenden Besuchsraum geführt zu werden. Als sich die Türen öffnen, dürfen die Kriminellen zu ihren Besuchern. Er und die anderen politisch Verurteilten hingegen bringt man wieder zurück in die Zellen, obwohl sie den Blick auf ihre wartenden Angehörigen erhaschen können.

»Und so schafften die es, mich nervlich so fertigzumachen, dass ich mir sagte, falls du Weihnachten noch hier drin bist, nimmst du dem Schließer die Pistole weg und läufst Amok.«

Schon kurz nach seiner Einlieferung, am 23. Juli 1988, stellt Olaf aus der StVE Luckau heraus einen neuen Antrag auf Übersiedlung in die Bundesrepublik. Die Ausreise wird dieses Mal sogar befördert, indem Olaf zum Etagenoffizier gerufen und dort angewiesen wird, das Schreiben formlos und handschriftlich zu formulieren.

Er ahnt seitdem, dass sein Freikauf in Planung ist. Eine Hoffnung, an die er sich mehrere Monate lang optimistisch klammert. Täglich fiebert Olaf daraufhin, seinen Namen zu hören, wenn die Häftlinge aufgerufen werden, die verlegt werden sollen. Tatsächlich werden im August mögliche Versagungsgründe des Freikaufs geprüft und die Kreisdienststelle Bautzen stimmt der Übersiedlung zu. Als Olaf beim morgendlichen Zählappell dann die Aufforderung erhält, seine Sachen zu packen, ist er so überwältigt, dass ihm die Beine wegsacken.

Eigentlich ist das Ende seiner Haftstrafe für den 27. Januar 1990 vorgesehen, nun wird Olaf vorzeitig in die Freiheit entlassen. Man bringt ihn am 18. Oktober 1988 in die StVE Berlin Rummelsburg und verlegt ihn anschließend in die Untersuchungshaftanstalt der Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt, dem heutigen Chemnitz.

Seit Mitte der 1960er Jahre wickelt das MfS die Entlassung der freigekauften Häftlinge über die Untersuchungshaftanstalt auf dem Kaßberg ab. Der Standort bietet sich aufgrund seiner Größe und der Nähe zu Westdeutschland an. Fast 90 Prozent der Häftlinge gelangen vom B-Block der UHA aus ins hessische Notaufnahmelager. Mit Bezug auf den zentralen DDR-Unterhändler und Rechtsanwalt Wolfgang Vogel bezeichnen sie das Kaßberg-Gefängnis als »Vogelkäfig«. Vor ihrer Ausreise werden die Strafgefangenen mit vitamin- und kohlenhydratreicher Kost aufgepäppelt.

»Ich sah die Tasche von meinem Mittäter am Geländer hängen. Nachts rief ich: ›Thomas!‹ Vier Mann antworteten: ›Ja!‹ Da wusste ich, dass er auch da war.«

Der Freikauf politischer Häftlinge aus DDR-Gefängnissen durch die Regierung der Bundesrepublik ist in seiner Qualität historisch einzigartig. Von 1963 bis 1989 reisen auf diesem Wege über 33.700 Menschen aus der DDR aus. Die DDR-Führung profitiert von dem inoffiziellen Geschäft mit freigekauften Häftlingen und rund 215.000 Familienzusammenführungen anfangs mit Bargeld und später mit Warenlieferungen im Wert von insgesamt rund 3,4 Milliarden D-Mark. Nebenbei verspricht sie sich mit der Abschiebung politischer Gegner eine Schwächung ihrer Opposition.

Die Bundesrepublik, nach deren Rechtsauffassung die DDR-Bürger deutsche Staatsangehörige sind und deshalb moralisch und rechtlich ihren Schutz verdienen, bezahlt einen Pauschalpreis, der 1964 pro Person 40.000 D-Mark und seit 1979 circa 96.000 D-Mark beträgt.

Olafs Ausreise ist an mehrere Bedingungen geknüpft, mit denen er sich einverstanden erklären muss. Die DDR-Staatsbürgerschaft wird ihm aberkannt und er erhält eine Einreisesperre in die DDR. Außerdem verpflichtet er sich zur Zahlung von Unterhalt für sein uneheliches Kind und muss die Unterschrift leisten, von Klagen gegen den SED-Staat abzusehen. Dann bekommt er eine Identitätsbescheinigung ausgehändigt und tritt am 3. November 1988 seine Fahrt in die Freiheit an.

»In den Siebzigern ging es ja mit Bussen nach dem Westen. Ich musste selbst die Fahrkarte kaufen und wurde von der Stasi in Chemnitz auf den Bahnhof gebracht.«

Zugticket Olaf Remus

Olafs Ticket in die Freiheit. Die Fahrkarte der Deutschen Reichsbahn wird am 26. Oktober 1988 ausgestellt.

Über einen Umstieg in Leipzig gelang Olaf nach Gießen. In dem Übergangslager südwestlich des Bahnhofs erhalten die ehemaligen Häftlinge Orientierungshilfen für die ersten Wochen in der Bundesrepublik. Für Olaf und seinen Freund Thomas ist klar, dass sie den Neuanfang gemeinsam angehen möchten. Sie wählen Wuppertal als ihre neue Heimatstadt aus.

Übergangsweise werden sie deshalb im Durchgangswohnheim Unna-Massen einquartiert. Olaf bezieht ein Mehrbettzimmer mit einer Gruppe polnischer Staatsangehöriger, mit denen er negative Erfahrungen macht. Besonders bitter ist es, die Bewegungsfreiheit der Polen mitanzusehen, da Olaf zu diesem Zeitpunkt davon ausgeht, nie wieder die Möglichkeit zu haben, nach Hause zu fahren. Schließlich zieht er in das Zimmer seines Freundes um.

Dank der Unterstützung der bundesdeutschen Ämter kann er bald darauf in seine erste eigene Wohnung ziehen und einen Hausstand anschaffen. Beim Beantragen von staatlicher Hilfe berät ihn die Vereinigung der Opfer des Stalinismus e.V. Der Opferverband lädt die ehemaligen Häftlinge außerdem zu Eingliederungsseminaren ins Konrad-Adenauer-Haus nach Bonn ein. Hier erfährt Olaf durch die damalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth Details über seinen Freikauf, für den die DDR Rohöl und Industriediamanten erhielt.

»Pro Freigekauftem waren in meinem Jahr 360.000 D-Mark vereinbart. Das ist ein gewaltiger Stückpreis. Und da fühlte ich mich auch in der Schuld. Hätten sie ja nicht machen müssen.«

Die moralische Last wiegt schwer auf Olafs Schultern. Er hat das dringende Bedürfnis, seinen Freikauf wiedergutmachen zu müssen. So möchte er dem Staat mit dem Berufsdienst in der Bundeswehr Dank zeigen, doch seine Bewerbung wird abgelehnt.

Über den Anwalt schicken Olafs Eltern ihm die Zeugnisse zu, sodass er seinen Berufsabschluss nun offiziell anerkennen lassen kann und nach einem Vierteiljahr eine Arbeitsstelle als Kraftfahrer findet, die ihn regelmäßig durch Europa führt. Olaf ist erleichtert über die Chance, endlich wieder aktiv zu sein und sich auch von dem Gedankenkarussell abzulenken, das sich ständig um die Familie dreht, die er in der DDR zurücklassen musste.

Das Zurechtfinden in der neuen Heimat nimmt allerdings Zeit in Anspruch. Olaf tritt in jedes Fettnäpfchen. Doch auch die Freude über seine erfüllten Erwartungen überwältigt ihn.

