»Ich litt in dem Staat immer, war nie glücklich.«
Reiner Miserocchi wird am 25. Juni 1943 in Chemnitz geboren. Er hat zwei ältere Brüder. Reiners Mutter kettelt in Heimarbeit Strumpfspitzen und sein Vater arbeitet in Chemnitz als Schlosser. Als Soldat der Wehrmacht erlebt dieser die Schrecken des Zweiten Weltkriegs hautnah und verliert darüber seinen christlichen Glauben.
Chemnitz wird insbesondere im Frühjahr 1945 durch die US-amerikanischen und britischen Luftangriffe schwer beschädigt. Rund 27.000 Wohnungen, 167 Fabriken, 84 öffentliche Gebäude und zahlreiche Kulturbauten der Innenstadt werden zerstört. Die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht beendet die Kampfhandlungen, die in Chemnitz rund 4.000 Menschen das Leben gekostet haben. Anfang Juli 1945 ziehen die US-amerikanischen Besatzungstruppen aus der Region ab und überlassen den sowjetischen Militäreinheiten die Gebiete, die laut Beschluss der Siegermächte zur Sowjetischen Besatzungszone
SBZ werden.
Reiner und seine Familie gehören zu den Chemnitzer »Ausgebombten«. Sie kommen in einem Behelfsheim unter, eine Holzbaracke im nahegelegenen Flöha. Erst fünf Jahre später kehren sie zurück nach Chemnitz, wo Reiner eingeschult wird.
Reiners Vater tauscht sich mit seinem wissbegierigen jüngsten Sohn über die Politik der 1949 gegründeten DDR aus.
»Kurz vor den Wahlen sah ich Bilder von Ulbricht und fragte: »Papa, was ist das für einer und was macht der?« Er antwortete: »Das ist ein ganz großer Verbrecher. Aber das darfst du niemandem sagen, sonst sperren die mich ein, da siehst du mich nie wieder.«
Reiners soll aufgrund seiner guten Leistungen für das Abitur auf der Erweiterten Oberschule (EOS) vorgeschlagen werden. Doch schon kurze Zeit später gerät der Jugendliche mit der Schule in Konflikt, denn er äußert sich im Unterricht politisch zum Ungarn-Aufstand und dem Krieg zwischen Israel und den Nahost-Staaten.
»Ich rebellierte schon als Kind gegen den Staat. Es war vorprogrammiert, dass ich niemals in diesem Staat Karriere machen könnte. Meine Eltern waren nicht begeistert, dass ich mir sozusagen selbst alles verbaut hatte, aber sie sagten, »du bist alt genug, und wenn du die Meinung hast, können wir nichts daran ändern.«
Reiner wird nicht zur EOS zugelassen, Nach der achten Klasse beginnt er eine Lehre als Lokschlosser, die er aus gesundheitlichen Gründen nach drei Monaten aufgeben muss. Ab Dezember 1958 wird er bei der Produktionsgenossenschaft des Handwerks (PGH) »Albrecht Dürer« zum Dekorationsmaler ausgebildet. Reiner verfolgt das Ziel, sich später zum Restaurator weiterbilden zu lassen. Doch auch in der Lehre gibt es Ärger mit den Lehrern, weil er im Fach Staatsbürgerkunde argumentiert, dass Freiheit, Demokratie, Gleichheit in der DDR niemals sein könnten.

Die Beurteilung von Reiners Lehrbetrieb, der PGH »Albrecht Dürer«, die im Januar 1962 im Zuge der Ermittlungen zur versuchten Republikflucht vom VPKA Karl-Marx-Stadt angefordert wird
Mit einem Freund tauscht sich der 18-Jährige regelmäßig über Probleme und Wünsche aus und schmiedet schließlich Ausreisepläne. Reiner spielt mit dem Gedanken, bis nach Kanada auszuwandern.
»Ich wollte mir ein Leben in Freiheit aufbauen, wo ich meine Meinung ehrlich sagen kann, ohne Gefahr zu laufen, mir andere Menschen zu Feinden zu machen, wie es in der DDR war. Ich litt auch in dem Staat immer, ich war nie glücklich – erst, als der Staat nicht mehr existierte. Man soll als Christ nicht hassen, aber ich hasste den Staat wirklich.«
Schon seit 1945 verlassen Tausende das Gebiet der SBZ in Richtung West-Berlin oder Westdeutschland. Die anhaltende Fluchtwelle der vorwiegend jungen und qualifizierten DDR-Bürger wirkt verheerend auf die Wirtschaft und das internationale Ansehen des 1949 gegründeten Staates. Das SED-Regime reagiert, indem es ab 1952 die Grenze zur Bundesrepublik mit Stacheldraht und Minensperren abriegelt und mit der Änderung des Passgesetzes Ende 1957 das ungenehmigte Verlassen der DDR kriminalisiert. Nur die innerstädtische Sektorengrenze zwischen West- und Ostberlin ist noch relativ unkontrolliert passierbar.
Mit der Umsetzung ihrer Republikflucht wollen die beiden Freunde warten, bis Reiner seine Ausbildung abgeschlossen und die erste Lohnzahlung als Geselle bekommen hat. Zunächst planen sie einen gemeinsamen Sommerurlaub auf der Ostsee-Insel Usedom. Am 27. Juli 1961 setzen sie sich in den Zug.
