Ursula Rebhahn (†)

Ursula Rebhahn (†)

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»Ich hätte in Mühlberg nie gedacht, so alt zu werden.«

Ursula Rebhahn wird am 18. April 1920 in Brandis geboren, einer kleinen Stadt im sächsischen Landkreis Leipzig. Ihre Mutter ist Hausfrau und ihr Vater arbeitet als Schmied. Mit sechs Jahren wird Ursula eingeschult. Drei Jahre später kommt ihre Schwester Erika auf die Welt. Ursula beendet die Volksschule im Jahr 1934 mit Abschluss der 8. Klasse und besucht für zwei Jahre eine allgemeine Berufsschule.

Zu dieser Zeit hat sich das Leben im Deutschen Reich grundlegend geändert. Die »Goldenen Zwanziger« sind längst Geschichte und münden im Oktober 1929 in einer großen wirtschaftlichen und politischen Krise. Die Ergebnisse der Reichstagswahlen am 31. Juli 1932 erteilen der parlamentarischen Demokratie eine klare Absage und überlassen der triumphierenden Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) und der ebenfalls demokratiefeindlichen Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) das Feld. Mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler ist das Ende der Weimarer Republik am 30. Januar 1933 besiegelt.

Ursula spürt die soziale Not dieser Zeit am eigenen Leib, denn ihre Suche nach einer Lehrstelle bleibt erfolglos. Doch dann findet sie Arbeit als Schreibkraft in der Banndienststelle Grimma, welche die örtliche Hitlerjugend betreut.

Im Zuge der Machtergreifung der Nationalsozialisten wird Ursula wie alle Kinder und Jugendlichen in deren Erziehungssystem eingebunden. Zunächst ist sie als Mitglied des Bundes Deutscher Mädel (BDM) im weiblichen Zweig der nationalsozialistischen Hitlerjugend (HJ) integriert.

Anschließend wechselt sie automatisch in die Teilorganisation »Glaube und Schönheit« über, welche die Aufgabe hat, die altersbedingte Lücke zwischen BDM und NS-Frauenschaft zu schließen. Mit dem Ausscheiden aus dem BDM im Alter von 18 Jahren entgleiten nämlich zunächst viele Mädchen dem Zugriff von Staat und Partei ins Privatleben. Nach ihrer Gründung 1938 überbrückt die Organisation »Glaube und Schönheit« die Zeit bis zum 21. Lebensjahr, das das Aufnahmealter in die NS-Frauenschaft darstellt.

Durch Körperertüchtigung sollen sich die zukünftigen Mütter gesund halten, während sie – so die Theorie – mit Kursen zum Gesundheitsdienst, Nachrichtenwesen oder Luftschutz darauf vorbereitet werden, im Kriegsfall die Tätigkeiten der Männer zu übernehmen. In der Praxis erhält Ursula keinerlei Unterricht zur Kriegsvorbereitung, sondern absolviert Kochkurse, macht Sport und Volkstänze in herrlichen Kleidern.

Aber der Krieg wird schnell bittere Realität. Mit 19 Jahren erlebt Ursula, wie mit dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg ausbricht. Die knapp sechs Jahre andauernden Kampfhandlungen führen nicht zu der von Adolf Hitler propagierten Erweiterung des Lebensraums im Osten, fordern aber weltweit mehr als 50 Millionen Todesopfer.

In der Konsequenz wird das besiegte Deutsche Reich in vier Besatzungszonen gespalten, in denen die alliierten Siegermächte Sowjetunion, USA, Großbritannien und Frankreich mit Hilfe von Militärregierungen die oberste Staatsgewalt ausüben. Durch den Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes und seiner Organisationen muss sich Ursula eine neue Arbeitsstelle suchen und hilft nun in einer Gärtnerei aus.

Als Ursula am 3. Oktober 1945 nach Hause kommt, trifft sie einen fremden Mann in der Küche ihres Elternhauses an. Er wolle sie zu einer Vorstellung mitnehmen, erklärt der Mitarbeiter der »Operativen Gruppe Wurzen« sehr vage, aber vehement. Die junge Frau ist skeptisch, denn natürlich hat sie davon gehört, dass in ihrer Umgebung zuletzt mehrere Jungen und der Bannführer festgenommen wurden. Auf Nachfrage versichert der Mann, sie werde noch am Abend wieder zurückgebracht, woraufhin Ursulas Vater ihr die Hausschlüssel aushändigt und sie mitfahren lässt. Vor der Polizeistelle in Wurzen hält der Pkw, der Mann lässt Ursula allein im Wagen warten.

»Wenn ich dort ausgestiegen wäre und einfach losgegangen, da wäre ich weg gewesen, aber ich hatte ja keine Ahnung, was kommt.«

Als der Mann wieder einsteigt, fährt er Ursula zum Gefängnis des Schlosses Wurzen und übergibt sie den Mitarbeitern des NKWD, des sowjetischen Volkskommissariats für innere Angelegenheiten. Anschließend nimmt man ihr nicht nur die Schlüssel und das Portemonnaie ab, sondern auch jene Habseligkeiten, mit denen sie sich verletzen könnte: den Gürtel und die Nadeln aus den zum deutschen Knoten aufgesteckten Haaren, die gerade so in Mode sind.

Ursula wird in Einzelhaft in eine Zelle gesperrt. Die Wände sind mit eingeritzten Botschaften und Namen übersät. Viele der Personen sind ihr bekannt und viele wird sie in Kürze wiedertreffen. Ursula ist die einzige Frau, die zu dieser Zeit im Wurzener Gefängnis einsitzt, und mit 25 Jahren auch die Älteste der Gefangenen. In den angrenzenden Zellen hat man mehrere 16- und 17-jährige Jungen untergebracht, denen man die Mitgliedschaft in der geheimen nationalsozialistischen Widerstandsbewegung »Werwolf« vorwirft.

Trotz der dicken Schlossmauern kann Ursula die Schreie der Jungen hören, wenn sie in den Verhören brutal gequält werden. Auch sie wird zu nächtlichen Vernehmungen aus der Zelle geholt und unter Gewaltandrohung von den Mitarbeitern des sowjetischen Geheimdienstes NKWD verhört.

»Ich dachte immer, dass ich wegen meiner Tätigkeit als BDM-Führerin, oder weil ich auf der Dienststelle gearbeitet hatte, verhaftet wurde. Das interessierte die gar nicht.«

Die NKWD-Mitarbeiter behaupten, dass Ursula in der Hitlerjugend eine militärische Ausbildung erfahren habe und Mitglied der »Werwolf«-Organisation sei. Der jungen Frau ist die Partisanenbewegung gar kein Begriff. Sie berichtet von den tatsächlichen Inhalten der »Glaube und Schönheit«-Kurse, doch die Vernehmer glauben ihr nicht. Über ihr Schicksal hat man bereits entschieden.

Während der Haftzeit im Schloss Wurzen entgeht Ursula einem Übergriff nur knapp. Drei sowjetische Soldaten stürmen ihre Zelle, doch durch das strikte Eingreifen eines Offiziers werden sie aufgehalten. Trotzdem steht die junge Frau große Angst aus. Fast zwei Wochen des Wartens vergehen, dann wird Ursula ein Koffer übergeben, den ihre Mutter für sie abgegeben hat, und in dem sich Unterwäsche, ein Schlafanzug und ein zweites Kleid befinden.

Gemeinsam mit 14 Jungen, die alle aus der nahen Umgebung stammen, wird Ursula am 14. Oktober 1945 auf die Ladefläche eines Lkw verfrachtet und in Richtung Oschatz gefahren. Vier Wachposten mit Kalaschnikows stellen sicher, dass die eingeschüchterten Gefangenen nicht miteinander reden. Kurz vor Luppa versagt das Fahrzeug seinen Dienst und die Wurzener Feuerwehr muss zum Rücktransport der Gefangenen beordert werden.

Nach einer weiteren Nacht in den Schlossgefängniszellen beginnt für die Gruppe die Fahrt und das große Rätselraten, wohin man sie wohl bringen mag, von vorn. Sie überqueren die Elbe und erreichen nahe der Stadt Mühlberg schließlich ihr Ziel, das sowjetische Speziallager Nr. 1.

Seit Kriegsende richtet das NKWD in der Sowjetischen Besatzungszone SBZ zehn Speziallager ein, die nach sowjetischen Vorgaben betrieben werden und eine ganz spezielle Form der alliierten Internierungslager darstellen. Die Lebensbedingungen der Gefangenen des NKWD unterscheiden sich eklatant von der Behandlung der Häftlinge in den Internierungslagern, die durch die Besatzungsmächte der westlichen Zonen eingerichtet werden.

Zwischenzeitlich verlassen und verwahrlost, wird das Lagergelände bei Mühlberg, auf dem sich zuvor ein Kriegsgefangenenlager der Wehrmacht befand, ab September 1945 wieder genutzt. Bis 1948 weisen die Operativgruppen des NKWD aus Sachsen und Sachsen-Anhalt etwa 21.800 Deutsche, die unter Feindverdacht stehen, in das Speziallager ein.

Als Ursula und ihre Mitgefangenen am 15. Oktober 1945 am Außentor eintreffen, ist das Lager mit einer Belegschaft von ca. 1.500 Personen noch weitestgehend leer, doch später werden hier bis zu 12.000 Menschen gleichzeitig gefangen gehalten, verteilt auf insgesamt nur 40 Baracken. Jeden Tag erreichen kleinere oder große Gefangenentransporte das Lager. Für den Bann Grimma sind sechs Transporte ins Speziallager Nr. 1 belegt und insgesamt finden durch das NKWD in den Jahren 1945 und 1946 etwa 270 Verhaftungen in Wurzen und Umgebung statt.

Von einer russischen Offizierin, die ihr aufgrund ihres gepflegten Erscheinungsbildes im Gedächtnis bleibt, wird Ursula in Empfang genommen und gefilzt. Glücklicherweise darf sie alle Kleidungsstücke behalten, die sie mit sich führt.

»Es war nicht viel, half uns aber in der ersten Zeit so sehr. Mein Schlafanzug machte immer die Runde. Es war selbstverständlich, dass man weitergab, was man hatte.«

Am inneren Lagertor wird Ursula dann von der deutschen Lagerleitung empfangen. Diese besteht aus Inhaftierten, die von der sowjetischen Lagerleitung für diese Posten ausgewählt, dazu angewiesen und kontrolliert werden. Es ist für Ursula eine freudige Überraschung, mit Dorle Schröter, hier nun Barackenälteste und Leiterin des Frauenlagers, ein bekanntes Gesicht inmitten der fremden und trostlosen neuen Umgebung zu sehen. Lächelnd kommt ihr die ehemalige Bannmädelführerin aus Aue entgegen und führt sie zur Unterkunft.

Die Frauenbaracke befindet sich im Oktober 1945 in der Baracke Nr. 4, mitten auf dem Lagergelände. In den ersten Wochen müssen die Frauen zum täglichen Zählappell noch direkt neben den Männern antreten.