»Das erste halbe Jahr musste ich erstmal damit zurechtkommen, wie schön es sein kann. Ich hatte ein Dankbarkeitsgefühl.«

Nur knapp ein Jahr nach Olafs Übersiedlung bereiten die massenhaft und friedlich protestierenden DDR-Bürger den Anfang des Prozesses der deutschen Wiedervereinigung. Olaf, der sich wegen eines Auftrags gerade für drei Wochen in Norwegen befindet, verpasst die legendäre Nacht des 9. November 1989.

Skeptisch rechnet er noch eine ganze Weile damit, die DDR würde ihre Grenzen wieder schließen. Doch tatsächlich kann er zu Weihnachten seine Familie in Bautzen besuchen. Er sieht auch seine damalige Verlobte wieder, die sich jedoch für einen neuen Partner entschieden hat und den Kontakt zum gemeinsamen Kind unterbindet.

»In den Neunzigern hatte man als unverheirateter Vater noch überhaupt keine Rechte.«

Anfang des Jahres 1993 entscheidet sich Olaf dazu, in die neuen Bundesländer zurückzukehren. Er möchte vor Ort seine noch schulpflichtigen Schwestern unterstützen, da die Familie aufgrund der Trennung der Eltern und der erneuten Erkrankung seiner Mutter in einer wirtschaftlich schlechten Lage ist.

Zum Zeitpunkt des Umzugs wird das Einstellungsversprechen als Pkw-Fahrer beim Sächsischen Staatsministerium des Innern zurückgezogen. Olaf muss sich arbeitslos melden und ist überrascht, als er auf den Bautzener Behörden und Ämtern Mitarbeitern begegnet, die 1985 im Rat des Kreises seinen Ausreiseantrag bearbeiteten.

»Im Osten weiß man nie, wo man sich hinbewegt. Der auf dem Arbeitsamt sitzt, der Stasi-Mann, gibt dir keine Arbeit. Der auf der Sparkasse sitzt, kündigt deinen Hauskredit. Und schon nehmen sie dir alles weg.«

Im Beruf des Zerspanungsmechanikers, zu dem Olaf in der Bundesrepublik umgeschult hatte, findet er keine neue Stelle, also verfolgt er einen schon seit dem frühen Erwachsenenalter gehegten Berufswunsch. Im Alter von 30 Jahren lässt er sich zum Rettungssanitäter ausbilden, absolviert sein Staatsexamen und arbeitet anschließend mehrere Jahre als Rettungsassistent. In Bautzen gründet Olaf nun auch eine Familie. Er heiratet und bekommt zwei Kinder.

2004 fällt er jedoch in die erneute Arbeitslosigkeit. Die Suche nach einer neuen Arbeitsstelle stellt Olaf vor Herausforderungen. Auf dem Arbeitsamt erfährt er durch eine Beamtin wiederholt Benachteiligungen und Schikanen: seine Daten auf der Arbeitgeberplattform werden gelöscht, Fort- und Weiterbildungen verwehrt, Stellenangebote lediglich in den alten Bundesländern angeboten. Olaf identifiziert die Frau als jene ehemalige Stasi-Mitarbeiterin, welche ihm damals die Auftritte als Schallplattenunterhalter unterband.

»Die sagten mir offen in Zweiergesprächen: ›Solange wir hier sitzen, kriegen Sie hier nix.‹«

Olaf bewirbt sich nun europaweit. Als er eine Stelle in Nordrhein-Westfalen annimmt, sagen ihm die Mitarbeiter: »Das mit Ihrer Übersiedlung kriegen wir schon hin.« Der Umzug wird Olaf anstandslos finanziert. Mit einem bitteren Nachgeschmack und dem Gefühl, aus dem Osten mehrmals vertrieben worden zu sein, zieht er mit seiner Familie 2005 ins Münsterland.

Der wiederholte Neustart ist nicht leicht, vor allem, da seine Frau als Erzieherin Schwierigkeiten hat eine neue Anstellung zu finden. Dennoch erhofft sich Olaf von dem Umzug, dass seine Kinder hier in der Schule und dem Kindergarten keinen Benachteiligungen ausgesetzt sind.

Die Familie bleibt in Nordrhein-Westfalen, bis der Sohn 2016 eine Lehre beginnt. Dann kehren sie zurück nach Sachsen und siedeln sich in Leipzig an, von wo aus Olaf die Möglichkeit hat, sich mehr um seine Mutter zu kümmern, die zu dieser Zeit noch in Bautzen lebt.

Durch Olafs mehrfache Ortswechsel nimmt der bürokratische Aufwand bezüglich der sogenannten Opferpension, die er als ehemaliger politischer Häftling der SED-Diktatur nach Paragraf 17 StrRehaG seit 2007 bezieht, immense Ausmaße an.

»Ich fühlte mich so überwacht, musste permanent meine Finanzen offenlegen. Und ich fühlte mich immer als Bittsteller, das war mehr Qual als alles andere. Aber ich war auf das Geld angewiesen.«

Seit seinem Umzug nach Leipzig und einem erneuten Jobwechsel, wegen dem er die vorgegebene Einkommensgrenze knapp überschreitet, hat Olaf keinen Anspruch mehr auf die monatliche Zuwendung in Höhe von 330 Euro.

Voraussetzung für den Bezug der Kapitalentschädigung ist Olafs strafrechtliche Rehabilitierung, die bereits 1995 erfolgt ist. Zweimal beantragt er die Akteneinsicht bei der BStU. Während die aufgefundenen Unterlagen ab dem Tag seiner Verhaftung teilweise dreifach kopiert vorliegen, ist das Material, das aus der Zeit der Überwachung nach dem Ausreiseantrag 1985 stammt, nur spärlich.

Die Anerkennung seiner gesundheitlichen Haftschäden – insbesondere der körperlichen – ist Olaf bis heute nicht zu seiner Zufriedenstellung gelungen. Nach seiner Ausreise in die Bundesrepublik 1988 lässt er den schief verheilten Finger neu brechen und richten, doch es ist ihm im Nachhinein nicht mehr möglich, die Ursache der Verletzung nachzuweisen.

Im Rahmen des Prüfungsverfahrens durch die bundesdeutschen Behörden konsultiert Olaf mehrere Ärzte. Anhand der verschiedenen Gutachten erkennt ihm das Amt für Familie und Soziales letztendlich psychovegetative Störungen, jedoch keine physischen Folgeschäden an.

»Seit der Arbeit in den Lötgasen hab ich immer Kopfschmerzen. Ich hab auch immer diese Flashbacks. Ich wache nachts auf, bin schweißgebadet, hab Momente, wo ich so mittendrin bin, hab auch schon nachts um mich geschlagen.«

Bislang ist Olaf die Traumatisierung, die durch die politische Verfolgung und Inhaftierung verursacht worden ist, nicht therapeutisch angegangen. Vor allem, um für seine Familie da zu sein und die Kinder nicht darunter leiden zu lassen, zwingt er sich jahrelang dazu, zu funktionieren. Doch die juristischen Regelungen und die Ablehnung seiner Widerspruchsschreiben ernüchtern und enttäuschen Olaf nachhaltig.

»Friedliche Revolution – alles gut und schön. Aber die Täter wurden halt besser versorgt als die Opfer.«

»Ich sah für meine Zukunft keine Perspektive in der DDR.«

Olaf Remus kommt am 19. Juli 1966 in Bautzen zu Welt. Seine Mutter Brigitta ist Konditormeisterin, sein Vater Dieter arbeitet bei einer Firma für Sprengtechnik im Montage-Einsatz und ist in der Regel nur am Wochenende zu Hause. Der gelernte Polsterer verdient sich etwas Einkommen hinzu, indem er die Sofas von Freunden und Bekannten aufarbeitet.