Auf dem Bahnhof Berlin-Schönefeld werden Reiner und sein Freund überraschend von der Transportpolizei festgenommen – weil sie unter dem Verdacht stünden, die DDR zu verlassen. Man nimmt ihnen die Personalausweise ab und bringt sie auf die Wache. Erst gegen halb elf abends verfrachten die Transportpolizisten die jungen Männer in einen anderen Zug, von dem sie behaupten, er fahre zurück nach Karl-Marx-Stadt – so heißt Chemnitz seit 1953. Doch auf halber Strecke endet der Zug. Reiner und sein Freund übernachten auf dem Bahnhof Doberlug-Kirchhain notdürftig auf einer Bank, bis sie am nächsten Morgen mit einer anderen Verbindung nach Hause fahren können.
Reiner ist entrüstet. Er will sich über die Behandlung, die ihnen widerfahren ist, offiziell beschweren. Am Folgetag sucht er das Volkspolizeikreisamt (VPKA) Karl-Marx-Stadt auf. Der Polizeibeamte lenkt ein und entschuldigt das Verhalten der Kollegen. Reiner erhält tatsächlich seinen Personalausweis zurück und bekommt seine Fahrkarte erstattet.
Noch am selben Abend setzt sich Reiner wieder in den Zug Richtung Ostsee – allerdings allein, denn sein Freund hatte nicht denselben Mut. Er wird von denselben Polizisten kontrolliert, die ihn sogar namentlich ansprechen, aber höflich behandeln.
Nach zehn Tagen Strandurlaub fährt Reiner am 8. August 1961 zurück. Seinen Aufenthalt in Berlin nutzt er, um sich mehr Informationen zu der nach wie vor geplanten Flucht aus der DDR zu beschaffen, und fährt zum Notaufnahmelager Marienfelde. Es ist eins von drei Lagern der Bundesrepublik, welches das Aufnahmeverfahren für DDR-Bürger nach dem Notaufnahmegesetz von 1950 abwickelt. Das Gesetz regelt die rechtliche und soziale Eingliederung sowie die gleichmäßige Verteilung der Flüchtlinge auf alle Bundesländer.
»Es verließen ja damals bis zu 16.000 im Monat die DDR. Ich fragte, ob man sich deshalb vorher anmelden müsse. Man sagte mir: »Wenn Sie kommen, werden Sie nicht zurückgeschickt, Sie brauchen keine Angst haben.«
Erleichtert kehrt Reiner nach Karl-Marx-Stadt zurück. Von den Vorbereitungen des Mauerbaus, der fünf Tage später erfolgt, hat er bei seinem Aufenthalt in Berlin nichts gesehen. Umso fassungsloser ist er, als ihn am Sonntagmorgen die Nachricht von der Schließung der Sektorengrenzen erreicht.
SED-Parteichef Walter Ulbricht hatte die sowjetische Führung jahrelang gedrängt, das letzte »Schlupfloch« zwischen West- und Ostberlin zu schließen. Der 13. August 1961 zementiert die politische Spaltung des seit sechzehn Jahren geteilten Deutschlands. Ost-West-Kontakte werden abgeschnitten, die Fluchtbewegung kommt zunächst weitgehend zum Erliegen. Der Mauerbau ist Zeugnis einer Diktatur, die offenbar nur bestehen kann, wenn sie ihre Bevölkerung einmauert. Offiziell wird die Grenzsicherung allerdings als Schutzmaßnahme gegenüber dem Westen dargestellt: die Berliner Mauer sei ein »antifaschistischer Schutzwall«.
In den Folgejahren baut die DDR die innerdeutsche Grenze zu einem fast unüberwindbaren Hindernis aus. Tretminen, elektrisch geladene Zäune und seit 1966 auch Selbstschussanlagen machen zwar jeden Fluchtversuch zu einem tödlichen Risiko. Unter den insgesamt 235.000 Menschen, denen zwischen August 1961 und Ende 1988 die Flucht in die Bundesrepublik Deutschland gelingt, sind dennoch rund 40.000 »Sperrbrecher«.
Reiner beratschlagt sich mit seinem Freund und sie kommen überein, an ihren Fluchtplänen festzuhalten, auch wenn diese nun schwieriger werden.

Reiner und sein Freund, 1963
Am 31. August 1961 besteht Reiner erfolgreich seine Facharbeiterprüfung. Von den zuvor versprochenen Weiterbildungsmöglichkeiten ist im Betrieb keine Rede mehr. Also wechselt er zunächst zur PGH »Vorwärts« Karl-Marx-Stadt.
Im November 1961 besuchen die jungen Männer den Bruder von Reiners Freund, welcher in Groß Glienicke bei Potsdam wohnt. Bei der Gelegenheit erkunden sie die Umgebung und beschließen, den Fluchtversuch in diesem Gebiet umzusetzen – nicht nur, weil Reiners Freund sich gut auskennt, sondern auch wegen der besonderen Grenzsituation: Während der westliche Teil von Groß Glienicke DDR-Gebiet ist, gehört der östliche Teil zu Westberlin, dem Ziel ihrer Flucht. Sie soll zu Silvester stattfinden, genau um Mitternacht, denn von diesem Datum versprechen sie sich weniger Bewachung vor Ort.
Von ihren Plänen erfährt niemand etwas. Reiner borgt sich 100 Mark von seinem Bruder und nimmt zwei alte Wintermäntel mit, die hilfreich beim Überqueren des Stacheldrahts sein sollen.