Ab November 1945 zieht das Frauenlager in den nordöstlichen Bereich um und wird vom Männerlager durch einen hohen Drahtzaun, dem sich die Männer auf maximal zehn Meter nähern dürfen, konsequent abgeschirmt. Zehn der internierten Frauen werden gemeinsam mit ihren Ehemännern im sowjetischen Speziallager Nr. 1 gefangen gehalten, in zwei hermetisch voneinander abgetrennten Lagerbereichen. Dass sie eigentlich wenige hundert Meter voneinander entfernt sind, erfahren sie nur, wenn die Gerüchteküche funktioniert.

Anfangs versucht man dann, sich an der Grenze zum Frauenlager über den Weg zu laufen, doch später wird das Männerlager in Zonen unterteilt und ein freies Bewegen über das Lagergelände unmöglich. Ursula erlebt tragische Szenen, bei denen sich Eheleute nicht wiedererkennen, wenn sie sich völlig abgemagert und in Lumpen gekleidet über den Weg laufen.

Die Zahl der inhaftierten Frauen ist unterdessen auf fast 100 gestiegen und nimmt kontinuierlich zu. Sie werden nun in einem Steinhaus und in Holzbaracken untergebracht, die aus der Zeit des Kriegsgefangenenlagers stammen und neu hergerichtet wurden.

Während in den Männerbaracken bis zu 250 Mann auf engstem Raum hausen, haben die Frauen hier kleinere Zimmer, denen sie euphemistische Namen geben: So bewohnen sie ein Fürstenzimmer, eine Jakobsstube, die bayerische Bierstube, die Arche Noah und den Schafstall oder das Wasch- und Nähfrauenzimmer. Mit etwa 100 Frauen auf jeder Stube sind die Unterkünfte ebenfalls überbelegt, und es gibt keine Betten, sondern blanke Holzpritschen ohne Decken.

Am ersten Morgen wacht Ursula auf und ist von oben bis unten mit Quaddeln übersäht. Die Frauen, die schon länger inhaftiert sind, versichern ihr, sie werde sich an die Flöhe schon gewöhnen. Den widrigen Umständen trotzend bemühen sich die Frauen um ein großes Maß an Sauberkeit in den Baracken und versuchen, auch ihr Äußeres zu pflegen. Den deutschen Knoten kann sich jedoch keine mehr aufstecken, denn sie besitzen keine Haarnadeln, und so tragen fast alle Frauen einen Zopf.

Gewaschen wird sich in Steinrinnen, die jeweils in der Mitte von zwei Baracken stehen. Da es nur kaltes Wasser gibt, stellen die Frauen im Winter sämtliche Blechdosen, die sie auftreiben können, mit Wasser gefüllt auf die langen Ofenrohre, die durch die Baracken führen. So kommt abwechselnd jede einmal in den Genuss, sich warm zu waschen. Auch im Waschhaus, das im Frauenlager eingerichtet ist, nutzen sie die großen Kübel, um ab und an selbst darin ein Bad zu nehmen.

Besonders die älteren Frauen sind es nicht gewohnt, sich vor anderen nackt zu zeigen, und tun sich zunächst schwer mit der Situation. Intimsphäre ist ein Luxus, den das Speziallager seinen Insassen verweigert. In den Toilettenhäusern sind Plumpsklos in Reihe angeordnet und so verrichtet man seine Notdurft unmittelbar neben der Nachbarin.

Seife, Zahnbürste oder Toilettenpapier existieren im Lager Mühlberg nicht. Mit kleinen Stückchen Stoff, die in dem kalten Wasser der Waschrinnen gespült werden, versucht man sich zu behelfen. Binden für die Monatshygiene gibt es keine, doch bei den meisten Frauen bleibt die Regelblutung vor Schreck und durch die Mangelernährung zunächst aus.

Mühlberg ist ein Schweigelager, das seine Insassen von der Außenwelt isolieren soll. Ohne Kenntnis der Dauer ihres Aufenthalts ist es für jeden die größte Herausforderung, Zuversicht zu üben. Bis auf die Tätigkeiten, die den laufenden Betrieb der Einrichtung gewährleisten sollen, ist keine Arbeit vorgesehen. Die Inhaftierten des Speziallagers Nr.1 sind deshalb stets bemüht, irgendeine Form der Betätigung für sich zu finden, welche die Zeit vergehen lässt.

»Denn nichts ist schlimmer als Langeweile.«

Einige Frauen werden in den Küchen der russischen Offiziere und der Mannschaft beschäftigt, andere sind mit dem Waschen der Wäsche beauftragt. Ursula wird für die Ab- und Anmeldung des Versorgungstrupps in der Stabsbaracke eingesetzt. Sie meldet, wie viele Personen am Morgen das Frauenlager verlassen, um auf ihre Arbeitsstelle zu gehen, und somit aus dem Kontingent der Mittagsverpflegung herausfallen. Die meisten Frauen helfen im Lagerlazarett als Schwestern aus.

Auch gefangene deutsche Ärzte arbeiten im Lazarett und müssen dabei nahezu ohne medizinische Gerätschaften, Verbandsmaterial und Medikamente auskommen, denn im Speziallager Mühlberg mangelt es an allem. So wird improvisiert: Zur Behandlung von Darmerkrankungen setzt man selbstgefertigte Holzkohle ein, bei Entzündungen führt man eine Eigenurin-Therapie durch und Furunkel werden ausgebrannt. Den katastrophalen Umständen trotzend, führen die Chirurgen sogar Operationen durch.

Wer im Speziallager Nr. 1 Mühlberg erkrankt, gerät zwangsläufig in eine schier hoffnungslose Lage. Krankheiten wie Ruhr, Wundrose und Tuberkulose breiten sich ungehindert und nahezu epidemisch aus. Die Mangelernährung führt bei den Gefangenen zu schweren Abmagerungszuständen, zum Abbau von körperlichen und psychischen Funktionen und begünstigt entzündliche Krankheiten.

Weil sie sich ihr Bein gestoßen hat, leidet Ursula an einer eitrigen Infektion. Ihr Fuß schwillt davon so stark an, dass sie ihren Schuh kaum ausziehen kann. Letztendlich entscheiden sich die Ärzte dafür, die Wunde aufzuschneiden. Eine Betäubung können sie Ursula dafür nicht anbieten. Im Anschluss muss sie noch viele Tage liegen und sich schonen, doch das Bein verheilt gut.

»Die Männer sagten: ›Solange wir noch sehen, dass ihr Frauen so tapfer seid, halten wir auch durch!‹«

Tatsächlich liegt die Sterberate der Frauen bei weniger als einem Zehntel, während im Männerlager etwa jeder dritte seine Haftzeit im Lager Mühlberg nicht überlebt. In der Zeit seines Bestehens, also von Ende September 1945 bis Ende September 1948, sterben im Speziallager Nr. 1 insgesamt 6.765 Gefangene, darunter sind 30 Frauen.

Jeder Tag im Speziallager Mühlberg ist ein Kampf mit dem eigenen Durchhaltevermögen. Der Hunger ist für die Frauen vielleicht das kleinere Übel. Es ist die Aussichtslosigkeit, welche die meisten Opfer fordert. Besonders für die älteren Frauen, die sich Tag und Nacht um das Wohlergehen ihrer Kinder zu Hause sorgen, wiegt jede Stunde der Isolation schwer. In ihrer Position darf sich Ursula relativ frei über das Lagergelände bewegen und mehr als einmal hält sie dabei inne, sieht sich um und fragt sich mutlos, ob sie wohl den Rest ihres Lebens in diesem grausamen Umfeld verbringen müsse.

»Entweder man entscheidet sich, man will leben, und dann muss man am Leben teilnehmen, oder man lässt es und geht ein. Und die meisten entschieden sich dann.«

Die Frauen versuchen, sich auf jede erdenkliche Weise zu beschäftigen, und machen aus der Not eine Tugend. Als einer der männlichen Gefangenen in Begleitung von Sowjetoffizieren nach Hause geschickt wird, um Noten, Kulissen und Kostüme für das Lagertheater zu besorgen, bitten ihn die Frauen, auch Nähnadeln mitzubringen. Die Elektriker des Lagers basteln ihnen Stricknadeln aus Kupferdraht, und dann beginnen die Frauen mit ihren Handarbeiten. Aus Bettlaken nähen sie sich BHs oder Taschentücher. Einer der Internierten trägt ein blaues Panamahemd. Die Frauen tauschen ihm den Teil, der unsichtbar in der Hose steckt, gegen weißen Stoff aus und trennen dann Faden für Faden davon ab, um mit dem gewonnenen Garn blaue Stickereien anzufertigen.

Auch die Kleidung Verstorbener, die ihnen überlassen wird, verwerten sie und nähen sich Röcke aus dem sorgsam aufgetrennten Oberstoff von Männerwesten. Aus Pullovern und Strickjacken häkeln sie sich warme Schlüpfer für den Winter. Einmal bekommen sie von der Lagerleitung eine große Menge Fallschirmschnur, die jedoch auf Stückchen von etwa 40 Zentimetern zugeschnitten ist. Aus diesen Fäden oder dem wollenen Anteil des Materials der Jutesäcke, in denen der Zucker für die Lagerküche geliefert wird, stricken sie Socken und statten damit viele Lagerinsassen aus. Obgleich sie innen von Knoten übersäht sind, weisen die Handarbeiten nach außen hin feine Muster auf.

Foto zweier Handarbeiten, die im Frauenlager des a class=

Diese zwei Handarbeiten wurden im Frauenlager des Speziallagers Nr. 1 angefertigt und sind heute im Bestand des Museums Mühlberg 1547. Quelle: Landkreis Elbe-Elster, Museum Mühlberg 1547

»Die Knoten störten uns auch nicht mehr. Wir hatten ja nichts. Manche waren barfuß gekommen, die zogen alles an, da kratzte kein Strumpf.«

Auf diese Weise werden viele Kleidungsstücke neu produziert oder Sachen ausgebessert, die durch das monatelange ununterbrochene Tragen bereits Verschleiß aufweisen. Viele Nöte können die geschickten Näherinnen lindern, doch das ein oder andere muss man im Lageralltag auch einbüßen.

Ursula trägt schöne schwarze Lederschuhe, als sie eingeliefert wird. Als die Schuhe eines Tages schadhaft sind, gibt Ursula sie zur Reparatur in die Schuhmacherei, die im Männerlager eingerichtet ist. Eigentlich nur, um die Wartezeit zu überbrücken, erhält sie handgeschnitzte Holzpantoletten. Doch Ursula bekommt ihre Lederschuhe niemals zurück. Als es repariert ist, verschenkt ein russischer Wachposten das Paar an eine französische Insassin, mit der er eine Affäre unterhält.

Der Erfindungsreichtum der Frauen erstreckt sich auf viele Bereiche. Aus dem schmutzigen Tümpel, der sich inmitten des Frauenlagers befindet, legen sie 1946 einen Teich an, der von Blumen- und Gemüsebeeten gesäumt ist. Woher die Samen stammen, kann niemand mehr nachvollziehen, doch die Frauen ziehen Ringelrosen und Petunien und binden sich Sträuße daraus.

Die Frauenlagerleiterin Dorle Schröter kann nach mehr als 25 Vorsprachen beim sowjetischen Lagerchef Kapitän Samoilow durchsetzen, dass sich die Frauen gegenseitig unterrichten dürfen. Unter den Inhaftierten gibt es die verschiedensten Berufe, Bildungsgrade und sozialen Herkünfte. Die Frauen halten Vorträge und bringen sich Englisch bei. Schriftstellerinnen und Dichterinnen tragen ihre Werke vor.