Aufgrund des hohen Arbeitspensums seiner Eltern verbringt Olaf seine frühe Kindheit vorwiegend bei den Großeltern, die einen kleinen Bauernhof besitzen. 1970 wird seine erste Schwester Constanze geboren.

Als Olaf in die Schule kommt, beginnt eine schwierige Zeit für die Familie. Seine Mutter leidet durch ihre körperlich schwere Arbeit unter massiven Rückenproblemen und muss sich einer Operation unterziehen, die leider fehlschlägt. Ihr gelähmtes Bein sorgt für etliche Monate im Krankenhaus und anschließende Kur-Aufenthalte.

Zeitgleich muss Dieter Remus eine dreijährige Haftstrafe absitzen. Er berichtet seinem Sohn, als Jugendlicher bei illegalen Tauschgeschäften mit Waren aus Westberlin erwischt und daraufhin erpresst worden zu sein. Olaf ist nicht bekannt, für welche Organisation sein Vater als Spitzel angeworben wurde. Dieter Remus behauptet jedoch, dass er sich irgendwann weigerte, den Anweisungen nachzukommen, und man ihm deshalb anhängt, das Baumaterial für das Wochenendhaus der Familie gestohlen zu haben.

1978 und 1984 kommen Olafs Schwestern Cornelia und Antje zur Welt. Olaf unterstützt seinen Vater bei den Bauarbeiten am Haus des Großvaters sowie an ihrem eigenen Wochenendhaus und lernt dadurch zeitig, tatkräftig mitanzupacken. Obwohl er nur durchschnittlich gute Noten erzielt, strebt er das Abitur an. Doch die EOS bleibt ihm verwehrt.

»Ein Kind von einem Ex-Knacki durfte keine Karriere machen, so kam es mir vor.«

Olaf nimmt also an einem dreijährigen Berufsschulprogramm teil, in dessen Rahmen er gleichzeitig den 10. Klasse-Abschluss nachholen und eine Lehre absolvieren kann. Seine Berufsausbildung als Zerspanungsmechaniker beginnt im September 1981 im VEB Kombinat Fortschritt Landmaschinen.

Auch wenn Olaf Mitglied in den gängigen DDR-Massenorganisationen ist, zeigt sich der 16-Jährige zunehmend als weltbeobachtender und kritischer Geist. Eine Rolle spielen Überlegungen zum Umgang mit Krieg und Frieden, bei denen er eine pazifistische Überzeugung vertritt. Es stößt ihm übel auf, dass sein Lehrbetrieb auch Rüstungsgüter für die Sowjetunion fertigt.

»Ich war grundsätzlich dagegen, mich daran zu beteiligen, Waffen zu bauen.«

Zu Beginn der 1980er Jahre entwickelt sich in der DDR mit Unterstützung der Kirche eine staatskritische und unabhängige Friedens- und Umweltbewegung, die regionale und überregionale Aktionen durchführt und dabei vom SED-Regime misstrauisch beobachtet wird. Das Erkennungszeichen der verschiedenen Friedensinitiativen ist die Darstellung eines Mannes, der ein Schwert zu einer Pflugschar umschmiedet.

Das Bild wird auf Vlies gedruckt und umgeht damit trickreich die nötige Druckgenehmigung seitens der DDR-Behörden. Schon bald verbreitet sich das Symbol der »Schwerter zu Pflugscharen«-Bewegung als Ausdrucksmittel oppositioneller Haltung massenhaft im ganzen Land und wird vor allem von jungen Friedensaktivisten als Aufnäher getragen.

Doch durch massive Repressionen gelingt es den Staatsorganen, das Symbol aus dem Straßenbild zu verdrängen. Schulen, Universitäten, Betriebe und die Volkspolizei nötigen die Jugendlichen teilweise gewaltsam, das Zeichen von ihrer Kleidung abzutrennen. Manche trotzen dem Verbot mit weißen Kreisen oder sogar einem Loch im Ärmel an jener Stelle, an der ihnen der Aufnäher aus der Jacke geschnitten wurde.

Auch Olaf näht sich das »Schwerter zu Pflugscharen«-Symbol an die Jacke und zeigt damit seine Einstellung in der Öffentlichkeit. Eines Tages wird der 16-Jährige von drei Männern in Begleitung des Schuldirektors aus dem Unterricht geholt. Man führt ihn in einen separaten Raum und verhört ihn, um herauszufinden, woher er den Aufnäher hat. Olaf erklärt ihnen, dass er das Symbol von einer Freundin bekommen hat, die aus kirchlichen Kreisen kommt. Die MfS-Beamten stellen ihn vor die Wahl, entweder das unerwünschte Zeichen sofort zu entfernen oder unmittelbar seine Lehrstelle zu verlieren. Widerwillig fügt Olaf sich.

»Ich verstand den ganzen Aufriss damals noch nicht. Ich glaubte nur an das Gute.«

Erst im Nachhinein erkennt Olaf die Tragweite seiner Aussage. In seinem Lehrbetrieb führt man bei ihm seitdem regelmäßige Spind-Kontrollen durch und auch sein Vater wird auf der Arbeitsstelle vom MfS aufgesucht. Besonders die Familie der Freundin, die ihm den Aufnäher gab, leidet unter der Überwachung und Verfolgung durch das MfS. Nach einer eingehenden Hausdurchsuchung und anhaltenden Repressionen sieht sich die Familie zur Übersiedlung in die Bundesrepublik gezwungen.

Schon seit Anfang der 1980er-Jahre versucht Olaf intensiv, sein musikalisches Hobby auszubauen. Gemeinsam mit einem Freund organisiert er Solidaritätsveranstaltungen und tritt als Schallplattenunterhalter in Discotheken auf. Olaf wechselt sogar zweimal den Arbeitsplatz, um eine Tätigkeit zu finden, die keinen Schichtdienst oder Montage-Einsätze fordert und ihm mehr Raum für sein Hobby lässt. Die Freunde investieren viel Zeit und Geld, doch das MfS stellt sich den Aktivitäten immer wieder in den Weg und verweigert die nötigen Spielgenehmigungen.

»Ich war gut in dem, was ich damals machte, konnte mir die Jobs aussuchen. Aber ich hatte immer die Stasi im Nacken sitzen.«

Mit 18 Jahren wird Olaf für den NVA-Grundwehrdienst gemustert. Man schlägt ihm »drei Jahre Urlaub an der Ostsee« vor, also den Wehrdienst als Matrose bei den Seestreitkräften der DDR. Eigentlich hat der junge Mann grundsätzlich keine Lust, den Militärdienst abzuleisten, scheut sich aber vor den sogenannten Baueinheiten, von denen er viel Schlechtes gehört hat.

Die Bausoldaten sind ebenfalls dem NVA-Regime untergeordnet, indem sie Uniform tragen, in Kasernen untergebracht sind und geloben müssen, den militärischen Vorgesetzten zu gehorchen. Ihre Arbeitsbedingungen bei Bauaufgaben, im Braunkohletagebau, in der chemischen Industrie, beim Gleisbau oder auch in der Krankenpflege sind oft unzumutbar.

Männer, die jegliche Form von Wehrdienst verweigern, müssen in der DDR hohe Haftstrafen fürchten. Bis 1985 werden jährlich etwa 150 Totalverweigerer zu einem Freiheitsentzug von 18 bis 22 Monaten verurteilt.

Olaf hat von vielen systemkritischen Personen gehört, die erst sehr spät, nach ihrer Familiengründung, zum Grundwehrdienst eingezogen wurden – eine Methode, um sie zu schikanieren. Olaf wünscht sich jedoch, Aufschub zu bekommen. Darum behauptet er der NVA gegenüber, er habe eine Freundin in Westberlin und stelle demnächst einen Ausreiseantrag.