Am 30. Dezember 1961 fahren die Freunde nach Leipzig, übernachten im Hotel, und reisen am nächsten Morgen weiter nach Potsdam. Hier schlägt Reiners Freund vor, ihren Plan spontan zu ändern.
»Er sagte, wir könnten drüben schon feiern, und da machten wir das tagsüber. Das war vielleicht der große Fehler, ich weiß nicht, vielleicht wäre es aber auch noch schiefer ausgegangen.«
Kurz nach Mittag bahnen sich die zwei Freunde ihren Weg durch das bewaldete Grenzgebiet von Groß Glienicke. Sie haben schon mehrere Verbotsschilder und Schlagbäume hinter sich gelassen und nähern sich den letzten Sperrlinien. Als sie etwa 20 Meter vor der Stacheldrahtwand sind, werden sie von zwei Grenzsoldaten mit Maschinenpistolen gestellt.
»Wenn wir versucht hätten, uns zu wehren, hätten die geschossen. Die waren da wie der Blitz aus heiterem Himmel, und da war der große Traum erstmal aus.«
Die Freunde haben sich im Vorfeld auf eine gemeinsame Geschichte geeinigt: In den Verhören behaupten sie, sich nur die Grenze angesehen zu haben, weil sie die Freunde, mit denen sie angeblich gemeinsam Silvester feiern wollten, nicht zu Hause antrafen.
Die Dokumente des Ermittlungsverfahrens beinhalten ein seltsames Detail: Sie behaupten, die beiden jungen Männer wären mit Schlittschuhen auf dem Sacrower See aufgegriffen worden. Ein Fehler, der sich noch durch das gesamte Aktenmaterial bis in die Anklageschrift ziehen und dann lediglich als Missverständnis abgetan wird.
Einige Stunden verbringt Reiner im Keller der Dienststelle der Grenzpolizei. Dann wird er in die Untersuchungshaftanstalt (UHA) der Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit
MfS der DDR in Potsdam überführt.
Das im Volksmund »Lindenhotel« genannte Untersuchungsgefängnis wird seit 1820 als Gerichtsgebäude und Gefängnis genutzt. Die Nationalsozialisten inhaftieren hier Zwangsarbeiter und Mitglieder von Widerstandsgruppen und verurteilen Tausende vor dem ansässigen Erbgesundheitsgericht zur Zwangssterilisation. 1945 richtet die sowjetische Besatzungsmacht in dem Gebäudekomplex ihr Untersuchungsgefängnis für das Land Brandenburg ein. Neben Personen, denen Mittäterschaft an den Verbrechen der Nationalsozialisten vorgeworfen wird, inhaftiert der sowjetische Geheimdienst NKWD/MWD vermehrt Menschen, die sich dem Aufbau einer kommunistischen Diktatur entgegenstellen. Sowjetische Militärtribunale (SMT) erteilen lange Haft- oder sogar Todesstrafen.
Im Sommer 1952 übergibt der sowjetische Geheimdienst das Areal Lindenstraße 54/55 an das Ministerium für Staatssicherheit. Bis 1989 leiden nahezu 7.000 Menschen unter den entwürdigenden Haftbedingungen und den brutalen Verhörmethoden des MfS. Der größte Teil von ihnen sitzt aus politischen Gründen, darunter fast 2.000 Menschen aufgrund gescheiterter Fluchtversuche oder Fluchthilfe. Die ehemaligen Häftlinge berichten von peniblen Verhaltensvorschriften und häufigen Schikanen durch das Wachpersonal.
Untersuchungshaft bei der Staatssicherheit heißt meistens Einzelhaft. Erst, wenn die Ermittlungen abgeschlossen sind, verlegt man die Häftlinge in Gemeinschaftszellen. Bei Reiner ist der Fall offenbar schon klar. Der 18-Jährige kommt in eine Zwei-Mann-Zelle mit einem 20-Jährigen, der von den Wachhabenden ständig verprügelt wird.
»An der Zellentür kriegten Sie einen Tritt, da flogen Sie rein, das war dort ganz normal. Ich traute mich gar nichts mehr, obwohl ich bis dahin dachte, ich wäre relativ mutig. Aber dort … Ich war total schockiert und deprimiert, ich dachte gar nicht, dass es sowas gibt.«
Der Tagesablauf der politischen Häftlinge des MfS ist bestimmt von Desorientierung und Isolation, von ununterbrochener Beleuchtung der Zellen und ständiger Überwachung über den Türspion, sowie von Verhören zu jeder Tages- und Nachtzeit. Glasbausteine verhindern die Sicht durch die Zellenfenster. Die hygienischen Bedingungen sind zu Reiners Zeit das absolute Minimum: lediglich ein Eimer, der sogenannte Kübel, dient der Notdurft. Waschbecken und Toiletten werden in der UHA Potsdam erst Mitte der 1970er-Jahre eingebaut.
»Sowas Menschenverachtendes habe ich nie wieder in meinem Leben gesehen. Sie hatten früh zwei Minuten Zeit: aufstehen, waschen, Kübel leermachen, die Hälfte über die Hände drüber, dann mussten Sie zurück. Es war katastrophal. Das kann sich kein Mensch vorstellen, was dort abging.«
Die Ermittlungen der Kriminalpolizei bringen schnell die nötigen Indizien zusammen und den Vernehmern gelingt es innerhalb kürzester Zeit, die beiden Freunde in getrennten Verhören so zu manipulieren, dass sie die versuchte Republikflucht gestehen.