Alles findet mündlich statt, denn Schreibutensilien darf keiner der Gefangenen besitzen. Doch selbst hier ist man kreativ und schreibt mit dem Finger in den staubigen Sand. Jede kann sich in die Bildungskreise einbringen, und wenn sie nur zur Unterhaltung die Handlung von Büchern und Spielfilmen wiedergibt oder von Reisen an fremde Orte berichtet.

Obwohl es angesichts ihrer Situation und Umgebung absurd wirkt, lassen sich die Frauen von einer Insassin mit adliger Herkunft sogar Anstandsunterricht erteilen. Doch jede Lehreinheit trifft auf wache Geister und vertreibt zudem die Zeit, von der mehr als genug vorhanden ist.

»Für mich war das eine große Lebensschule. Ich bezeichne es als solche.«

Der Zusammenhalt unter den Frauen ist stark. In der Gemeinschaft bilden sich kleine familiäre Strukturen aus, indem sich drei oder vier junge Mädchen an eine ältere Frau binden, ihre »Lagermutti«. So unterstützen sie sich gegenseitig und finden immer eine Schulter zum Anlehnen und Ausweinen.

Die Frauen feiern ihre Geburtstage mit handgefertigten Geschenken und mit Torten, deren Herstellung aufwendig ist: Jeden Tag wird eine Scheibe des wenigen Brotes, das sie zugeteilt bekommen, aufgehoben. Die Aufbewahrung allein ist ein heikles Unterfangen, denn ihre Unterkünfte sind ein Tummelplatz für zahlreiche Ratten. In selbstgenähten Brotbeuteln, die eine von ihnen nachts bewachen muss, schützen sie die kostbare Nahrung. Dann werden die Brotscheiben auf den Ofenrohren getrocknet, bis sie kross sind, und zu Mehl gemahlen. Vermischt mit Getreidekaffee wird das Mehl ein Brei, den man zu einer Torte formt und anschließend mit den mühsam gesammelten Tagesrationen aus Butter und Marmelade verziert. Wenn am nächsten Tag noch jemand Geburtstag hat, wird die Verzierung nicht gegessen, sondern wiederverwendet.

Die anfängliche Schockstarre der Gefangenschaft ist überwunden und die Frauen versuchen nun stets, auch in der Not den Mut und die Freude am Leben zu bewahren. Sie singen und lachen sogar, wenn sich die Möglichkeit dazu bietet.

»Man wundert sich, wie man sich so was einrichtet. Aber so kamen wir durch die Jahre. Das musste man ganz einfach, sonst wäre man eingegangen. Wir wollten alle wieder nach Hause.«

Am 31. März 1947 erreicht das Lager Mühlberg ein erster von zwei Transporten mit mehr als 2.000 Inhaftierten aus dem aufgelösten Speziallager Nr. 6 Jamlitz bei Lieberose. Weil das Frauenlager mit 560 Personen bereits aus allen Nähten platzt, werden die 880 Jamlitzer Frauen in den Baracken 30 / 30a und 31 / 31a untergebracht, in denen deutlich schlechtere Bedingungen herrschen als in den Steinbaracken.

Mit den Neuankömmlingen werden auch fünf Kinder ins Lager Mühlberg eingeliefert. Die kleinen Jungen und Mädchen, von denen das jüngste elf Wochen und das älteste vier Jahre alt ist, sind allesamt in Gefangenschaft geboren. Ihre Mütter waren bereits schwanger, als sie verhaftet wurden, oder haben sich mit einem Mitgefangenen oder einem sowjetischen Wachposten eingelassen. Das Frauenlager freut sich über den niedlichen Zuwachs, der so viel Hoffnung in dieser lebensfeindlichen Umgebung spendet. Auch die Männer versuchen, Kontakt zu den Kindern zu bekommen, und fertigen ihnen kleine Skimützen an, die zur damaligen Zeit modern sind.

Es ist belegt, dass auch im Speziallager Mühlberg 1947 ein Kind geboren wird, ein Mädchen, das Ergebnis einer Liebesbeziehung zwischen zwei Gefangenen ist. Für die Mutter wäre im Lager sogar eine Abtreibung möglich gewesen, doch sie entschließt sich, das Kind zu behalten. Aus der Kleidung von Toten näht sie Bekleidung für ihre Tochter und ernährt sie hauptsächlich mit Pellkartoffeln. Mutter und Tochter werden im Juli 1948 gemeinsam entlassen.

Zu diesem Zeitpunkt beginnt in Mühlberg eine große Entlassungsaktion. Durch das Lager wird zunächst eine Grenze gezogen, dann ruft man nach und nach Insassen auf und verlegt sie. Wer in den Quarantänebereich kommt, den begrüßt die Freiheit in der Regel schon am nächsten Morgen. Fast täglich dürfen zwischen 100 und 240 Gefangene die Heimreise antreten.
Auch Ursula wird aufgerufen und in einen anderen Bereich des Lagers verlegt, aber nicht entlassen. Sie kommt am 21. September 1948 auf einen von zwei Transporten und wird mit 2.269 Frauen und Männern in eine andere Einrichtung der Abteilung Speziallager des NKWD überführt.

Auf dem Bahnhof Neuburxdorf verlädt man die Gefangenen zu je 45 Personen in Güterwagen. Es ist sehr warmes Spätsommerwetter, und man gibt ihnen zwar Röstbrot als Verpflegung, jedoch kein Wasser. Durch die Fenster des Waggons kann Ursula die Kirchtürme ihrer Heimat sehen. Auf dem Bahnhof Wurzen hält der Zug sogar für kurze Zeit, fährt aber weiter, bis der Transport sein Ziel erreicht: Das sowjetische Speziallager Nr. 2 Buchenwald.

Das Speziallager auf dem nordwestlichen Ettersberg bei Weimar entsteht im August 1945. Das Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald, welches gegen Ende des Zweiten Weltkriegs durch die 3. US-Armee befreit wird, geht nach deren Abzug aus Thüringen in die Verwaltung des sowjetischen Geheimdienstes über. Hier interniert das NKWD, später umbenannt in MWD, politische Gefangene, die vorgeblich Nationalsozialisten, Mitläufer und vermeintliche Kriegsverbrecher sind.

Insgesamt werden im Speziallager Buchenwald etwa 28.000 Menschen inhaftiert, davon sind etwa 1.000 Personen Frauen sowie in Lagerhaft geborene Kinder. Mehr als 7.000 Menschen erleiden den Tod und werden in Massengräbern verscharrt.

Ursula empfindet den Haftalltag im Speziallager Buchenwald als deutlich strenger reglementiert als zuvor in Mühlberg. Die Unterbringung erfolgt ebenfalls in großen Baracken, die hier allerdings nicht mit Holzpritschen, sondern mit Doppelstockbetten ausgestattet sind. Immer zwei Frauen liegen auf jeder Etage des Stahlgestells.

Die sowjetischen Wachposten verlangen, dass die Böden der Unterkünfte stets sauber gehalten werden. Weil das Wischwasser unter einer morschen Diele versickert, entdecken die Frauen ein geheimes Kohlenversteck ihrer Vorgänger. Ein Glücksfall, denn die zugeteilten Mengen Heizmaterial reichen kaum aus, um die Baracke warm zu halten.

Auch das Speziallager Buchenwald ist nicht als Arbeitslager angelegt und das Fehlen jedweder Beschäftigung kennzeichnet den Alltag der meisten Inhaftierten. Ursula jedoch wird im Drei-Schicht-System in der Lagerschneiderei eingesetzt, wo sie Näh- und Bügelarbeiten verrichtet. Wer die Nachtschicht hat, muss tagsüber zusehen, wie er in der überfüllten Baracke zu etwas Schlaf kommt. Es gibt keinen Rückzugsort, keine Ruhe.

Erstmalig bekommen die Gefangenen Zeitungen ausgeteilt und damit den langersehnten Kontakt zur Außenwelt, von der sie seit Jahren abgeschnitten blieben. Aus dem »Neuen Deutschland« erfahren sie nun von der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik DDR am 7. Oktober 1949 und lesen auch, dass die angeblich letzten sowjetischen Gefangenen nach Hause zurückgekehrt seien. Sie nehmen die Nachricht zum Anlass, einen Streik anzuzetteln. Doch ihr Widerstand führt lediglich zu Bunkerhaft.

Anfang des Jahres 1950 geschieht, worauf alle seit Jahren hoffen. Ursula liegt gerade auf dem Bett einer Kameradin, als sie aufgeregte Rufe hört, die den Beginn der Entlassungen verkünden. Trotz aller Aufruhr muss Ursula allerdings erst einmal ihre Abendschicht in der Schneiderei ableisten. Als sie nach der Arbeit zurückkehrt, fehlen schon etliche Insassinnen der Baracke.

Nach welcher Systematik die Reihenfolge ihrer Entlassungen bestimmt wird, ist nicht erkennbar, doch in Erwartung des Aufrufs bereiten sich viele Frauen schon auf die baldige Heimkehr zur Familie vor und drehen ihre Haare in Papier, um hübsche Locken zu erzeugen. Diejenigen, die aufgerufen werden, verbringen eine Nacht in Quarantäne und werden am nächsten Morgen in das sowjetische Vorlager geführt, wo man die Habseligkeiten, die sie mitnehmen dürfen, auf verbotene Gegenstände durchsucht. Nach der gründlichen Leibesvisitation durch die Posten, die dabei auch mehrfach durch die Haare fahren, sind die mühsam hergerichteten Frisuren wieder zerstört.

»Man musste sich vollkommen nackt ausziehen. Wir sagten: ›Und wenn sie uns nackt nach Hause schicken – wir gehen. Wir brauchen uns nicht zu schämen. Die sollen sich schämen!‹«

Ursulas Name wird am 1. Februar 1950 aufgerufen. Danach wird das sowjetische Speziallager Nr. 2 Buchenwald geschlossen. Doch die endgültige Lagerauflösung bedeutet nicht die Freiheit für alle Insassen. 2.154 Personen überführt man in das Zuchthaus Waldheim, wo sie in rasanten Schauprozessen ohne Rechtsgrundlage zu langjährigen Haftstrafen sowie in 32 Fällen zum Tode verurteilt werden.

Bei den Entlassungsaktionen aus den Speziallagern übergibt die sowjetische Besatzungsmacht ihre Gefangenen an die deutschen Landespolizeibehörden und tritt somit auf den ausgestellten Entlassungsscheinen der Heimkehrenden ebenso wenig offiziell in Erscheinung, wie der genaue Aufenthaltsort der vergangenen Jahre. Ursula und ihre Kameraden erhalten neben dem Entlassungsdokument einen Kanten Brot als Fahrtverpflegung, dazu Butter und ein Tütchen Malzkaffee.

Außerdem bekommt Ursula endlich ein richtiges Paar Schuhe ausgehändigt. Es sind sogenannte Lingelschuhe, leichte Schnürer aus Stoff und Kunststoff. Auch den Hausschlüssel, den ihr der Vater am Tag der Verhaftung übergeben hatte, erhält sie nun wieder. Dann werden die Entlassenen mit Fahrgeld ausgestattet und zum Bahnhof von Weimar gebracht, wo sie selbst entscheiden dürfen, wohin sie fahren möchten. Eine Übersiedlung in die Bundesrepublik ist zu diesem Zeitpunkt durchaus möglich, denn die DDR beginnt erst zwei Jahre später mit dem intensiven Ausbau der deutsch-deutschen Grenze.