Olaf nutzt mehrere solcher Schlupflöcher, um die gängige Bevormundung des SED-Staates zu umgehen. Er weiß, dass man mitunter bis zu vier Jahre auf die Möglichkeit warten muss, einen Führerschein zu machen, wenn man kein Mitglied der GST ist. Also kauft er sich erst ein altes, günstiges Auto und beantragt dann die Fahrerlaubnis. Auf diese Weise darf er schon innerhalb weniger Monate mit der Fahrschule beginnen und macht den Lkw-Führerschein gleich mit.

Doch die anhaltenden Schwierigkeiten, sich ein Leben nach seinen Bedürfnissen aufzubauen, motivieren Olaf dazu, am 1. November 1985 tatsächlich einen Ausreiseantrag beim Rat des Kreises Bautzen einzureichen.

»Ich merkte, ich kam hier nicht weiter, ich konnte mir nicht wirklich etwas schaffen, was mir Spaß machte. Ich sah für meine Zukunft keine Perspektive.«

In dem sogenannten Informationsgespräch, das unmittelbar vor Ort auf sein Übersiedlungsersuchen folgt, setzt man Olaf stark unter Druck. Aus Sicht der DDR-Behörden ist der Ausreiseantrag eine nicht akzeptable Absage an den propagierten »real existierenden Sozialismus«. Wer die Antragsstellung wagt, muss mit langwierigen und harten Schikanen auf persönlicher, familiärer und beruflicher Ebene rechnen. Auch wenn sich Antragsteller ab 1975 auf das zugesicherte Recht auf Freizügigkeit der von Erich Honecker unterzeichneten KSZE-Schlussakte von Helsinki berufen, werden sie als »rechtswidrige Übersiedlungsersucher« verunglimpft.

Der 19-Jährige muss schnell erkennen, dass er nicht allein die Konsequenzen der Antragstellung trägt. Olafs Vater, der in einer abteilungsleitenden Position arbeitet, wird gedroht, die Stelle könne er angesichts eines laufenden Ausreiseverfahrens seines Sohnes nicht länger ausüben. Der Wunsch von Olafs Schwester, nach dem Schulabschluss zu studieren, ist ebenfalls in Gefahr. Aus Rücksicht auf seine Familie zieht Olaf sein Ersuchen deshalb schon fünf Tage später zurück.

Niederschrift über ein Informationsgespräch Remus, Olaf

»Niederschrift über ein Informationsgespräch« beim Rat des Kreises Bautzen, 6. November 1985. Das Dokument fasst Olafs Motivation zur Antragstellung sowie zur fünf Tage später erfolgten Rücknahme des Übersiedlungsersuchens zusammen.

Im Laufe der nächsten zwei Jahre verlobt sich Olaf und wird Vater einer Tochter. Er hat eine Stelle als Kraftfahrer beim Kombinat Fortschritt Landmaschinen VEB Getriebewerk Kirschau, wo er mit Thomas, einem Freund aus der Lehrzeit, zusammenarbeitet. Als die beiden Freunde im Frühjahr 1988 einen gemeinsamen Urlaub besprechen, schlagen ihre Reisepläne spontan in die Vorbereitung der Republikflucht um.

»Ich sah als einzigen Ausweg, in den Westen zu gehen. Man lebt nur einmal und das Leben wollte ich lieber in Freiheit verbringen als eingesperrt.«

Keiner der beiden Freunde muss den anderen überreden – die Organisation der Flucht ist ein Selbstläufer. Die 22-Jährigen studieren Kartenmaterial und buchen eine Touristen-Urlaubsreise nach Bulgarien. Ihr Plan sieht vor, in Bulgarien die Staatsgrenze nach Griechenland zu passieren und anschließend die bundesrepublikanische Botschaft in Athen aufzusuchen. Olaf und Thomas lösen sogar Rückfahrtkarten, um keinen Verdacht zu erregen.

Seine Verlobte warnt Olaf weder vor, noch weiht er sie in sein Vorhaben ein, um sie vor den Konsequenzen einer Mitwisserschaft zu schützen. Er behauptet stattdessen sogar, zu einem Motorradrennen in die Tschechoslowakei zu fahren.

»Ich war sehr verliebt und zu 110 Prozent sicher, dass meine Verlobte zu mir in den Westen nachkommt. Hätte ich vorher gewusst, dass es anders kommt, hätte ichs wahrscheinlich nicht gemacht.«

Am 25. März 1988 beginnen die beiden Freunde ihren als Urlaubsreise getarnten Fluchtversuch mit der Zugfahrt nach Berlin, wo sie auf ihre Reisegruppe treffen und am darauffolgenden Tag nach Sofia fliegen.

In ihrem Urlaubshotel kommen sie mit bundesdeutschen Touristen ins Gespräch. Weil es ihnen gelingt, Informationen über die Bewachungsdichte der Grenzanlagen zu erhalten, werfen Olaf und Thomas ihre Pläne kurzfristig um. Ursprünglich wollten sie in Blagoewgrad die Staatsgrenze zu Griechenland überqueren. Nun möchten sie bei Swilengrad im Dreiländereck von Bulgarien, Griechenland und der Türkei den illegalen Grenzübertritt wagen, da dieser Abschnitt weniger bewacht sein soll.

»Naiv, wie wir waren, dachten wir, dass wir da eine Chance hätten. Hinterher erfuhren wir, dass die Karten so gemacht waren, dass du irgendwo in eine Falle liefst.«

Am 27. März verlassen die beiden jungen Männer ihre Reisegruppe und unternehmen eine Stadtrundfahrt mit einem Taxi. Sie können ihren Fahrer dazu überreden, sie für die Summe von 300 Mark noch am gleichen Abend in das gewünschte Gebiet zu befördern. Am Abend holt der Mann Olaf und Thomas mit seinem Privatauto vom Hotel ab und fährt in Richtung griechische Grenze.

Gegen Mitternacht erreicht das Fahrzeug das Grenzgebiet und wird von einem bulgarischen Kontrollposten angehalten. Da Olaf und sein Freund keine Genehmigung besitzen, die Sperrzone zu betreten, weist man ihre Weiterfahrt ab. Die beiden Männer lassen sich von ihrem Fahrer etwa einen Kilometer zurückbringen, steigen aus dem Wagen aus und setzen ihren Weg zu Fuß fort. Sie klettern über einen Zaun, laufen über ein großes Feld und folgen dann einer Eisenbahnlinie, die an einem Fluss entlang verläuft.

Der Fluchtversuch scheitert. Um 00:45 Uhr am 28. März 1988 werden Olaf und Thomas an einer Eisenbahnbrücke von bulgarischen Grenzsicherungskräften festgenommen. Die Beamten sind in hellem Aufruhr. Mit ihren Maschinenpistolen bedrohen sie die jungen Männer und wollen mit Prügel aus ihnen herauspressen, wie sie es geschafft haben, über das Feld zu gelangen, das sich als drei Kilometer breiter Minenstreifen entpuppt.

Zunächst werden Olaf und Thomas mehrere Tage lang in der Nähe des Fluchtorts inhaftiert. Die Freunde zeigen sich reumütig und gestehen ihre Tat sofort, trotzdem werden sie von den bulgarischen Beamten außerordentlich schlecht behandelt.