Am 12. Januar 1962 wird Reiner in die MfS-Untersuchungshaftanstalt in Magdeburg verlegt. Schon am darauffolgenden Nachmittag geht die Fahrt weiter. Am Morgen erreicht der Zug den Leipziger Hauptbahnhof. Eine Ankunft, die Reiner nie vergessen wird. Die kleine Gruppe Häftlinge wird von vier Polizisten und zwei Schäferhunden eskortiert und demonstrativ am Interzonenzug vorbeigeführt. Die Reisenden beäugen die Häftlinge wie Schwerverbrecher.
»Die wussten ja nicht, dass man bloß, wenn man von einem Teil des Landes in den anderen will, verhaftet wird, und bestraft mit Gefängnis und gedemütigt wie in Potsdam mit Folter. Ich habe nie vergessen, wie diskriminierend das war. Für mich brach eine Welt zusammen.«
Über die Zwischenstationen des Haftkrankenhauses Leipzig-Meusdorf und des Zuchthauses Waldheim geht es anschließend zur Untersuchungshaftanstalt in Karl-Marx-Stadt, wo Reiner in der Zelle 71 im dritten Stock des Zellenhauses eingesperrt wird.
Das Kaßberg-Gefängnis ist Teil eines Justizkomplexes aus dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts. Auch diese Gefangenenanstalt wird während der nationalsozialistischen Diktatur und der darauffolgenden sowjetischen Besatzungszeit zur Inhaftierung tausender Menschen genutzt, darunter vor allem politische Häftlinge. Für viele von ihnen bildet das Kaßberg-Gefängnis eine der ersten Stationen auf einem langen Leidensweg durch Internie-rungslager, Strafvollzugsanstalten oder gar in den Tod.
1952 übernehmen die DDR-Behörden das Kaßberg-Gefängnis. Den D-Flügel des kreuzförmigen Gefängnisbaus nutzt das Ministerium des Innern (MdI). Im A-, B- und C-Flügel sperrt das MfS tausende politische Verfolgte ein – Menschen wie Reiner, die der SED-Herrschaft kritisch gegenüberstehen oder versucht haben, die Grenzen der DDR zu überwinden. Als größte der insgesamt 17 MfS-Untersuchungshaftanstalten und aufgrund seiner Nähe zur innerdeutschen Grenze, wird das Kaßberg-Gefängnis ab der Mitte der 1960er Jahre zur zentralen Drehscheibe des deutsch-deutschen Häftlingsfreikaufs. Fast 90 Prozent der rund 33.000 Freigekauften werden von hier aus nach Westdeutschland entlassen.
»Es war auch menschenverachtend, aber gegenüber Potsdam human. Ich hatte schon schlimmste Befürchtungen, aber ich kann mich nicht erinnern, dass hier jemand verprügelt wurde.«
Der Schlussbericht des Volkspolizeikreisamts Karl-Marx-Stadt trägt die Ermittlungsergebnisse zusammen. Demnach hat Reiner sich nach Paragraf 8, Ziffer 1 und 3 des Passgesetzes der DDR strafbar gemacht: »§ 8. (1) Wer ohne erforderliche Genehmigung das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik verläßt oder betritt oder wer ihm vorgeschriebene Reiseziele, Reisewege oder Reisefristen oder sonstige Beschränkungen der Reise oder des Aufenthaltes hierbei nicht einhält, wird mit Gefängnis bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. / (3) Vorbereitung und Versuch sind strafbar.«
Nach der nüchternen Schilderung des Fluchtversuchs wechselt der Wortlaut dieses Schlussberichts auf der vierten Seite ins Wertende. Vorwurfsvoll wird konstruiert, dass zu lasche elterliche Erziehung und die als selbstverständlich angenommenen Möglichkeiten, »sich durch Erlernen von Berufen eine sichere Existenz zu schaffen«, bei Reiner dazu geführt hätten, abgehoben und egoistisch zu handeln. »Er hat keinen Grund, sich einzubilden, in Kanada oder was er sich sonst für eine Gegend aussuchen wollte, sein Glück zu machen. Sich die Welt anzusehen, gibt es auch andere Gelegenheiten, deswegen braucht man sich nicht leichtfertig über unsere Gesetze hinwegzusetzen und einzubilden, man könnte machen, was man will. Es ist beschämend für sein moralisches Verhalten seinen Eltern gegenüber. […] Es gab für Miserochi keinen Grund, sich zu Hause nicht wohlzufühlen.«

Seite 4 des Schlussberichts des VPKA Karl-Marx-Stadt, 29. Januar 1962
Am 12. März 1962, nach dreieinhalb Monaten Untersuchungshaft, wird die gemeinsame Gerichtsverhandlung für Reiner und seinen Freund vor der Strafkammer des Kreisgerichts Karl-Marx-Stadt/Mitte-Nord einberufen. Reiner geht mit einem schlechten Gefühl in die Verhandlung. Ihm wurden in einem der letzten Verhöre im Kaßberg-Gefängnis zwei bis drei Jahre Haft in Aussicht gestellt.