Mit dem Zug tritt Ursula die Rückreise in ihren Heimatort Brandis an. Seit der Verhaftung vor viereinhalb Jahren gab es für sie keine Möglichkeit, die Familie über ihren Verbleib zu informieren. Hinweise erhielten die Eltern, als 1948 die ersten Personen aus dem Speziallager Mühlberg entlassen wurden und die Angehörigen derjenigen benachrichtigten, die sie im Lager kennengelernt hatten. Mit einem Telegramm hat eine Kameradin aus Wurzen, die eine Woche zuvor aus Buchenwald entlassen wurde, nun Ursulas baldige Rückkehr angekündigt. Voreilig backt Ursulas Mutter Kekse, um die Ankunft der Tochter zu feiern, doch bis jene zu Hause eintrifft, ist die Süßspeise längst aufgegessen.

Jeden Tag besuchen die früher entlassenen Lagerinsassen den Leipziger Hauptbahnhof, um ihre heimkehrenden Kameraden freudig in der neu erlangten Freiheit zu begrüßen. Ursula ist beeindruckt von dem herzlichen Empfang.

Weil es keine Bahnverbindung gibt, die sie direkt in den Heimatort bringt, nimmt sie einen Zug nach Gerichshain und läuft die letzten drei Kilometer nach Brandis. Dass ihr auf dem Weg die Füße in den dünnen Stoffschuhen durch den Schneematsch nass und kalt werden, nimmt sie überhaupt nicht wahr, so viele sorgenvolle Gedanken gehen ihr durch den Kopf. Im Dunkel der Nacht steht sie schließlich unter dem Küchenfenster des Elternhauses, holt tief Luft und ruft dann zaghaft nach ihrer Mutter.

»Das ist ein komisches Gefühl, wenn man da unterm Fenster steht und denkt: Na, was wird dich jetzt erwarten? Ob alle da sind? Ob sie überhaupt da sind?«

Ursulas Mutter schreit vor Überraschung laut auf, als sie die Stimme ihrer Tochter erkennt. Dann läuft sie los, um den Vater aus der Singstunde des Gesangsvereins zu holen, während Ursula ihre Schwester Erika begrüßt, die mit beginnender Diphtherie im Bett liegt. Die Freude über das Wiedersehen ist so groß, dass ihr die Ansteckungsgefahr völlig gleichgültig ist. Doch Ursula bleibt gesund, und ihr Hausarzt, der sie bald darauf untersucht, kann bestätigen, dass sie auch keine Tuberkuloseinfektion aus der Lagerhaft mitgebracht hat.

Als Erika wieder auf den Beinen ist, kann sie einen langgehegten Wunsch umsetzen: Sie lässt ihr langes Haar zum Bubikopf abschneiden, denn der Vater verbot es, solange Ursula fort war, mit der Begründung, die große Schwester werde darüber schimpfen. Nun ist Ursula zurück und trägt selbst eine Kurzhaarfrisur, weil sie ihr immer dünner werdendes Haar noch kurz vor der Entlassung hatte abschneiden lassen.

Die Umstellung auf einen selbstbestimmten Alltag ist für die ehemaligen Gefangenen in allen Bereichen des Lebens eine Herausforderung. Eine Freundin berichtet, dass sie nach der Rückkehr ein komplettes Weißbrot allein verzehrt, Ursula hingegen gelüstet es nach grünen Erbsen. So kocht sie sich eine ganze Schüssel davon und isst vor den Augen ihrer kopfschüttelnden Mutter den kalten Inhalt auf.

Alte Freunde und Bekannte zeigen sich meistens verständnisvoll und bringen sogar etwas Essen vorbei, um die Familie zu unterstützen. Doch eine gewisse Stigmatisierung und einen stetigen Rechtfertigungszwang bringt die Rückkehr aus der Gefangenschaft mit sich. Zwar wurden die ehemaligen Gefangenen durch einen sowjetischen Offizier angewiesen, nicht über ihre Zeit im Speziallager zu sprechen, doch nicht immer hält sich Ursula daran.

Aufgrund der Vorurteile erhält die mittlerweile 30-Jährige keine der ihr vom Arbeitsamt zugewiesenen Stellen. Schließlich findet sie eine Anstellung in einem Büro, weil ihr Arbeitgeber aufgrund der Tatsache, dass seine Tochter ein ähnliches Schicksal erlitt, keine Probleme mit Ursulas Vergangenheit hat.

So kehrt Alltag in Ursulas Leben ein, und die Jahre vergehen. In den 1950er-Jahren arbeitet Ursula zeitweise in Luckenwalde, etwa 50 Kilometer südlich von Berlin. Jedes zweite Wochenende besucht sie im westlichen Sektor eine Freundin, mit der sie in Buchenwald interniert war. Sie lernt die Stadt kennen, besucht Kinovorstellungen und Theateraufführungen und staunt über die Fülle der Angebote in den Läden. Immer wieder begegnet sie alten Kameraden aus den zwei sowjetischen Speziallagern. In dieser Zeit hilft Ursula zahlreichen Bekannten bei der Flucht aus der DDR oder schmuggelt Waren über die Zonengrenze, wie die sieben Meter Taft für das Hochzeitskleid einer Freundin, die sie sich um den Leib wickelt. Unbekümmert ist sie dabei nie.

»Ich hatte immer Angst, dass die mich mal wieder holen. Man wusste ja nie, wie lange man noch bewacht wird.«

Mitte der 1960er-Jahre kehrt Ursula wieder zurück nach Brandis zu ihrer Familie und einer Freundin und arbeitet in einer Produktionsgenossenschaft des Handwerks (PGH). Gemeinsam mit ihrer Schwester Erika pflegt sie die Mutter bis zu deren Tod.

Ursula und Erika gründen keine eigenen Familien, doch die Wohnung der Rebhahns ist immer von Kinderlachen erfüllt, denn Erika arbeitet als Kindergärtnerin. Sie liebt ihren Beruf, leidet aber unter der politischen Bevormundung der SED. Ursula rät ihr, einfach herunterzubeten, was in der Zeitung steht. Sie selbst hat in der Lagerhaft beschlossen, sich niemals mehr einer Organisation anzuschließen oder irgendeine Form von Verantwortung zu übernehmen.

Die stetige Vorsicht vor möglichen Konsequenzen durch das kommunistische Regime hat für Ursula mit der politischen Wende und der deutschen Wiedervereinigung ein Ende. Erst jetzt beginnt auch in der Öffentlichkeit eine Aufarbeitung der Speziallagerzeit.

Der Betrieb des Speziallagers Nr. 1 Mühlberg wird mit dem Befehl Nr. 002 940 / 6 vom 1. Oktober 1948 eingestellt und die meisten Baracken abgebaut. Bis Ende 1950 bleibt noch eine sowjetische Wache vor Ort, dann werden die restlichen Gebäude abgerissen und das Gelände an die Stadt Mühlberg und umliegende Dörfer aufgeteilt. Da bei der landwirtschaftlichen Nutzung immer wieder Knochenfunde auftreten, entschließt sich die DDR zu einer Aufforstung des Areals. Der Chlorkalk, der über die in Massengräbern verscharrten Leichen gestreut wurde, verrät anhand des verkrüppelten Wuchses der Eichen bis heute die Lage des Gräberfeldes.

Die Initiativgruppe Lager Mühlberg e. V. (ILM), die sich im Januar 1991 als Zusammenschluss der Überlebenden des Lagers und der Angehörigen von Opfern und Überlebenden gründet und auf dem Gelände eine Mahn- und Gedenkstätte einrichtet, organisiert auch jährliche Gedenktreffen. Ihre erste Zusammenkunft, zu der die ehemaligen Lagerinsassen mit etlichen Bussen anreisen, ist ein überwältigendes Wiedersehen für viele, so auch für Ursula.

Seither nimmt sie jedes Jahr teil und hat aufgrund gesundheitlicher Probleme nur zwei Treffen versäumt. Meistens reist sie gemeinsam mit einem befreundeten Ehepaar aus Bad Lausick an, einem Mann und dessen Frau, die sowohl in Mühlberg als auch in Buchenwald Ursulas Schicksalsgefährtin war.

Foto von Ursula Rebhahn beim Mahn- und Gedenktreffen der ILM im Jahr 2012]

Ursula Rebhahn beim Mahn- und Gedenktreffen der ILM im Jahr 2012

Auch auf dem Ettersberg wird zu DDR-Zeiten ein Teil der Geschichte des Geländes verleugnet. Die 1958 eingeweihte Nationale Mahn- und Gedenkstätte befasst sich nur mit der KZ-Vergangenheit zu Zeiten des Nationalsozialismus und rückt die deutschen kommunistischen Widerstandskämpfer in den Fokus. Seit 1990 wird die Neukonzeption der Gedenkstätte umgesetzt und 1997 in der Nähe der Gräberfelder ein Ausstellungsgebäude mit einer Dauerausstellung zur Geschichte des sowjetischen Speziallagers Nr. 2 Buchenwald errichtet.

Im Alltag lässt Ursula das Erlebte ruhen, doch wenn das Mahn- und Gedenktreffen näher rückt, merkt sie die emotionale Belastung deutlich. Die Erinnerung an ihre Haftzeit hält sie für sich vor allem durch die private Verbindung mit vielen ehemaligen Kameraden wach. Ursula bedauert aber, dass die meisten ihres Jahrgangs mittlerweile nicht mehr am Leben sind. Der Personenkreis, mit dem sie sich über die gemeinsam erlebte Vergangenheit unterhalten kann, fehlt ihr.

»Warum ich so alt werden musste, weiß ich nicht. Wir hätten in Mühlberg nie gedacht, so alt zu werden.«

Außer ihren Großcousinen und -cousins sind auch die meisten Familienmitglieder der 98-Jährigen bereits verstorben, so auch ihre neun Jahre jüngere Schwester Erika, die vor acht Jahren verschied. Nach wie vor weiß Ursula aber ihren großen, verlässlichen Freundeskreis zu schätzen, der sie viel unterstützt. Zwar hat das Alter sie körperlich eingeschränkt, doch ihr Geist ist wach und reflektiert. Ursulas Lebenserfahrung umfasst schon beinahe ein ganzes Jahrhundert, ein Zeitraum, in der sich die Welt mehrfach stark gewandelt hat. Sie hat vier politische Systeme miterlebt und blickt trotz ihrer Erlebnisse in sowjetischer Gefangenschaft nicht verbittert zurück.

»Ich würde die Zeit gern streichen, ja, aber ich kann sie nicht wieder holen. Und deswegen habe ich meinen Frieden damit gemacht.«

Obwohl Ursula augenzwinkernd davon sprach, dass es nun ihr ausgemachtes Ziel ist, die 100 zu erleben, gelingt es ihr letztendlich nicht, dieses hohe Lebensalter zu erreichen. Ursula Rebhahn verstirbt am 17. Oktober 2019 im Alter von 99 Jahren. Mit einer emotionalen Trauerfeier wird sie am 1. November 2019 von ihren Freunden und Kameraden für immer verabschiedet.