»Die schmissen uns bei Schneeregen in Pfützen auf dem Hof und ließen uns stundenlang liegen. Sie sperrten uns auch tagelang in eine Zelle. Es gab keine Möglichkeit, außer in eine alte Flasche zu pinkeln und es aus dem Fenster zu kippen.«

Mit angelegten Handschellen bringt man Olaf und seinen Freund anschließend per Zug in ein Gefängnis in Sofia, wo sie bis zu ihrer Überführung in die DDR für knapp vier Wochen in Gewahrsam bleiben. Olaf wird von seinem Freund getrennt und teilt die Zelle mit einem Mann, der zum Tode verurteilt ist.

Die Zustände der Unterbringung sind menschenunwürdig. Das einzige Inventar ist eine schwache Glühbirne, ein Holzpodest, ein Strohsack und ein Kübel für die Notdurft, der einmal täglich geleert wird.

»Ich wog vor der Inhaftierung 78 Kilo und danach 54. Wasser und Brot und nur Hunger, Hunger, Hunger. Skorbut gekriegt, die Zähne alle lose.«

Am 20. April 1988 werden die beiden Häftlinge an das MfS übergeben, mit deren Mitarbeitern sie die Rückreise nach Berlin antreten. Während sie auf dem Hinflug in einer klapprigen Propellermaschine saßen, der man ansah, dass die Motoren hin und wieder brannten, erfolgt der Rückflug in einer modernen großen Düsenmaschine, die insgesamt mit nur drei Gefangenen und etwa zehn Bewachern besetzt ist. Die Stasi-Beamten bringen Olaf in ein Berliner Gefängnis, wo sie ihn erneut verhören.

Olafs Haftunterlagen belegen, dass sein Ermittlungsverfahren am 25. April 1988 mit der Begründung, es falle nicht in den Zuständigkeitsbereich des MfS, an die Bezirksbehörden der Deutschen Volkspolizei Dresden, Dezernat II, und damit in den Verantwortungsbereich des MdI übergeben wird. Die Gründe für dieses Vorgehen sind anhand des vorliegenden Aktenmaterials nicht nachvollziehbar.

Am 26. April 1988 wird Olaf dennoch in eine Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit eingeliefert. In dem Gebäudekomplex der Bautzner Straße am Dresdner Elbhang unterhält das MfS seit 1953 einen Standort für die Verwaltung des Bezirkes Dresden und die dazugehörige Untersuchungshaftanstalt. Es nutzt das Gelände damit in direkter Nachfolge des NKWD/MWD. In dem vierstöckigen Hafthaus sitzen bis 1989 zwischen 12.000 und 15.000 DDR-Bürger in MfS-Untersuchungshaft.

Bis zu seiner Verurteilung ist Olaf für etwa anderthalb Monate den zermürbenden Haftbedingungen der DDR-Untersuchungshaft ausgesetzt. Er wird in seiner Einzelzelle isoliert, ohne Brieferlaubnis, ohne Besuche. Im halbstündlichen Rhythmus wird das Licht angeschaltet, weshalb Olaf nach spätestens drei Tagen jegliches Zeitgefühl verliert. Nur im Freigang auf dem Gefängnishof erkennt er, dass Tag sein muss.

Hofgang bedeutet den sogenannten Tigerkäfig, einen oben vergitterten Betonverschlag, auf dessen übermannshohen Mauern Wachposten patrouillieren. Ein solches Abteil misst nur wenige Quadratmeter zum Auf- und Abgehen, verspricht aber dennoch eine gewisse Abwechslung zum starren Verharren in der Gefängniszelle.

Während der Nachtruhe ist Olaf gezwungen, auf dem Rücken zu liegen und seine Hände auf der Decke zu haben. Das Schlafen auf der Seite ist den Häftlingen nicht erlaubt.

Man beraubt die Inhaftierten ihrer Identität. Nur unter der Häftlingsnummer wird Olaf in der UHA angesprochen, wenn er zur Vernehmung gerufen wird – sein Name spielt keine Rolle mehr. Olaf gibt in den Verhören zu, die Flucht zu bereuen, doch die Vernehmer teilen ihm mit, dass dies keine Rolle spiele, er gehe ohnehin erstmal für ein paar Jahre in den Knast. Die Ermittlungsmethoden der Beamten ziehen ihre Kreise auch außerhalb der Dresdener Gefängnismauern.

»Sie setzten meine Verlobte unter Druck, riefen bei ihrer Ausbildungsstelle an, bestellten sie und terrorisierten sie, bis sie sich letzten Endes von mir distanzierte.«

Am 12. Mai 1988 überführt man Olaf in die Justizvollzugsanstalt Görlitz, wo er die Zeit bis zu seiner bevorstehenden Gerichtsverhandlung absitzt. Der Gebäudekomplex des ehemaligen Gerichtsgefängnisses befindet sich hinter dem Amts- und Landgericht am Postplatz in der Innenstadt. Hier trifft Olaf beim Freigang auf dem Gefängnishof zum ersten Mal wieder auf seinen Freund Thomas.

Auswertungsbericht Olaf Remus

Auswertungsbericht der Bezirksbehörde der DVP Dresden, Kriminalpolizei, Außenstelle Görlitz, 24. Mai 1988. Der vierseitige Bericht beschreibt den Tathergang und die Gründe der versuchten Republikflucht. Olafs Persönlichkeit wird positiv dargestellt und seine Motivation zur Flucht mit der Beeinflussung »durch Gespräche und die Massenmedien der BRD« erklärt.

Auch in Görlitz finden weitere Vernehmungen statt, in denen Olaf wiederholt ankündigt, auch nach der Verbüßung seiner bevorstehenden Haftstrafe einen Antrag auf Ausreise aus der DDR stellen zu wollen.

»Ich hatte in der U-Haft schon so einen Hass auf den Staat entwickelt.«

Während der Untersuchungshaft teilt Olaf gelegentlich die Zelle mit Gefangenen, bei denen er sich allerdings nie sicher sein kann, ob sie zur Bespitzelung angehalten wurden und deshalb mit seinen Äußerungen Vorsicht walten lässt.

Dennoch zieht er einen Vorteil daraus, denn von einem der Zellengenossen erfährt er von dem DDR-Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, der als offizieller »Beauftragter der DDR für humanitäre Fragen« eine zentrale Rolle beim sogenannten Häftlingsfreikauf spielt und maßgeblich bei der Ausreise von über 215.000 DDR-Bürgern im Wege der Familienzusammenführung mitwirkt. Olaf kontaktiert den Juristen und bekommt den Rechtsanwalt Maiwald, einen Vertreter aus Dresden, für seinen Prozess zur Seite gestellt.

»Der vertrat mich und sagte: ›Alles bis zwei Jahre unterschreibst du, weil nach der Verurteilung kann ich dich an den Westen freikaufen lassen.‹ Also unterschrieb ich das Urteil.«

Am 13. Juni 1988 erfolgt der Prozess, in dem die beiden Freunde durch die Strafkammer des Kreisgerichts Bautzen wegen versuchten ungesetzlichen Grenzübertritts im schweren Fall angeklagt werden. Da unter den beiden Männern kein Rädelsführer auszumachen ist, erhalten sie dasselbe Strafmaß von einem Jahr und zehn Monaten Freiheitsentzug nach Paragraf 213 Absatz 2,3 Ziffer 5 und Absatz 4, 21 Absatz 3, 22 Absatz 2 Ziffer 2 des StGB der DDR.

Das Urteil formuliert: »Die Intensität der Handlung wird auch dadurch geprägt, daß sie eine Reisebüroreise in die VR Bulgarien hierzu ausnutzten und die Staatsgrenze nach Griechenland überschreiten wollten. Mit dieser Handlung griffen sie widerrechtlich die Souveränität der DDR an.« Die Strafbarkeit der Republikflucht im DDR-Strafrecht steht damit im krassen Widerspruch zum Artikel 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN, welche das Recht auf Freizügigkeit und Auswanderung jedes Menschen garantiert.