Der Staatsanwalt trägt den Inhalt der von ihm verfassten Anklageschrift vor, die auf Seite zwei behauptet, »Das illegale Verlassen der DDR ist daher auch im gegenwärtigen Zeitpunkt eine Handlung mit hoher Gesellschaftsgefährlichkeit und moralisch-politisch äußerst verwerflich, weil auf diese Weise der Arbeiter- und Bauernstaat geschwächt und der Klassenfeind gestärkt wird.«
Seiten drei und vier moralisieren: »Es handelt sich bei beiden Beschuldigten um noch junge Menschen, die ideologisch noch nicht gefestigt sind und so leicht ein Opfer der westlichen Ideologie wurden. Andererseits hatten gerade sie keinerlei Veranlassung. Sie haben in der DDR die Möglichkeiten der Berufsausbildung und Weiterqualifizierung, sie haben gut verdient und auch alle sonstigen Vorteile eines Jugendlichen in einem Arbeiter- und Bauernstaat. Alles dies wollten sie eines falschen Abenteuers willen opfern. Dies zeigt, wie wenig sich die Beschuldigten schon Gedanken über ihre Rechte und Pflichten als Bürger gemacht haben. Gesellschaftlich haben sie sich in keiner Weise beteiligt und sind so um so leichter der westlichen Ideologie verfallen. Beiden Beschuldigten muß durch eine entsprechende Bestrafung das Verwerfliche ihres Verhaltens vor Augen geführt werden.«
Seltsamerweise bringt der Staatsanwalt auch mehrere mildernde Umstände ein. Und tatsächlich wird Reiner nur zu sieben Monaten und sein Freund zu sechs Monaten Haft verurteilt.
»Das ist ja für dieses Delikt ein super mildes Urteil. Ich war richtig glücklich in der Situation.«
Reiners Strafvollzug findet in Aue statt. Über diese sächsische Haftanstalt ist nicht viel bekannt. Schon kurz nach Reiners Haftzeit, ab 1964, wird sie nicht mehr als Gefängnis genutzt, sondern dient als Hort für die benachbarten Schulen.
Von den inhaftierten etwa 30 Strafgefangenen ist Reiners Erinnerung nach etwa die Hälfte politisch verurteilt. Reiner ist in einer Zwei-Mann-Zelle untergebracht, gemeinsam mit einem Koch, der für die Verpflegung der Insassen verantwortlich ist.
Reiner ist zunächst zur Haftarbeit beim Bau der Sprungschanze Johanngeorgenstadt eingesetzt. Jeden Tag werden die Häftlinge mit dem Bus zur Baustelle gefahren, wo sie mit Hammer und Meißel einen Granitfelsen bearbeiten. Nach etwa sechs Wochen erkältet Reiner sich stark. Nach seiner Genesung schlägt ihm die Verwaltung der Strafvollzugsanstalt eine andere Haftarbeit vor. Als ausgebildeten Maler kann man ihn hier gut gebrauchen, denn das gesamte Gebäude ist renovierungsbedürftig. Reiner darf die benötigten Werkzeuge und Materialien auflisten und beginnt dann, die Zellen und das Treppenhaus der Haftanstalt vorzurichten.
Ende Juni 1962 hat Reiner die Renovierungsarbeiten vollendet. In den letzten fünf Wochen des Strafvollzugs baut er in einer Werkstatt im Keller des Gefängnisses Transportketten zusammen. Am 1. August 1962 hat Reiner die Haftstrafe verbüßt und wird nach Hause entlassen. Eindrücklich bleibt ihm in Erinnerung, wie er von seinen Hausnachbarn in Karl-Marx-Stadt mit einem Blumenstrauß begrüßt wird.
»Ich sprach mit Außenstehenden nie groß darüber. Ich hätte es gar nicht fertiggebracht. Ich war froh, dass ich das hinter mir hatte. Ich litt ja in der ganzen DDR-Zeit darunter und war gar nicht interessiert, das wieder aufzurühren. Ich brauchte Jahrzehnte, um überhaupt darüber sprechen zu können.«
Auch mit seiner Familie spricht Reiner nicht oft über seine Erlebnisse. Zwar hat er ein gutes Verhältnis zu seinen Eltern und den Brüdern und niemand macht ihm je Vorwürfe. Aber es fällt Reiner trotzdem schwer – besonders seiner Mutter, die den Fluchtversuch als Abenteuerlust und jugendlichen Leichtsinn abtut – verständlich zu machen, dass es sich stattdessen um seine tief verankerte, politische Überzeugung handelt.
Reiner arbeitet weiterhin als Maler, eine Tätigkeit, die ihn nicht erfüllt. Zudem ist er ständig Lösungsmitteln ausgesetzt und bekommt zunehmend gesundheitliche Probleme.
Also wechselt Reiner zum VEB Barkas-Werke Karl-Marx-Stadt, wo er im Schichtsystem Hochdruckkompressoren repariert. Seine politische Vorbestrafung gereicht ihm im Kollegium zum Glück nicht zum Nachteil. Und auch wenn er seine persönlichen Erfahrungen nicht thematisieren möchte, ist es ihm wichtig, seine Kollegen über politisches Unrecht aufzuklären.
»Das wundert mich manchmal, dass ich das unbeschadet überstand. Wenn mich einer angeschwärzt hätte, säße ich heute noch im Gefängnis.«
Reiner verweigert die Mitgliedschaft in der SED oder DDR-Massenorganisationen, auch wenn ihm vor diesem Hintergrund eine steile Karriere versprochen wird. Er hält an seinen Idealen fest.