»Ich hätte in Mühlberg nie gedacht, so alt zu werden.«

Ursula Rebhahn wird am 18. April 1920 in Brandis geboren, einer kleinen Stadt im sächsischen Landkreis Leipzig. Ihre Mutter ist Hausfrau und ihr Vater arbeitet als Schmied. Mit sechs Jahren wird Ursula eingeschult. Drei Jahre später kommt ihre Schwester Erika auf die Welt. Ursula beendet die Volksschule im Jahr 1934 mit Abschluss der 8. Klasse und besucht für zwei Jahre eine allgemeine Berufsschule.

Zu dieser Zeit hat sich das Leben im Deutschen Reich grundlegend geändert. Die »Goldenen Zwanziger« sind längst Geschichte und münden im Oktober 1929 in einer großen wirtschaftlichen und politischen Krise. Die Ergebnisse der Reichstagswahlen am 31. Juli 1932 erteilen der parlamentarischen Demokratie eine klare Absage und überlassen der triumphierenden Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) und der ebenfalls demokratiefeindlichen Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) das Feld. Mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler ist das Ende der Weimarer Republik am 30. Januar 1933 besiegelt.

Ursula spürt die soziale Not dieser Zeit am eigenen Leib, denn ihre Suche nach einer Lehrstelle bleibt erfolglos. Doch dann findet sie Arbeit als Schreibkraft in der Banndienststelle Grimma, welche die örtliche Hitlerjugend betreut.

Im Zuge der Machtergreifung der Nationalsozialisten wird Ursula wie alle Kinder und Jugendlichen in deren Erziehungssystem eingebunden. Zunächst ist sie als Mitglied des Bundes Deutscher Mädel (BDM) im weiblichen Zweig der nationalsozialistischen Hitlerjugend (HJ) integriert.

Anschließend wechselt sie automatisch in die Teilorganisation »Glaube und Schönheit« über, welche die Aufgabe hat, die altersbedingte Lücke zwischen BDM und NS-Frauenschaft zu schließen. Mit dem Ausscheiden aus dem BDM im Alter von 18 Jahren entgleiten nämlich zunächst viele Mädchen dem Zugriff von Staat und Partei ins Privatleben. Nach ihrer Gründung 1938 überbrückt die Organisation »Glaube und Schönheit« die Zeit bis zum 21. Lebensjahr, das das Aufnahmealter in die NS-Frauenschaft darstellt.

Durch Körperertüchtigung sollen sich die zukünftigen Mütter gesund halten, während sie – so die Theorie – mit Kursen zum Gesundheitsdienst, Nachrichtenwesen oder Luftschutz darauf vorbereitet werden, im Kriegsfall die Tätigkeiten der Männer zu übernehmen. In der Praxis erhält Ursula keinerlei Unterricht zur Kriegsvorbereitung, sondern absolviert Kochkurse, macht Sport und Volkstänze in herrlichen Kleidern.

Aber der Krieg wird schnell bittere Realität. Mit 19 Jahren erlebt Ursula, wie mit dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg ausbricht. Die knapp sechs Jahre andauernden Kampfhandlungen führen nicht zu der von Adolf Hitler propagierten Erweiterung des Lebensraums im Osten, fordern aber weltweit mehr als 50 Millionen Todesopfer.

In der Konsequenz wird das besiegte Deutsche Reich in vier Besatzungszonen gespalten, in denen die alliierten Siegermächte Sowjetunion, USA, Großbritannien und Frankreich mit Hilfe von Militärregierungen die oberste Staatsgewalt ausüben. Durch den Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes und seiner Organisationen muss sich Ursula eine neue Arbeitsstelle suchen und hilft nun in einer Gärtnerei aus.

Als Ursula am 3. Oktober 1945 nach Hause kommt, trifft sie einen fremden Mann in der Küche ihres Elternhauses an. Er wolle sie zu einer Vorstellung mitnehmen, erklärt der Mitarbeiter der »Operativen Gruppe Wurzen« sehr vage, aber vehement. Die junge Frau ist skeptisch, denn natürlich hat sie davon gehört, dass in ihrer Umgebung zuletzt mehrere Jungen und der Bannführer festgenommen wurden. Auf Nachfrage versichert der Mann, sie werde noch am Abend wieder zurückgebracht, woraufhin Ursulas Vater ihr die Hausschlüssel aushändigt und sie mitfahren lässt. Vor der Polizeistelle in Wurzen hält der Pkw, der Mann lässt Ursula allein im Wagen warten.

»Wenn ich dort ausgestiegen wäre und einfach losgegangen, da wäre ich weg gewesen, aber ich hatte ja keine Ahnung, was kommt.«

Als der Mann wieder einsteigt, fährt er Ursula zum Gefängnis des Schlosses Wurzen und übergibt sie den Mitarbeitern des NKWD, des sowjetischen Volkskommissariats für innere Angelegenheiten. Anschließend nimmt man ihr nicht nur die Schlüssel und das Portemonnaie ab, sondern auch jene Habseligkeiten, mit denen sie sich verletzen könnte: den Gürtel und die Nadeln aus den zum deutschen Knoten aufgesteckten Haaren, die gerade so in Mode sind.

Ursula wird in Einzelhaft in eine Zelle gesperrt. Die Wände sind mit eingeritzten Botschaften und Namen übersät. Viele der Personen sind ihr bekannt und viele wird sie in Kürze wiedertreffen. Ursula ist die einzige Frau, die zu dieser Zeit im Wurzener Gefängnis einsitzt, und mit 25 Jahren auch die Älteste der Gefangenen. In den angrenzenden Zellen hat man mehrere 16- und 17-jährige Jungen untergebracht, denen man die Mitgliedschaft in der geheimen nationalsozialistischen Widerstandsbewegung »Werwolf« vorwirft.

Trotz der dicken Schlossmauern kann Ursula die Schreie der Jungen hören, wenn sie in den Verhören brutal gequält werden. Auch sie wird zu nächtlichen Vernehmungen aus der Zelle geholt und unter Gewaltandrohung von den Mitarbeitern des sowjetischen Geheimdienstes NKWD verhört.

»Ich dachte immer, dass ich wegen meiner Tätigkeit als BDM-Führerin, oder weil ich auf der Dienststelle gearbeitet hatte, verhaftet wurde. Das interessierte die gar nicht.«

Die NKWD-Mitarbeiter behaupten, dass Ursula in der Hitlerjugend eine militärische Ausbildung erfahren habe und Mitglied der »Werwolf«-Organisation sei. Der jungen Frau ist die Partisanenbewegung gar kein Begriff. Sie berichtet von den tatsächlichen Inhalten der »Glaube und Schönheit«-Kurse, doch die Vernehmer glauben ihr nicht. Über ihr Schicksal hat man bereits entschieden.

Während der Haftzeit im Schloss Wurzen entgeht Ursula einem Übergriff nur knapp. Drei sowjetische Soldaten stürmen ihre Zelle, doch durch das strikte Eingreifen eines Offiziers werden sie aufgehalten. Trotzdem steht die junge Frau große Angst aus. Fast zwei Wochen des Wartens vergehen, dann wird Ursula ein Koffer übergeben, den ihre Mutter für sie abgegeben hat, und in dem sich Unterwäsche, ein Schlafanzug und ein zweites Kleid befinden.

Gemeinsam mit 14 Jungen, die alle aus der nahen Umgebung stammen, wird Ursula am 14. Oktober 1945 auf die Ladefläche eines Lkw verfrachtet und in Richtung Oschatz gefahren. Vier Wachposten mit Kalaschnikows stellen sicher, dass die eingeschüchterten Gefangenen nicht miteinander reden. Kurz vor Luppa versagt das Fahrzeug seinen Dienst und die Wurzener Feuerwehr muss zum Rücktransport der Gefangenen beordert werden.

Nach einer weiteren Nacht in den Schlossgefängniszellen beginnt für die Gruppe die Fahrt und das große Rätselraten, wohin man sie wohl bringen mag, von vorn. Sie überqueren die Elbe und erreichen nahe der Stadt Mühlberg schließlich ihr Ziel, das sowjetische Speziallager Nr. 1.

Seit Kriegsende richtet das NKWD in der Sowjetischen Besatzungszone SBZ zehn Speziallager ein, die nach sowjetischen Vorgaben betrieben werden und eine ganz spezielle Form der alliierten Internierungslager darstellen. Die Lebensbedingungen der Gefangenen des NKWD unterscheiden sich eklatant von der Behandlung der Häftlinge in den Internierungslagern, die durch die Besatzungsmächte der westlichen Zonen eingerichtet werden.

Zwischenzeitlich verlassen und verwahrlost, wird das Lagergelände bei Mühlberg, auf dem sich zuvor ein Kriegsgefangenenlager der Wehrmacht befand, ab September 1945 wieder genutzt. Bis 1948 weisen die Operativgruppen des NKWD aus Sachsen und Sachsen-Anhalt etwa 21.800 Deutsche, die unter Feindverdacht stehen, in das Speziallager ein.

Als Ursula und ihre Mitgefangenen am 15. Oktober 1945 am Außentor eintreffen, ist das Lager mit einer Belegschaft von ca. 1.500 Personen noch weitestgehend leer, doch später werden hier bis zu 12.000 Menschen gleichzeitig gefangen gehalten, verteilt auf insgesamt nur 40 Baracken. Jeden Tag erreichen kleinere oder große Gefangenentransporte das Lager. Für den Bann Grimma sind sechs Transporte ins Speziallager Nr. 1 belegt und insgesamt finden durch das NKWD in den Jahren 1945 und 1946 etwa 270 Verhaftungen in Wurzen und Umgebung statt.

Von einer russischen Offizierin, die ihr aufgrund ihres gepflegten Erscheinungsbildes im Gedächtnis bleibt, wird Ursula in Empfang genommen und gefilzt. Glücklicherweise darf sie alle Kleidungsstücke behalten, die sie mit sich führt.

»Es war nicht viel, half uns aber in der ersten Zeit so sehr. Mein Schlafanzug machte immer die Runde. Es war selbstverständlich, dass man weitergab, was man hatte.«

Am inneren Lagertor wird Ursula dann von der deutschen Lagerleitung empfangen. Diese besteht aus Inhaftierten, die von der sowjetischen Lagerleitung für diese Posten ausgewählt, dazu angewiesen und kontrolliert werden. Es ist für Ursula eine freudige Überraschung, mit Dorle Schröter, hier nun Barackenälteste und Leiterin des Frauenlagers, ein bekanntes Gesicht inmitten der fremden und trostlosen neuen Umgebung zu sehen. Lächelnd kommt ihr die ehemalige Bannmädelführerin aus Aue entgegen und führt sie zur Unterkunft.

Die Frauenbaracke befindet sich im Oktober 1945 in der Baracke Nr. 4, mitten auf dem Lagergelände. In den ersten Wochen müssen die Frauen zum täglichen Zählappell noch direkt neben den Männern antreten.