Olafs Freund wird nach der Verurteilung zur Haftarbeit in das Stahlwerk nach Zeithain gebracht. Olaf dagegen durchläuft für zwei Tage die Strafvollzugsanstalt Cottbus und für etwa zwei Wochen das Strafvollzugskommando Schwarze Pumpe.

»Als ich in Schwarze Pumpe ankam, lief es mir kalt den Rücken runter. Das war ja im Prinzip aufgebaut wie Buchenwald.«

Im Strafvollzugskommando Schwarze Pumpe werden die Strafgefangenen vorwiegend im Braunkohlenkombinat und den Tagebauen zur Haftarbeit eingesetzt. Olaf ist aber der Küche zugeteilt und muss den ganzen Tag in einem dunklen Keller Kartoffeln schälen.

»Die Baracken waren direkt neben den Kühltürmen dieses Kohlekraftwerks. Die Fenster waren undicht und morgens war der ganze Boden gelb vom Schwefel. Die ganze Gegend dort war unheimlich ätzend.«

Protokoll Aufnahmegespräch Olaf Remus

Protokoll über das Aufnahmegespräch in der StVE Schwarze Pumpe, 8. Juli 1988. Das Dokument behauptet, Olaf lebe »teilweise in einer Wunschwelt« und ordnet seine Vorstellungen von einer persönlich erfüllenden Lebensweise in der Bundesrepublik als absurd und realitätsfern ein. Der Verfasser warnt außerdem, dass »ein erneutes illegales Verlassen nicht auszuschließen« sei.

Am 12. Juli 1988 wird Olaf schließlich in die Strafvollzugseinrichtung Luckau eingeliefert, dessen Hafthaus sich in einer historischen Klosterkirche befindet. Hier verbüßen sowohl politisch Verurteilte ihre Freiheitsstrafen als auch kriminelle Gefangene, die wegen Körperverletzung oder Tötungsdelikten verurteilt wurden. Zu zwölft belegt man eine Gemeinschaftszelle.

Auf der Etage, die Olaf bewohnt, sind knapp 70 Häftlinge untergebracht, davon lediglich sechs »Politische«. Olaf erlebt, wie ehemalige Strafgefangene durch anhaltende politische Verfolgung und strategische Repressionen in die erneute Straffälligkeit geraten.

»Wenn sie gegen irgendeine Bewährungsauflage verstießen, bekamen sie grundsätzlich wieder ein Jahr. Ich traf da viele, die das erste Mal wegen was Politischem drin waren und dann so kriminalisiert wurden.«

Es ist auffällig, dass Olaf und die anderen politisch Verurteilten während des Strafvollzugs in Luckau deutlich strenger behandelt und sogar zielgerichtet Schikanen ausgesetzt werden. Solche Quälereien werden nicht nur durch die Strafvollzugsbeamten selbst durchgeführt. Das Wachpersonal befördert die Auseinandersetzungen unter den Häftlingen regelrecht.

»Die gaben Kriminellen Geld, damit sie die Politischen verprügelten und denen die Sachen wegnahmen.«

Unter den Häftlingen herrscht das »Wolfsgesetz«: fressen oder gefressen werden. Olaf muss sich zur Wehr setzen. Als er das erste Mal angegriffen wird, schlägt er zurück und bricht dem Mithäftling Nase und Kiefer. Damit handelt er sich zwar eine Arreststrafe, aber auch den Respekt der Mithäftlinge ein.

»Dann hatten die anderen Angst vor mir und ließen mich in Ruhe.«

Wie in allen DDR-Haftanstalten setzt man auch die Luckauer Strafgefangenen zur Arbeit ein, die hier vorwiegend in den Sparten Möbeltischlerei, Schlosserei oder in der Fertigung von Maschinenkleinteilen erfolgt. In einer Schneiderei werden die Watteanzüge der NVA produziert.

Unter den Häftlingen munkelt man, die in Fließbandarbeit gefertigten Antriebsmotoren und Laugenpumpen für Waschmaschinen würden an die westdeutsche Haushaltsgeräte-Firma Miele geliefert. Olaf steht diesem Gerücht skeptisch gegenüber, da er an seinen positiven Vorstellungen von der Bundesrepublik festhält.

»Später in der Bundesrepublik stellte ich eine Miele-Maschine auf den Kopf. Es war so.«

Die Haftzwangsarbeit fordert den Strafgefangenen ein enorm hohes Tagespensum ab. Gleichzeitig fehlt jeglicher Arbeitsschutz. Die oftmals unzumutbaren Bedingungen gehen auf Kosten der Gesundheit. Olaf verbringt den ganzen Tag ungeschützt in giftigen Lötdämpfen.

Wieder macht er zudem die Erfahrung, dass sein Hunger nie gestillt werden kann. Die StVE versorgt ihre Gefangenen nur mit unzureichenden Mengen Nahrung in minderwertiger Qualität. In den Arreststrafen wird ihm teilweise zwölf Stunden lang die Verpflegung verwehrt. Olaf beobachtet, dass die kriminellen Strafgefangenen hingegen sogar mit einer Bockwurst und einem Beutel Tee für ihre Samstagsarbeit entlohnt werden.

Als Olaf gegen die Wochenendarbeit aufbegehrt, bringt ihm das Strafen und Schikanen durch das Wachpersonal der Strafvollzugseinrichtung ein. Nach dem Putzen der Toiletten trägt man ihm auf, mehrere Stunden lang die Traditionszelle von Karl Liebknecht zu putzen. Der museale Raum ist stets abgeschlossen und quasi staubfrei, was Olaf dazu verleitet, sich nach der in kürzester Zeit getanen Arbeit auf das Bett zu legen, wo er einschläft und von den Wachhabenden ertappt wird.

»Daraufhin machten sie mich mit Handschellen an einer Leitung fest und verprügelten mich mit Holzknüppeln. Dabei brachen sie mir einen Finger.«

Olaf befürchtet, dass die Verletzung seine Chancen auf den Freikauf mindert – die DDR möchte doch sicher keine Beweise für ihre Misshandlungen in den Westen liefern. Aus diesem Grund verschweigt er seinen Knochenbruch. Der Finger wächst unbehandelt krumm zusammen.

Ein Beurteilungsbogen aus Olafs Haftakte erwähnt auch weder diesen Zwischenfall, noch dokumentiert sie die Arreststrafen. Das handschriftliche Dokument beinhaltet stattdessen mehrere lobende Beurteilungen, unter anderem im Eintrag vom 28. September 1988: »Das Gesamtverhalten des SG ist unauffällig. Er erbringt eine gute Arbeitsleistung und verhält sich diszipliniert u. bescheiden.«

Die Haftzeit macht Olaf zum Zeugen der perfiden Zersetzungsstrategien des DDR-Strafvollzugsystems, die auf das Erzwingen von Ordnung, Gehorsam und politischem Wohlverhalten abzielen. Gängige Spielbälle dieser Erziehungsmethoden sind die Bücher-, Schreib- und Besuchserlaubnisse der Strafgefangenen. In einem Brief an die Familie schreibt der 22-Jährige, dass er die Bibel lese und große Kraft daraus ziehe. Kurze Zeit darauf wird ihm die Heilige Schrift weggenommen. Auf seinen Protest hin erfolgt die Drohung, ihn wieder zurück in das Strafvollzugskommando Schwarze Pumpe zu verlegen.