1968 heiratet Reiner und bekommt mit seiner Frau zwei Töchter. Der Wunsch, die DDR zu verlassen, ist immer präsent. Als Erich Honecker 1975 mit der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte von Helsinki den DDR-Bürgern das Recht auf Freizügigkeit zusichert, keimt in Reiner neue Hoffnung auf. Er möchte die Ausreise beantragen, doch seine Frau nicht. Wegen anhaltender Differenzen entschließt sich das Paar zur Trennung. Während die ältere Tochter bei der Mutter bleibt, lebt Reiners jüngere Tochter bei ihm.
Am 29. Juni 1984 stellt Reiner den ersten Ausreiseantrag für sich und seine damals 13-jährige Tochter. Aus Sicht der DDR-Behörden ist dies eine nicht akzeptable Absage an den propagierten »real existierenden Sozialismus«, für die zudem keine Rechtsgrundlage existiert. Wer die Antragstellung wagt, muss mit langwierigen und harten Schikanen auf persönlicher, familiärer und beruflicher Ebene rechnen. Über 400.000 Ostdeutsche erstreiten sich dennoch hartnäckig eine Ausreiseerlaubnis und dürfen offiziell in die Bundesrepublik übersiedeln. Die Ausreise¬bewegung trägt wesentlich zum Zusammenbruch der SED-Diktatur bei.
Reiners Antrag wird im Juli 1984 zurückgewiesen. Der 41-Jährige gibt nicht auf. Er verfasst einen neuen Antrag und anschließend mehrere Bekräftigungsschreiben. Daraufhin erhält er wiederholt Vorladungen zu Gesprächen, in denen MfS-Beamte versuchen, ihn zu überreden, den Antrag zurückzunehmen.
Reiner lehnt die Bestechungsversuche des MfS ab. Er führt auch an, seinen christlichen Glau¬ben in der Bundesrepublik viel besser leben zu können. Das nimmt man zur Kenntnis. Doch Monate und schließlich Jahre vergehen, ohne dass die Ausreise genehmigt wird. Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, kündigt Reiner bei einem der Gespräche an, sich demnächst an öffentlichkeitswirksamen Aktionen zu beteiligen.
»Schon 1988 gab es in Chemnitz stumme Demonstrationen. Das war dienstags 18.00 Uhr bei der Jakobikirche und dann wurde in Richtung Karl-Marx-Kopf gegangen. Es waren immer so 40, 50 Mann.«
Vier Jahre nach dem ersten Antrag, im September 1988, reagiert das MfS und genehmigt die »Übersiedlung« – unter der Bedingung, dass er ab sofort nicht mehr an den Demonstrationen teilnimmt. Schnell verkauft Reiner alle Möbel und den Trabant. Doch erst am 19. Januar 1989 kommt endlich der offizielle Bescheid, dass Reiner mit seiner Tochter in einer Woche die DDR verlassen darf.
Im Notaufnahmelager Gießen bekommt Reiner erstmals Kontakt zur VOS und wird Mitglied des Opferverbands. Reiner und seine Tochter ziehen in die Nähe von Stuttgart. Reiner findet Arbeit als CNC-Dreher.
Der Kontakt zur Verwandtschaft ist schwierig. Alle vier bis sechs Wochen kommen Reiner und seine Tochter mit seiner Ex-Frau und der zweiten Tochter im tschechischen Karlsbad zusammen.
Kaum ein Dreivierteljahr nach Reiners Ausreise fällt die Mauer und das Ende der DDR zeichnet sich ab. Am 1. Juli 1990 tritt die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion in Kraft. Mit dem 3. Oktober 1990 ist der deutsche Vereinigungsprozess formell abgeschlossen, wenn auch noch lange nicht auf gesellschaftlicher Ebene. Aus Liebe zu seiner zweiten Frau kehrt Reiner 1991 zurück nach Sachsen.
Mit seiner Vergangenheit hat Reiner sich in den vergangenen Jahren nur wenig auseinandergesetzt. Zwar nimmt er Einsicht in seine Stasi-Akte und hält auch viele Jahre lang Kontakt mit einem ehemaligen Zellengenossen aus dem Kaßberg-Gefängnis.
»Diese Erlebnisse haben mich mein ganzes Leben deprimiert. Ich konnte das nicht richtig verkraften. Jetzt kann ich darüber sprechen. Darauf, dass ich gegen Gesetze der DDR verstieß, bin ich stolz. Aber damals stellte man es dar, als wären die, die gegen die DDR waren, Kriegstreiber. Also wurde ich richtig menschenscheu.«
»Ich litt in dem Staat immer, war nie glücklich.«
Reiner Miserocchi wird am 25. Juni 1943 in Chemnitz geboren. Er hat zwei ältere Brüder. Reiners Mutter kettelt in Heimarbeit Strumpfspitzen und sein Vater arbeitet in Chemnitz als Schlosser. Als Soldat der Wehrmacht erlebt dieser die Schrecken des Zweiten Weltkriegs hautnah und verliert darüber seinen christlichen Glauben.