Ab November 1945 zieht das Frauenlager in den nordöstlichen Bereich um und wird vom Männerlager durch einen hohen Drahtzaun, dem sich die Männer auf maximal zehn Meter nähern dürfen, konsequent abgeschirmt. Zehn der internierten Frauen werden gemeinsam mit ihren Ehemännern im sowjetischen Speziallager Nr. 1 gefangen gehalten, in zwei hermetisch voneinander abgetrennten Lagerbereichen. Dass sie eigentlich wenige hundert Meter voneinander entfernt sind, erfahren sie nur, wenn die Gerüchteküche funktioniert.

Anfangs versucht man dann, sich an der Grenze zum Frauenlager über den Weg zu laufen, doch später wird das Männerlager in Zonen unterteilt und ein freies Bewegen über das Lagergelände unmöglich. Ursula erlebt tragische Szenen, bei denen sich Eheleute nicht wiedererkennen, wenn sie sich völlig abgemagert und in Lumpen gekleidet über den Weg laufen.

Die Zahl der inhaftierten Frauen ist unterdessen auf fast 100 gestiegen und nimmt kontinuierlich zu. Sie werden nun in einem Steinhaus und in Holzbaracken untergebracht, die aus der Zeit des Kriegsgefangenenlagers stammen und neu hergerichtet wurden.

Während in den Männerbaracken bis zu 250 Mann auf engstem Raum hausen, haben die Frauen hier kleinere Zimmer, denen sie euphemistische Namen geben: So bewohnen sie ein Fürstenzimmer, eine Jakobsstube, die bayerische Bierstube, die Arche Noah und den Schafstall oder das Wasch- und Nähfrauenzimmer. Mit etwa 100 Frauen auf jeder Stube sind die Unterkünfte ebenfalls überbelegt, und es gibt keine Betten, sondern blanke Holzpritschen ohne Decken.

Am ersten Morgen wacht Ursula auf und ist von oben bis unten mit Quaddeln übersäht. Die Frauen, die schon länger inhaftiert sind, versichern ihr, sie werde sich an die Flöhe schon gewöhnen. Den widrigen Umständen trotzend bemühen sich die Frauen um ein großes Maß an Sauberkeit in den Baracken und versuchen, auch ihr Äußeres zu pflegen. Den deutschen Knoten kann sich jedoch keine mehr aufstecken, denn sie besitzen keine Haarnadeln, und so tragen fast alle Frauen einen Zopf.

Gewaschen wird sich in Steinrinnen, die jeweils in der Mitte von zwei Baracken stehen. Da es nur kaltes Wasser gibt, stellen die Frauen im Winter sämtliche Blechdosen, die sie auftreiben können, mit Wasser gefüllt auf die langen Ofenrohre, die durch die Baracken führen. So kommt abwechselnd jede einmal in den Genuss, sich warm zu waschen. Auch im Waschhaus, das im Frauenlager eingerichtet ist, nutzen sie die großen Kübel, um ab und an selbst darin ein Bad zu nehmen.

Besonders die älteren Frauen sind es nicht gewohnt, sich vor anderen nackt zu zeigen, und tun sich zunächst schwer mit der Situation. Intimsphäre ist ein Luxus, den das Speziallager seinen Insassen verweigert. In den Toilettenhäusern sind Plumpsklos in Reihe angeordnet und so verrichtet man seine Notdurft unmittelbar neben der Nachbarin.

Seife, Zahnbürste oder Toilettenpapier existieren im Lager Mühlberg nicht. Mit kleinen Stückchen Stoff, die in dem kalten Wasser der Waschrinnen gespült werden, versucht man sich zu behelfen. Binden für die Monatshygiene gibt es keine, doch bei den meisten Frauen bleibt die Regelblutung vor Schreck und durch die Mangelernährung zunächst aus.

Mühlberg ist ein Schweigelager, das seine Insassen von der Außenwelt isolieren soll. Ohne Kenntnis der Dauer ihres Aufenthalts ist es für jeden die größte Herausforderung, Zuversicht zu üben. Bis auf die Tätigkeiten, die den laufenden Betrieb der Einrichtung gewährleisten sollen, ist keine Arbeit vorgesehen. Die Inhaftierten des Speziallagers Nr.1 sind deshalb stets bemüht, irgendeine Form der Betätigung für sich zu finden, welche die Zeit vergehen lässt.

»Denn nichts ist schlimmer als Langeweile.«

Einige Frauen werden in den Küchen der russischen Offiziere und der Mannschaft beschäftigt, andere sind mit dem Waschen der Wäsche beauftragt. Ursula wird für die Ab- und Anmeldung des Versorgungstrupps in der Stabsbaracke eingesetzt. Sie meldet, wie viele Personen am Morgen das Frauenlager verlassen, um auf ihre Arbeitsstelle zu gehen, und somit aus dem Kontingent der Mittagsverpflegung herausfallen. Die meisten Frauen helfen im Lagerlazarett als Schwestern aus.

Auch gefangene deutsche Ärzte arbeiten im Lazarett und müssen dabei nahezu ohne medizinische Gerätschaften, Verbandsmaterial und Medikamente auskommen, denn im Speziallager Mühlberg mangelt es an allem. So wird improvisiert: Zur Behandlung von Darmerkrankungen setzt man selbstgefertigte Holzkohle ein, bei Entzündungen führt man eine Eigenurin-Therapie durch und Furunkel werden ausgebrannt. Den katastrophalen Umständen trotzend, führen die Chirurgen sogar Operationen durch.

Wer im Speziallager Nr. 1 Mühlberg erkrankt, gerät zwangsläufig in eine schier hoffnungslose Lage. Krankheiten wie Ruhr, Wundrose und Tuberkulose breiten sich ungehindert und nahezu epidemisch aus. Die Mangelernährung führt bei den Gefangenen zu schweren Abmagerungszuständen, zum Abbau von körperlichen und psychischen Funktionen und begünstigt entzündliche Krankheiten.

Weil sie sich ihr Bein gestoßen hat, leidet Ursula an einer eitrigen Infektion. Ihr Fuß schwillt davon so stark an, dass sie ihren Schuh kaum ausziehen kann. Letztendlich entscheiden sich die Ärzte dafür, die Wunde aufzuschneiden. Eine Betäubung können sie Ursula dafür nicht anbieten. Im Anschluss muss sie noch viele Tage liegen und sich schonen, doch das Bein verheilt gut.

»Die Männer sagten: ›Solange wir noch sehen, dass ihr Frauen so tapfer seid, halten wir auch durch!‹«

Tatsächlich liegt die Sterberate der Frauen bei weniger als einem Zehntel, während im Männerlager etwa jeder dritte seine Haftzeit im Lager Mühlberg nicht überlebt. In der Zeit seines Bestehens, also von Ende September 1945 bis Ende September 1948, sterben im Speziallager Nr. 1 insgesamt 6.765 Gefangene, darunter sind 30 Frauen.

Jeder Tag im Speziallager Mühlberg ist ein Kampf mit dem eigenen Durchhaltevermögen. Der Hunger ist für die Frauen vielleicht das kleinere Übel. Es ist die Aussichtslosigkeit, welche die meisten Opfer fordert. Besonders für die älteren Frauen, die sich Tag und Nacht um das Wohlergehen ihrer Kinder zu Hause sorgen, wiegt jede Stunde der Isolation schwer. In ihrer Position darf sich Ursula relativ frei über das Lagergelände bewegen und mehr als einmal hält sie dabei inne, sieht sich um und fragt sich mutlos, ob sie wohl den Rest ihres Lebens in diesem grausamen Umfeld verbringen müsse.

»Entweder man entscheidet sich, man will leben, und dann muss man am Leben teilnehmen, oder man lässt es und geht ein. Und die meisten entschieden sich dann.«

Die Frauen versuchen, sich auf jede erdenkliche Weise zu beschäftigen, und machen aus der Not eine Tugend. Als einer der männlichen Gefangenen in Begleitung von Sowjetoffizieren nach Hause geschickt wird, um Noten, Kulissen und Kostüme für das Lagertheater zu besorgen, bitten ihn die Frauen, auch Nähnadeln mitzubringen. Die Elektriker des Lagers basteln ihnen Stricknadeln aus Kupferdraht, und dann beginnen die Frauen mit ihren Handarbeiten. Aus Bettlaken nähen sie sich BHs oder Taschentücher. Einer der Internierten trägt ein blaues Panamahemd. Die Frauen tauschen ihm den Teil, der unsichtbar in der Hose steckt, gegen weißen Stoff aus und trennen dann Faden für Faden davon ab, um mit dem gewonnenen Garn blaue Stickereien anzufertigen.

Auch die Kleidung Verstorbener, die ihnen überlassen wird, verwerten sie und nähen sich Röcke aus dem sorgsam aufgetrennten Oberstoff von Männerwesten. Aus Pullovern und Strickjacken häkeln sie sich warme Schlüpfer für den Winter. Einmal bekommen sie von der Lagerleitung eine große Menge Fallschirmschnur, die jedoch auf Stückchen von etwa 40 Zentimetern zugeschnitten ist. Aus diesen Fäden oder dem wollenen Anteil des Materials der Jutesäcke, in denen der Zucker für die Lagerküche geliefert wird, stricken sie Socken und statten damit viele Lagerinsassen aus. Obgleich sie innen von Knoten übersäht sind, weisen die Handarbeiten nach außen hin feine Muster auf.

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Diese zwei Handarbeiten wurden im Frauenlager des Speziallagers Nr. 1 angefertigt und sind heute im Bestand des Museums Mühlberg 1547. Quelle: Landkreis Elbe-Elster, Museum Mühlberg 1547

»Die Knoten störten uns auch nicht mehr. Wir hatten ja nichts. Manche waren barfuß gekommen, die zogen alles an, da kratzte kein Strumpf.«

Auf diese Weise werden viele Kleidungsstücke neu produziert oder Sachen ausgebessert, die durch das monatelange ununterbrochene Tragen bereits Verschleiß aufweisen. Viele Nöte können die geschickten Näherinnen lindern, doch das ein oder andere muss man im Lageralltag auch einbüßen.

Ursula trägt schöne schwarze Lederschuhe, als sie eingeliefert wird. Als die Schuhe eines Tages schadhaft sind, gibt Ursula sie zur Reparatur in die Schuhmacherei, die im Männerlager eingerichtet ist. Eigentlich nur, um die Wartezeit zu überbrücken, erhält sie handgeschnitzte Holzpantoletten. Doch Ursula bekommt ihre Lederschuhe niemals zurück. Als es repariert ist, verschenkt ein russischer Wachposten das Paar an eine französische Insassin, mit der er eine Affäre unterhält.

Der Erfindungsreichtum der Frauen erstreckt sich auf viele Bereiche. Aus dem schmutzigen Tümpel, der sich inmitten des Frauenlagers befindet, legen sie 1946 einen Teich an, der von Blumen- und Gemüsebeeten gesäumt ist. Woher die Samen stammen, kann niemand mehr nachvollziehen, doch die Frauen ziehen Ringelrosen und Petunien und binden sich Sträuße daraus.

Die Frauenlagerleiterin Dorle Schröter kann nach mehr als 25 Vorsprachen beim sowjetischen Lagerchef Kapitän Samoilow durchsetzen, dass sich die Frauen gegenseitig unterrichten dürfen. Unter den Inhaftierten gibt es die verschiedensten Berufe, Bildungsgrade und sozialen Herkünfte. Die Frauen halten Vorträge und bringen sich Englisch bei. Schriftstellerinnen und Dichterinnen tragen ihre Werke vor.