»Also verzichtete ich und stieg auf Schiller und Goethe um. In Luckau wars schon hart, die setzten mich dort richtig unter Druck.«

Olafs Mutter besucht ihn während der Untersuchungshaft in Görlitz und im Strafvollzug in Luckau je einmal. Zwar beantragt Olaf weitere Zusammenkünfte, doch sie werden ihm auf perfide Art und Weise versagt: Er erlebt, wie die Häftlinge gemeinsam in einem Raum darauf warten, zu ihren Angehörigen im angrenzenden Besuchsraum geführt zu werden. Als sich die Türen öffnen, dürfen die Kriminellen zu ihren Besuchern. Er und die anderen politisch Verurteilten hingegen bringt man wieder zurück in die Zellen, obwohl sie den Blick auf ihre wartenden Angehörigen erhaschen können.

»Und so schafften die es, mich nervlich so fertigzumachen, dass ich mir sagte, falls du Weihnachten noch hier drin bist, nimmst du dem Schließer die Pistole weg und läufst Amok.«

Schon kurz nach seiner Einlieferung, am 23. Juli 1988, stellt Olaf aus der StVE Luckau heraus einen neuen Antrag auf Übersiedlung in die Bundesrepublik. Die Ausreise wird dieses Mal sogar befördert, indem Olaf zum Etagenoffizier gerufen und dort angewiesen wird, das Schreiben formlos und handschriftlich zu formulieren.

Er ahnt seitdem, dass sein Freikauf in Planung ist. Eine Hoffnung, an die er sich mehrere Monate lang optimistisch klammert. Täglich fiebert Olaf daraufhin, seinen Namen zu hören, wenn die Häftlinge aufgerufen werden, die verlegt werden sollen. Tatsächlich werden im August mögliche Versagungsgründe des Freikaufs geprüft und die Kreisdienststelle Bautzen stimmt der Übersiedlung zu. Als Olaf beim morgendlichen Zählappell dann die Aufforderung erhält, seine Sachen zu packen, ist er so überwältigt, dass ihm die Beine wegsacken.

Eigentlich ist das Ende seiner Haftstrafe für den 27. Januar 1990 vorgesehen, nun wird Olaf vorzeitig in die Freiheit entlassen. Man bringt ihn am 18. Oktober 1988 in die StVE Berlin Rummelsburg und verlegt ihn anschließend in die Untersuchungshaftanstalt der Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt, dem heutigen Chemnitz.

Seit Mitte der 1960er Jahre wickelt das MfS die Entlassung der freigekauften Häftlinge über die Untersuchungshaftanstalt auf dem Kaßberg ab. Der Standort bietet sich aufgrund seiner Größe und der Nähe zu Westdeutschland an. Fast 90 Prozent der Häftlinge gelangen vom B-Block der UHA aus ins hessische Notaufnahmelager. Mit Bezug auf den zentralen DDR-Unterhändler und Rechtsanwalt Wolfgang Vogel bezeichnen sie das Kaßberg-Gefängnis als »Vogelkäfig«. Vor ihrer Ausreise werden die Strafgefangenen mit vitamin- und kohlenhydratreicher Kost aufgepäppelt.

»Ich sah die Tasche von meinem Mittäter am Geländer hängen. Nachts rief ich: ›Thomas!‹ Vier Mann antworteten: ›Ja!‹ Da wusste ich, dass er auch da war.«

Der Freikauf politischer Häftlinge aus DDR-Gefängnissen durch die Regierung der Bundesrepublik ist in seiner Qualität historisch einzigartig. Von 1963 bis 1989 reisen auf diesem Wege über 33.700 Menschen aus der DDR aus. Die DDR-Führung profitiert von dem inoffiziellen Geschäft mit freigekauften Häftlingen und rund 215.000 Familienzusammenführungen anfangs mit Bargeld und später mit Warenlieferungen im Wert von insgesamt rund 3,4 Milliarden D-Mark. Nebenbei verspricht sie sich mit der Abschiebung politischer Gegner eine Schwächung ihrer Opposition.

Die Bundesrepublik, nach deren Rechtsauffassung die DDR-Bürger deutsche Staatsangehörige sind und deshalb moralisch und rechtlich ihren Schutz verdienen, bezahlt einen Pauschalpreis, der 1964 pro Person 40.000 D-Mark und seit 1979 circa 96.000 D-Mark beträgt.

Olafs Ausreise ist an mehrere Bedingungen geknüpft, mit denen er sich einverstanden erklären muss. Die DDR-Staatsbürgerschaft wird ihm aberkannt und er erhält eine Einreisesperre in die DDR. Außerdem verpflichtet er sich zur Zahlung von Unterhalt für sein uneheliches Kind und muss die Unterschrift leisten, von Klagen gegen den SED-Staat abzusehen. Dann bekommt er eine Identitätsbescheinigung ausgehändigt und tritt am 3. November 1988 seine Fahrt in die Freiheit an.

»In den Siebzigern ging es ja mit Bussen nach dem Westen. Ich musste selbst die Fahrkarte kaufen und wurde von der Stasi in Chemnitz auf den Bahnhof gebracht.«

Zugticket Olaf Remus

Olafs Ticket in die Freiheit. Die Fahrkarte der Deutschen Reichsbahn wird am 26. Oktober 1988 ausgestellt.

Über einen Umstieg in Leipzig gelang Olaf nach Gießen. In dem Übergangslager südwestlich des Bahnhofs erhalten die ehemaligen Häftlinge Orientierungshilfen für die ersten Wochen in der Bundesrepublik. Für Olaf und seinen Freund Thomas ist klar, dass sie den Neuanfang gemeinsam angehen möchten. Sie wählen Wuppertal als ihre neue Heimatstadt aus.

Übergangsweise werden sie deshalb im Durchgangswohnheim Unna-Massen einquartiert. Olaf bezieht ein Mehrbettzimmer mit einer Gruppe polnischer Staatsangehöriger, mit denen er negative Erfahrungen macht. Besonders bitter ist es, die Bewegungsfreiheit der Polen mitanzusehen, da Olaf zu diesem Zeitpunkt davon ausgeht, nie wieder die Möglichkeit zu haben, nach Hause zu fahren. Schließlich zieht er in das Zimmer seines Freundes um.

Dank der Unterstützung der bundesdeutschen Ämter kann er bald darauf in seine erste eigene Wohnung ziehen und einen Hausstand anschaffen. Beim Beantragen von staatlicher Hilfe berät ihn die Vereinigung der Opfer des Stalinismus e.V. Der Opferverband lädt die ehemaligen Häftlinge außerdem zu Eingliederungsseminaren ins Konrad-Adenauer-Haus nach Bonn ein. Hier erfährt Olaf durch die damalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth Details über seinen Freikauf, für den die DDR Rohöl und Industriediamanten erhielt.

»Pro Freigekauftem waren in meinem Jahr 360.000 D-Mark vereinbart. Das ist ein gewaltiger Stückpreis. Und da fühlte ich mich auch in der Schuld. Hätten sie ja nicht machen müssen.«

Die moralische Last wiegt schwer auf Olafs Schultern. Er hat das dringende Bedürfnis, seinen Freikauf wiedergutmachen zu müssen. So möchte er dem Staat mit dem Berufsdienst in der Bundeswehr Dank zeigen, doch seine Bewerbung wird abgelehnt.

Über den Anwalt schicken Olafs Eltern ihm die Zeugnisse zu, sodass er seinen Berufsabschluss nun offiziell anerkennen lassen kann und nach einem Vierteiljahr eine Arbeitsstelle als Kraftfahrer findet, die ihn regelmäßig durch Europa führt. Olaf ist erleichtert über die Chance, endlich wieder aktiv zu sein und sich auch von dem Gedankenkarussell abzulenken, das sich ständig um die Familie dreht, die er in der DDR zurücklassen musste.