Chemnitz wird insbesondere im Frühjahr 1945 durch die US-amerikanischen und britischen Luftangriffe schwer beschädigt. Rund 27.000 Wohnungen, 167 Fabriken, 84 öffentliche Gebäude und zahlreiche Kulturbauten der Innenstadt werden zerstört. Die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht beendet die Kampfhandlungen, die in Chemnitz rund 4.000 Menschen das Leben gekostet haben. Anfang Juli 1945 ziehen die US-amerikanischen Besatzungstruppen aus der Region ab und überlassen den sowjetischen Militäreinheiten die Gebiete, die laut Beschluss der Siegermächte zur Sowjetischen Besatzungszone
SBZ werden.
Reiner und seine Familie gehören zu den Chemnitzer »Ausgebombten«. Sie kommen in einem Behelfsheim unter, eine Holzbaracke im nahegelegenen Flöha. Erst fünf Jahre später kehren sie zurück nach Chemnitz, wo Reiner eingeschult wird.
Reiners Vater tauscht sich mit seinem wissbegierigen jüngsten Sohn über die Politik der 1949 gegründeten DDR aus.
»Kurz vor den Wahlen sah ich Bilder von Ulbricht und fragte: »Papa, was ist das für einer und was macht der?« Er antwortete: »Das ist ein ganz großer Verbrecher. Aber das darfst du niemandem sagen, sonst sperren die mich ein, da siehst du mich nie wieder.«
Reiners soll aufgrund seiner guten Leistungen für das Abitur auf der Erweiterten Oberschule (EOS) vorgeschlagen werden. Doch schon kurze Zeit später gerät der Jugendliche mit der Schule in Konflikt, denn er äußert sich im Unterricht politisch zum Ungarn-Aufstand und dem Krieg zwischen Israel und den Nahost-Staaten.
»Ich rebellierte schon als Kind gegen den Staat. Es war vorprogrammiert, dass ich niemals in diesem Staat Karriere machen könnte. Meine Eltern waren nicht begeistert, dass ich mir sozusagen selbst alles verbaut hatte, aber sie sagten, »du bist alt genug, und wenn du die Meinung hast, können wir nichts daran ändern.«
Reiner wird nicht zur EOS zugelassen, Nach der achten Klasse beginnt er eine Lehre als Lokschlosser, die er aus gesundheitlichen Gründen nach drei Monaten aufgeben muss. Ab Dezember 1958 wird er bei der Produktionsgenossenschaft des Handwerks (PGH) »Albrecht Dürer« zum Dekorationsmaler ausgebildet. Reiner verfolgt das Ziel, sich später zum Restaurator weiterbilden zu lassen. Doch auch in der Lehre gibt es Ärger mit den Lehrern, weil er im Fach Staatsbürgerkunde argumentiert, dass Freiheit, Demokratie, Gleichheit in der DDR niemals sein könnten.

Die Beurteilung von Reiners Lehrbetrieb, der PGH »Albrecht Dürer«, die im Januar 1962 im Zuge der Ermittlungen zur versuchten Republikflucht vom VPKA Karl-Marx-Stadt angefordert wird
Mit einem Freund tauscht sich der 18-Jährige regelmäßig über Probleme und Wünsche aus und schmiedet schließlich Ausreisepläne. Reiner spielt mit dem Gedanken, bis nach Kanada auszuwandern.
»Ich wollte mir ein Leben in Freiheit aufbauen, wo ich meine Meinung ehrlich sagen kann, ohne Gefahr zu laufen, mir andere Menschen zu Feinden zu machen, wie es in der DDR war. Ich litt auch in dem Staat immer, ich war nie glücklich – erst, als der Staat nicht mehr existierte. Man soll als Christ nicht hassen, aber ich hasste den Staat wirklich.«
Schon seit 1945 verlassen Tausende das Gebiet der SBZ in Richtung West-Berlin oder Westdeutschland. Die anhaltende Fluchtwelle der vorwiegend jungen und qualifizierten DDR-Bürger wirkt verheerend auf die Wirtschaft und das internationale Ansehen des 1949 gegründeten Staates. Das SED-Regime reagiert, indem es ab 1952 die Grenze zur Bundesrepublik mit Stacheldraht und Minensperren abriegelt und mit der Änderung des Passgesetzes Ende 1957 das ungenehmigte Verlassen der DDR kriminalisiert. Nur die innerstädtische Sektorengrenze zwischen West- und Ostberlin ist noch relativ unkontrolliert passierbar.
Mit der Umsetzung ihrer Republikflucht wollen die beiden Freunde warten, bis Reiner seine Ausbildung abgeschlossen und die erste Lohnzahlung als Geselle bekommen hat. Zunächst planen sie einen gemeinsamen Sommerurlaub auf der Ostsee-Insel Usedom. Am 27. Juli 1961 setzen sie sich in den Zug.
Auf dem Bahnhof Berlin-Schönefeld werden Reiner und sein Freund überraschend von der Transportpolizei festgenommen – weil sie unter dem Verdacht stünden, die DDR zu verlassen. Man nimmt ihnen die Personalausweise ab und bringt sie auf die Wache. Erst gegen halb elf abends verfrachten die Transportpolizisten die jungen Männer in einen anderen Zug, von dem sie behaupten, er fahre zurück nach Karl-Marx-Stadt – so heißt Chemnitz seit 1953. Doch auf halber Strecke endet der Zug. Reiner und sein Freund übernachten auf dem Bahnhof Doberlug-Kirchhain notdürftig auf einer Bank, bis sie am nächsten Morgen mit einer anderen Verbindung nach Hause fahren können.