Alles findet mündlich statt, denn Schreibutensilien darf keiner der Gefangenen besitzen. Doch selbst hier ist man kreativ und schreibt mit dem Finger in den staubigen Sand. Jede kann sich in die Bildungskreise einbringen, und wenn sie nur zur Unterhaltung die Handlung von Büchern und Spielfilmen wiedergibt oder von Reisen an fremde Orte berichtet.

Obwohl es angesichts ihrer Situation und Umgebung absurd wirkt, lassen sich die Frauen von einer Insassin mit adliger Herkunft sogar Anstandsunterricht erteilen. Doch jede Lehreinheit trifft auf wache Geister und vertreibt zudem die Zeit, von der mehr als genug vorhanden ist.

»Für mich war das eine große Lebensschule. Ich bezeichne es als solche.«

Der Zusammenhalt unter den Frauen ist stark. In der Gemeinschaft bilden sich kleine familiäre Strukturen aus, indem sich drei oder vier junge Mädchen an eine ältere Frau binden, ihre »Lagermutti«. So unterstützen sie sich gegenseitig und finden immer eine Schulter zum Anlehnen und Ausweinen.

Die Frauen feiern ihre Geburtstage mit handgefertigten Geschenken und mit Torten, deren Herstellung aufwendig ist: Jeden Tag wird eine Scheibe des wenigen Brotes, das sie zugeteilt bekommen, aufgehoben. Die Aufbewahrung allein ist ein heikles Unterfangen, denn ihre Unterkünfte sind ein Tummelplatz für zahlreiche Ratten. In selbstgenähten Brotbeuteln, die eine von ihnen nachts bewachen muss, schützen sie die kostbare Nahrung. Dann werden die Brotscheiben auf den Ofenrohren getrocknet, bis sie kross sind, und zu Mehl gemahlen. Vermischt mit Getreidekaffee wird das Mehl ein Brei, den man zu einer Torte formt und anschließend mit den mühsam gesammelten Tagesrationen aus Butter und Marmelade verziert. Wenn am nächsten Tag noch jemand Geburtstag hat, wird die Verzierung nicht gegessen, sondern wiederverwendet.

Die anfängliche Schockstarre der Gefangenschaft ist überwunden und die Frauen versuchen nun stets, auch in der Not den Mut und die Freude am Leben zu bewahren. Sie singen und lachen sogar, wenn sich die Möglichkeit dazu bietet.

»Man wundert sich, wie man sich so was einrichtet. Aber so kamen wir durch die Jahre. Das musste man ganz einfach, sonst wäre man eingegangen. Wir wollten alle wieder nach Hause.«

Am 31. März 1947 erreicht das Lager Mühlberg ein erster von zwei Transporten mit mehr als 2.000 Inhaftierten aus dem aufgelösten Speziallager Nr. 6 Jamlitz bei Lieberose. Weil das Frauenlager mit 560 Personen bereits aus allen Nähten platzt, werden die 880 Jamlitzer Frauen in den Baracken 30 / 30a und 31 / 31a untergebracht, in denen deutlich schlechtere Bedingungen herrschen als in den Steinbaracken.

Mit den Neuankömmlingen werden auch fünf Kinder ins Lager Mühlberg eingeliefert. Die kleinen Jungen und Mädchen, von denen das jüngste elf Wochen und das älteste vier Jahre alt ist, sind allesamt in Gefangenschaft geboren. Ihre Mütter waren bereits schwanger, als sie verhaftet wurden, oder haben sich mit einem Mitgefangenen oder einem sowjetischen Wachposten eingelassen. Das Frauenlager freut sich über den niedlichen Zuwachs, der so viel Hoffnung in dieser lebensfeindlichen Umgebung spendet. Auch die Männer versuchen, Kontakt zu den Kindern zu bekommen, und fertigen ihnen kleine Skimützen an, die zur damaligen Zeit modern sind.

Es ist belegt, dass auch im Speziallager Mühlberg 1947 ein Kind geboren wird, ein Mädchen, das Ergebnis einer Liebesbeziehung zwischen zwei Gefangenen ist. Für die Mutter wäre im Lager sogar eine Abtreibung möglich gewesen, doch sie entschließt sich, das Kind zu behalten. Aus der Kleidung von Toten näht sie Bekleidung für ihre Tochter und ernährt sie hauptsächlich mit Pellkartoffeln. Mutter und Tochter werden im Juli 1948 gemeinsam entlassen.

Zu diesem Zeitpunkt beginnt in Mühlberg eine große Entlassungsaktion. Durch das Lager wird zunächst eine Grenze gezogen, dann ruft man nach und nach Insassen auf und verlegt sie. Wer in den Quarantänebereich kommt, den begrüßt die Freiheit in der Regel schon am nächsten Morgen. Fast täglich dürfen zwischen 100 und 240 Gefangene die Heimreise antreten.
Auch Ursula wird aufgerufen und in einen anderen Bereich des Lagers verlegt, aber nicht entlassen. Sie kommt am 21. September 1948 auf einen von zwei Transporten und wird mit 2.269 Frauen und Männern in eine andere Einrichtung der Abteilung Speziallager des NKWD überführt.

Auf dem Bahnhof Neuburxdorf verlädt man die Gefangenen zu je 45 Personen in Güterwagen. Es ist sehr warmes Spätsommerwetter, und man gibt ihnen zwar Röstbrot als Verpflegung, jedoch kein Wasser. Durch die Fenster des Waggons kann Ursula die Kirchtürme ihrer Heimat sehen. Auf dem Bahnhof Wurzen hält der Zug sogar für kurze Zeit, fährt aber weiter, bis der Transport sein Ziel erreicht: Das sowjetische Speziallager Nr. 2 Buchenwald.

Das Speziallager auf dem nordwestlichen Ettersberg bei Weimar entsteht im August 1945. Das Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald, welches gegen Ende des Zweiten Weltkriegs durch die 3. US-Armee befreit wird, geht nach deren Abzug aus Thüringen in die Verwaltung des sowjetischen Geheimdienstes über. Hier interniert das NKWD, später umbenannt in MWD, politische Gefangene, die vorgeblich Nationalsozialisten, Mitläufer und vermeintliche Kriegsverbrecher sind.

Insgesamt werden im Speziallager Buchenwald etwa 28.000 Menschen inhaftiert, davon sind etwa 1.000 Personen Frauen sowie in Lagerhaft geborene Kinder. Mehr als 7.000 Menschen erleiden den Tod und werden in Massengräbern verscharrt.

Ursula empfindet den Haftalltag im Speziallager Buchenwald als deutlich strenger reglementiert als zuvor in Mühlberg. Die Unterbringung erfolgt ebenfalls in großen Baracken, die hier allerdings nicht mit Holzpritschen, sondern mit Doppelstockbetten ausgestattet sind. Immer zwei Frauen liegen auf jeder Etage des Stahlgestells.

Die sowjetischen Wachposten verlangen, dass die Böden der Unterkünfte stets sauber gehalten werden. Weil das Wischwasser unter einer morschen Diele versickert, entdecken die Frauen ein geheimes Kohlenversteck ihrer Vorgänger. Ein Glücksfall, denn die zugeteilten Mengen Heizmaterial reichen kaum aus, um die Baracke warm zu halten.

Auch das Speziallager Buchenwald ist nicht als Arbeitslager angelegt und das Fehlen jedweder Beschäftigung kennzeichnet den Alltag der meisten Inhaftierten. Ursula jedoch wird im Drei-Schicht-System in der Lagerschneiderei eingesetzt, wo sie Näh- und Bügelarbeiten verrichtet. Wer die Nachtschicht hat, muss tagsüber zusehen, wie er in der überfüllten Baracke zu etwas Schlaf kommt. Es gibt keinen Rückzugsort, keine Ruhe.

Erstmalig bekommen die Gefangenen Zeitungen ausgeteilt und damit den langersehnten Kontakt zur Außenwelt, von der sie seit Jahren abgeschnitten blieben. Aus dem »Neuen Deutschland« erfahren sie nun von der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik DDR am 7. Oktober 1949 und lesen auch, dass die angeblich letzten sowjetischen Gefangenen nach Hause zurückgekehrt seien. Sie nehmen die Nachricht zum Anlass, einen Streik anzuzetteln. Doch ihr Widerstand führt lediglich zu Bunkerhaft.

Anfang des Jahres 1950 geschieht, worauf alle seit Jahren hoffen. Ursula liegt gerade auf dem Bett einer Kameradin, als sie aufgeregte Rufe hört, die den Beginn der Entlassungen verkünden. Trotz aller Aufruhr muss Ursula allerdings erst einmal ihre Abendschicht in der Schneiderei ableisten. Als sie nach der Arbeit zurückkehrt, fehlen schon etliche Insassinnen der Baracke.

Nach welcher Systematik die Reihenfolge ihrer Entlassungen bestimmt wird, ist nicht erkennbar, doch in Erwartung des Aufrufs bereiten sich viele Frauen schon auf die baldige Heimkehr zur Familie vor und drehen ihre Haare in Papier, um hübsche Locken zu erzeugen. Diejenigen, die aufgerufen werden, verbringen eine Nacht in Quarantäne und werden am nächsten Morgen in das sowjetische Vorlager geführt, wo man die Habseligkeiten, die sie mitnehmen dürfen, auf verbotene Gegenstände durchsucht. Nach der gründlichen Leibesvisitation durch die Posten, die dabei auch mehrfach durch die Haare fahren, sind die mühsam hergerichteten Frisuren wieder zerstört.

»Man musste sich vollkommen nackt ausziehen. Wir sagten: ›Und wenn sie uns nackt nach Hause schicken – wir gehen. Wir brauchen uns nicht zu schämen. Die sollen sich schämen!‹«

Ursulas Name wird am 1. Februar 1950 aufgerufen. Danach wird das sowjetische Speziallager Nr. 2 Buchenwald geschlossen. Doch die endgültige Lagerauflösung bedeutet nicht die Freiheit für alle Insassen. 2.154 Personen überführt man in das Zuchthaus Waldheim, wo sie in rasanten Schauprozessen ohne Rechtsgrundlage zu langjährigen Haftstrafen sowie in 32 Fällen zum Tode verurteilt werden.

Bei den Entlassungsaktionen aus den Speziallagern übergibt die sowjetische Besatzungsmacht ihre Gefangenen an die deutschen Landespolizeibehörden und tritt somit auf den ausgestellten Entlassungsscheinen der Heimkehrenden ebenso wenig offiziell in Erscheinung, wie der genaue Aufenthaltsort der vergangenen Jahre. Ursula und ihre Kameraden erhalten neben dem Entlassungsdokument einen Kanten Brot als Fahrtverpflegung, dazu Butter und ein Tütchen Malzkaffee.

Außerdem bekommt Ursula endlich ein richtiges Paar Schuhe ausgehändigt. Es sind sogenannte Lingelschuhe, leichte Schnürer aus Stoff und Kunststoff. Auch den Hausschlüssel, den ihr der Vater am Tag der Verhaftung übergeben hatte, erhält sie nun wieder. Dann werden die Entlassenen mit Fahrgeld ausgestattet und zum Bahnhof von Weimar gebracht, wo sie selbst entscheiden dürfen, wohin sie fahren möchten. Eine Übersiedlung in die Bundesrepublik ist zu diesem Zeitpunkt durchaus möglich, denn die DDR beginnt erst zwei Jahre später mit dem intensiven Ausbau der deutsch-deutschen Grenze.