Das Zurechtfinden in der neuen Heimat nimmt allerdings Zeit in Anspruch. Olaf tritt in jedes Fettnäpfchen. Doch auch die Freude über seine erfüllten Erwartungen überwältigt ihn.

»Das erste halbe Jahr musste ich erstmal damit zurechtkommen, wie schön es sein kann. Ich hatte ein Dankbarkeitsgefühl.«

Nur knapp ein Jahr nach Olafs Übersiedlung bereiten die massenhaft und friedlich protestierenden DDR-Bürger den Anfang des Prozesses der deutschen Wiedervereinigung. Olaf, der sich wegen eines Auftrags gerade für drei Wochen in Norwegen befindet, verpasst die legendäre Nacht des 9. November 1989.

Skeptisch rechnet er noch eine ganze Weile damit, die DDR würde ihre Grenzen wieder schließen. Doch tatsächlich kann er zu Weihnachten seine Familie in Bautzen besuchen. Er sieht auch seine damalige Verlobte wieder, die sich jedoch für einen neuen Partner entschieden hat und den Kontakt zum gemeinsamen Kind unterbindet.

»In den Neunzigern hatte man als unverheirateter Vater noch überhaupt keine Rechte.«

Anfang des Jahres 1993 entscheidet sich Olaf dazu, in die neuen Bundesländer zurückzukehren. Er möchte vor Ort seine noch schulpflichtigen Schwestern unterstützen, da die Familie aufgrund der Trennung der Eltern und der erneuten Erkrankung seiner Mutter in einer wirtschaftlich schlechten Lage ist.

Zum Zeitpunkt des Umzugs wird das Einstellungsversprechen als Pkw-Fahrer beim Sächsischen Staatsministerium des Innern zurückgezogen. Olaf muss sich arbeitslos melden und ist überrascht, als er auf den Bautzener Behörden und Ämtern Mitarbeitern begegnet, die 1985 im Rat des Kreises seinen Ausreiseantrag bearbeiteten.

»Im Osten weiß man nie, wo man sich hinbewegt. Der auf dem Arbeitsamt sitzt, der Stasi-Mann, gibt dir keine Arbeit. Der auf der Sparkasse sitzt, kündigt deinen Hauskredit. Und schon nehmen sie dir alles weg.«

Im Beruf des Zerspanungsmechanikers, zu dem Olaf in der Bundesrepublik umgeschult hatte, findet er keine neue Stelle, also verfolgt er einen schon seit dem frühen Erwachsenenalter gehegten Berufswunsch. Im Alter von 30 Jahren lässt er sich zum Rettungssanitäter ausbilden, absolviert sein Staatsexamen und arbeitet anschließend mehrere Jahre als Rettungsassistent. In Bautzen gründet Olaf nun auch eine Familie. Er heiratet und bekommt zwei Kinder.

2004 fällt er jedoch in die erneute Arbeitslosigkeit. Die Suche nach einer neuen Arbeitsstelle stellt Olaf vor Herausforderungen. Auf dem Arbeitsamt erfährt er durch eine Beamtin wiederholt Benachteiligungen und Schikanen: seine Daten auf der Arbeitgeberplattform werden gelöscht, Fort- und Weiterbildungen verwehrt, Stellenangebote lediglich in den alten Bundesländern angeboten. Olaf identifiziert die Frau als jene ehemalige Stasi-Mitarbeiterin, welche ihm damals die Auftritte als Schallplattenunterhalter unterband.

»Die sagten mir offen in Zweiergesprächen: ›Solange wir hier sitzen, kriegen Sie hier nix.‹«

Olaf bewirbt sich nun europaweit. Als er eine Stelle in Nordrhein-Westfalen annimmt, sagen ihm die Mitarbeiter: »Das mit Ihrer Übersiedlung kriegen wir schon hin.« Der Umzug wird Olaf anstandslos finanziert. Mit einem bitteren Nachgeschmack und dem Gefühl, aus dem Osten mehrmals vertrieben worden zu sein, zieht er mit seiner Familie 2005 ins Münsterland.

Der wiederholte Neustart ist nicht leicht, vor allem, da seine Frau als Erzieherin Schwierigkeiten hat eine neue Anstellung zu finden. Dennoch erhofft sich Olaf von dem Umzug, dass seine Kinder hier in der Schule und dem Kindergarten keinen Benachteiligungen ausgesetzt sind.

Die Familie bleibt in Nordrhein-Westfalen, bis der Sohn 2016 eine Lehre beginnt. Dann kehren sie zurück nach Sachsen und siedeln sich in Leipzig an, von wo aus Olaf die Möglichkeit hat, sich mehr um seine Mutter zu kümmern, die zu dieser Zeit noch in Bautzen lebt.

Durch Olafs mehrfache Ortswechsel nimmt der bürokratische Aufwand bezüglich der sogenannten Opferpension, die er als ehemaliger politischer Häftling der SED-Diktatur nach Paragraf 17 StrRehaG seit 2007 bezieht, immense Ausmaße an.

»Ich fühlte mich so überwacht, musste permanent meine Finanzen offenlegen. Und ich fühlte mich immer als Bittsteller, das war mehr Qual als alles andere. Aber ich war auf das Geld angewiesen.«

Seit seinem Umzug nach Leipzig und einem erneuten Jobwechsel, wegen dem er die vorgegebene Einkommensgrenze knapp überschreitet, hat Olaf keinen Anspruch mehr auf die monatliche Zuwendung in Höhe von 330 Euro.

Voraussetzung für den Bezug der Kapitalentschädigung ist Olafs strafrechtliche Rehabilitierung, die bereits 1995 erfolgt ist. Zweimal beantragt er die Akteneinsicht bei der BStU. Während die aufgefundenen Unterlagen ab dem Tag seiner Verhaftung teilweise dreifach kopiert vorliegen, ist das Material, das aus der Zeit der Überwachung nach dem Ausreiseantrag 1985 stammt, nur spärlich.

Die Anerkennung seiner gesundheitlichen Haftschäden – insbesondere der körperlichen – ist Olaf bis heute nicht zu seiner Zufriedenstellung gelungen. Nach seiner Ausreise in die Bundesrepublik 1988 lässt er den schief verheilten Finger neu brechen und richten, doch es ist ihm im Nachhinein nicht mehr möglich, die Ursache der Verletzung nachzuweisen.

Im Rahmen des Prüfungsverfahrens durch die bundesdeutschen Behörden konsultiert Olaf mehrere Ärzte. Anhand der verschiedenen Gutachten erkennt ihm das Amt für Familie und Soziales letztendlich psychovegetative Störungen, jedoch keine physischen Folgeschäden an.

»Seit der Arbeit in den Lötgasen hab ich immer Kopfschmerzen. Ich hab auch immer diese Flashbacks. Ich wache nachts auf, bin schweißgebadet, hab Momente, wo ich so mittendrin bin, hab auch schon nachts um mich geschlagen.«

Bislang ist Olaf die Traumatisierung, die durch die politische Verfolgung und Inhaftierung verursacht worden ist, nicht therapeutisch angegangen. Vor allem, um für seine Familie da zu sein und die Kinder nicht darunter leiden zu lassen, zwingt er sich jahrelang dazu, zu funktionieren. Doch die juristischen Regelungen und die Ablehnung seiner Widerspruchsschreiben ernüchtern und enttäuschen Olaf nachhaltig.

»Friedliche Revolution – alles gut und schön. Aber die Täter wurden halt besser versorgt als die Opfer.«