Mit dem Zug tritt Ursula die Rückreise in ihren Heimatort Brandis an. Seit der Verhaftung vor viereinhalb Jahren gab es für sie keine Möglichkeit, die Familie über ihren Verbleib zu informieren. Hinweise erhielten die Eltern, als 1948 die ersten Personen aus dem Speziallager Mühlberg entlassen wurden und die Angehörigen derjenigen benachrichtigten, die sie im Lager kennengelernt hatten. Mit einem Telegramm hat eine Kameradin aus Wurzen, die eine Woche zuvor aus Buchenwald entlassen wurde, nun Ursulas baldige Rückkehr angekündigt. Voreilig backt Ursulas Mutter Kekse, um die Ankunft der Tochter zu feiern, doch bis jene zu Hause eintrifft, ist die Süßspeise längst aufgegessen.

Jeden Tag besuchen die früher entlassenen Lagerinsassen den Leipziger Hauptbahnhof, um ihre heimkehrenden Kameraden freudig in der neu erlangten Freiheit zu begrüßen. Ursula ist beeindruckt von dem herzlichen Empfang.

Weil es keine Bahnverbindung gibt, die sie direkt in den Heimatort bringt, nimmt sie einen Zug nach Gerichshain und läuft die letzten drei Kilometer nach Brandis. Dass ihr auf dem Weg die Füße in den dünnen Stoffschuhen durch den Schneematsch nass und kalt werden, nimmt sie überhaupt nicht wahr, so viele sorgenvolle Gedanken gehen ihr durch den Kopf. Im Dunkel der Nacht steht sie schließlich unter dem Küchenfenster des Elternhauses, holt tief Luft und ruft dann zaghaft nach ihrer Mutter.

»Das ist ein komisches Gefühl, wenn man da unterm Fenster steht und denkt: Na, was wird dich jetzt erwarten? Ob alle da sind? Ob sie überhaupt da sind?«

Ursulas Mutter schreit vor Überraschung laut auf, als sie die Stimme ihrer Tochter erkennt. Dann läuft sie los, um den Vater aus der Singstunde des Gesangsvereins zu holen, während Ursula ihre Schwester Erika begrüßt, die mit beginnender Diphtherie im Bett liegt. Die Freude über das Wiedersehen ist so groß, dass ihr die Ansteckungsgefahr völlig gleichgültig ist. Doch Ursula bleibt gesund, und ihr Hausarzt, der sie bald darauf untersucht, kann bestätigen, dass sie auch keine Tuberkuloseinfektion aus der Lagerhaft mitgebracht hat.

Als Erika wieder auf den Beinen ist, kann sie einen langgehegten Wunsch umsetzen: Sie lässt ihr langes Haar zum Bubikopf abschneiden, denn der Vater verbot es, solange Ursula fort war, mit der Begründung, die große Schwester werde darüber schimpfen. Nun ist Ursula zurück und trägt selbst eine Kurzhaarfrisur, weil sie ihr immer dünner werdendes Haar noch kurz vor der Entlassung hatte abschneiden lassen.

Die Umstellung auf einen selbstbestimmten Alltag ist für die ehemaligen Gefangenen in allen Bereichen des Lebens eine Herausforderung. Eine Freundin berichtet, dass sie nach der Rückkehr ein komplettes Weißbrot allein verzehrt, Ursula hingegen gelüstet es nach grünen Erbsen. So kocht sie sich eine ganze Schüssel davon und isst vor den Augen ihrer kopfschüttelnden Mutter den kalten Inhalt auf.

Alte Freunde und Bekannte zeigen sich meistens verständnisvoll und bringen sogar etwas Essen vorbei, um die Familie zu unterstützen. Doch eine gewisse Stigmatisierung und einen stetigen Rechtfertigungszwang bringt die Rückkehr aus der Gefangenschaft mit sich. Zwar wurden die ehemaligen Gefangenen durch einen sowjetischen Offizier angewiesen, nicht über ihre Zeit im Speziallager zu sprechen, doch nicht immer hält sich Ursula daran.

Aufgrund der Vorurteile erhält die mittlerweile 30-Jährige keine der ihr vom Arbeitsamt zugewiesenen Stellen. Schließlich findet sie eine Anstellung in einem Büro, weil ihr Arbeitgeber aufgrund der Tatsache, dass seine Tochter ein ähnliches Schicksal erlitt, keine Probleme mit Ursulas Vergangenheit hat.

So kehrt Alltag in Ursulas Leben ein, und die Jahre vergehen. In den 1950er-Jahren arbeitet Ursula zeitweise in Luckenwalde, etwa 50 Kilometer südlich von Berlin. Jedes zweite Wochenende besucht sie im westlichen Sektor eine Freundin, mit der sie in Buchenwald interniert war. Sie lernt die Stadt kennen, besucht Kinovorstellungen und Theateraufführungen und staunt über die Fülle der Angebote in den Läden. Immer wieder begegnet sie alten Kameraden aus den zwei sowjetischen Speziallagern. In dieser Zeit hilft Ursula zahlreichen Bekannten bei der Flucht aus der DDR oder schmuggelt Waren über die Zonengrenze, wie die sieben Meter Taft für das Hochzeitskleid einer Freundin, die sie sich um den Leib wickelt. Unbekümmert ist sie dabei nie.

»Ich hatte immer Angst, dass die mich mal wieder holen. Man wusste ja nie, wie lange man noch bewacht wird.«

Mitte der 1960er-Jahre kehrt Ursula wieder zurück nach Brandis zu ihrer Familie und einer Freundin und arbeitet in einer Produktionsgenossenschaft des Handwerks (PGH). Gemeinsam mit ihrer Schwester Erika pflegt sie die Mutter bis zu deren Tod.

Ursula und Erika gründen keine eigenen Familien, doch die Wohnung der Rebhahns ist immer von Kinderlachen erfüllt, denn Erika arbeitet als Kindergärtnerin. Sie liebt ihren Beruf, leidet aber unter der politischen Bevormundung der SED. Ursula rät ihr, einfach herunterzubeten, was in der Zeitung steht. Sie selbst hat in der Lagerhaft beschlossen, sich niemals mehr einer Organisation anzuschließen oder irgendeine Form von Verantwortung zu übernehmen.

Die stetige Vorsicht vor möglichen Konsequenzen durch das kommunistische Regime hat für Ursula mit der politischen Wende und der deutschen Wiedervereinigung ein Ende. Erst jetzt beginnt auch in der Öffentlichkeit eine Aufarbeitung der Speziallagerzeit.

Der Betrieb des Speziallagers Nr. 1 Mühlberg wird mit dem Befehl Nr. 002 940 / 6 vom 1. Oktober 1948 eingestellt und die meisten Baracken abgebaut. Bis Ende 1950 bleibt noch eine sowjetische Wache vor Ort, dann werden die restlichen Gebäude abgerissen und das Gelände an die Stadt Mühlberg und umliegende Dörfer aufgeteilt. Da bei der landwirtschaftlichen Nutzung immer wieder Knochenfunde auftreten, entschließt sich die DDR zu einer Aufforstung des Areals. Der Chlorkalk, der über die in Massengräbern verscharrten Leichen gestreut wurde, verrät anhand des verkrüppelten Wuchses der Eichen bis heute die Lage des Gräberfeldes.

Die Initiativgruppe Lager Mühlberg e. V. (ILM), die sich im Januar 1991 als Zusammenschluss der Überlebenden des Lagers und der Angehörigen von Opfern und Überlebenden gründet und auf dem Gelände eine Mahn- und Gedenkstätte einrichtet, organisiert auch jährliche Gedenktreffen. Ihre erste Zusammenkunft, zu der die ehemaligen Lagerinsassen mit etlichen Bussen anreisen, ist ein überwältigendes Wiedersehen für viele, so auch für Ursula.

Seither nimmt sie jedes Jahr teil und hat aufgrund gesundheitlicher Probleme nur zwei Treffen versäumt. Meistens reist sie gemeinsam mit einem befreundeten Ehepaar aus Bad Lausick an, einem Mann und dessen Frau, die sowohl in Mühlberg als auch in Buchenwald Ursulas Schicksalsgefährtin war.

Foto von Ursula Rebhahn beim Mahn- und Gedenktreffen der ILM im Jahr 2012]

Ursula Rebhahn beim Mahn- und Gedenktreffen der ILM im Jahr 2012

Auch auf dem Ettersberg wird zu DDR-Zeiten ein Teil der Geschichte des Geländes verleugnet. Die 1958 eingeweihte Nationale Mahn- und Gedenkstätte befasst sich nur mit der KZ-Vergangenheit zu Zeiten des Nationalsozialismus und rückt die deutschen kommunistischen Widerstandskämpfer in den Fokus. Seit 1990 wird die Neukonzeption der Gedenkstätte umgesetzt und 1997 in der Nähe der Gräberfelder ein Ausstellungsgebäude mit einer Dauerausstellung zur Geschichte des sowjetischen Speziallagers Nr. 2 Buchenwald errichtet.

Im Alltag lässt Ursula das Erlebte ruhen, doch wenn das Mahn- und Gedenktreffen näher rückt, merkt sie die emotionale Belastung deutlich. Die Erinnerung an ihre Haftzeit hält sie für sich vor allem durch die private Verbindung mit vielen ehemaligen Kameraden wach. Ursula bedauert aber, dass die meisten ihres Jahrgangs mittlerweile nicht mehr am Leben sind. Der Personenkreis, mit dem sie sich über die gemeinsam erlebte Vergangenheit unterhalten kann, fehlt ihr.

»Warum ich so alt werden musste, weiß ich nicht. Wir hätten in Mühlberg nie gedacht, so alt zu werden.«

Außer ihren Großcousinen und -cousins sind auch die meisten Familienmitglieder der 98-Jährigen bereits verstorben, so auch ihre neun Jahre jüngere Schwester Erika, die vor acht Jahren verschied. Nach wie vor weiß Ursula aber ihren großen, verlässlichen Freundeskreis zu schätzen, der sie viel unterstützt. Zwar hat das Alter sie körperlich eingeschränkt, doch ihr Geist ist wach und reflektiert. Ursulas Lebenserfahrung umfasst schon beinahe ein ganzes Jahrhundert, ein Zeitraum, in der sich die Welt mehrfach stark gewandelt hat. Sie hat vier politische Systeme miterlebt und blickt trotz ihrer Erlebnisse in sowjetischer Gefangenschaft nicht verbittert zurück.

»Ich würde die Zeit gern streichen, ja, aber ich kann sie nicht wieder holen. Und deswegen habe ich meinen Frieden damit gemacht.«

Obwohl Ursula augenzwinkernd davon sprach, dass es nun ihr ausgemachtes Ziel ist, die 100 zu erleben, gelingt es ihr letztendlich nicht, dieses hohe Lebensalter zu erreichen. Ursula Rebhahn verstirbt am 17. Oktober 2019 im Alter von 99 Jahren. Mit einer emotionalen Trauerfeier wird sie am 1. November 2019 von ihren Freunden und Kameraden für immer verabschiedet.