Reiner ist entrüstet. Er will sich über die Behandlung, die ihnen widerfahren ist, offiziell beschweren. Am Folgetag sucht er das Volkspolizeikreisamt (VPKA) Karl-Marx-Stadt auf. Der Polizeibeamte lenkt ein und entschuldigt das Verhalten der Kollegen. Reiner erhält tatsächlich seinen Personalausweis zurück und bekommt seine Fahrkarte erstattet.
Noch am selben Abend setzt sich Reiner wieder in den Zug Richtung Ostsee – allerdings allein, denn sein Freund hatte nicht denselben Mut. Er wird von denselben Polizisten kontrolliert, die ihn sogar namentlich ansprechen, aber höflich behandeln.
Nach zehn Tagen Strandurlaub fährt Reiner am 8. August 1961 zurück. Seinen Aufenthalt in Berlin nutzt er, um sich mehr Informationen zu der nach wie vor geplanten Flucht aus der DDR zu beschaffen, und fährt zum Notaufnahmelager Marienfelde. Es ist eins von drei Lagern der Bundesrepublik, welches das Aufnahmeverfahren für DDR-Bürger nach dem Notaufnahmegesetz von 1950 abwickelt. Das Gesetz regelt die rechtliche und soziale Eingliederung sowie die gleichmäßige Verteilung der Flüchtlinge auf alle Bundesländer.
»Es verließen ja damals bis zu 16.000 im Monat die DDR. Ich fragte, ob man sich deshalb vorher anmelden müsse. Man sagte mir: »Wenn Sie kommen, werden Sie nicht zurückgeschickt, Sie brauchen keine Angst haben.«
Erleichtert kehrt Reiner nach Karl-Marx-Stadt zurück. Von den Vorbereitungen des Mauerbaus, der fünf Tage später erfolgt, hat er bei seinem Aufenthalt in Berlin nichts gesehen. Umso fassungsloser ist er, als ihn am Sonntagmorgen die Nachricht von der Schließung der Sektorengrenzen erreicht.
SED-Parteichef Walter Ulbricht hatte die sowjetische Führung jahrelang gedrängt, das letzte »Schlupfloch« zwischen West- und Ostberlin zu schließen. Der 13. August 1961 zementiert die politische Spaltung des seit sechzehn Jahren geteilten Deutschlands. Ost-West-Kontakte werden abgeschnitten, die Fluchtbewegung kommt zunächst weitgehend zum Erliegen. Der Mauerbau ist Zeugnis einer Diktatur, die offenbar nur bestehen kann, wenn sie ihre Bevölkerung einmauert. Offiziell wird die Grenzsicherung allerdings als Schutzmaßnahme gegenüber dem Westen dargestellt: die Berliner Mauer sei ein »antifaschistischer Schutzwall«.
In den Folgejahren baut die DDR die innerdeutsche Grenze zu einem fast unüberwindbaren Hindernis aus. Tretminen, elektrisch geladene Zäune und seit 1966 auch Selbstschussanlagen machen zwar jeden Fluchtversuch zu einem tödlichen Risiko. Unter den insgesamt 235.000 Menschen, denen zwischen August 1961 und Ende 1988 die Flucht in die Bundesrepublik Deutschland gelingt, sind dennoch rund 40.000 »Sperrbrecher«.
Reiner beratschlagt sich mit seinem Freund und sie kommen überein, an ihren Fluchtplänen festzuhalten, auch wenn diese nun schwieriger werden.

Reiner und sein Freund, 1963
Am 31. August 1961 besteht Reiner erfolgreich seine Facharbeiterprüfung. Von den zuvor versprochenen Weiterbildungsmöglichkeiten ist im Betrieb keine Rede mehr. Also wechselt er zunächst zur PGH »Vorwärts« Karl-Marx-Stadt.
Im November 1961 besuchen die jungen Männer den Bruder von Reiners Freund, welcher in Groß Glienicke bei Potsdam wohnt. Bei der Gelegenheit erkunden sie die Umgebung und beschließen, den Fluchtversuch in diesem Gebiet umzusetzen – nicht nur, weil Reiners Freund sich gut auskennt, sondern auch wegen der besonderen Grenzsituation: Während der westliche Teil von Groß Glienicke DDR-Gebiet ist, gehört der östliche Teil zu Westberlin, dem Ziel ihrer Flucht. Sie soll zu Silvester stattfinden, genau um Mitternacht, denn von diesem Datum versprechen sie sich weniger Bewachung vor Ort.
Von ihren Plänen erfährt niemand etwas. Reiner borgt sich 100 Mark von seinem Bruder und nimmt zwei alte Wintermäntel mit, die hilfreich beim Überqueren des Stacheldrahts sein sollen.
Am 30. Dezember 1961 fahren die Freunde nach Leipzig, übernachten im Hotel, und reisen am nächsten Morgen weiter nach Potsdam. Hier schlägt Reiners Freund vor, ihren Plan spontan zu ändern.
»Er sagte, wir könnten drüben schon feiern, und da machten wir das tagsüber. Das war vielleicht der große Fehler, ich weiß nicht, vielleicht wäre es aber auch noch schiefer ausgegangen.«
Kurz nach Mittag bahnen sich die zwei Freunde ihren Weg durch das bewaldete Grenzgebiet von Groß Glienicke. Sie haben schon mehrere Verbotsschilder und Schlagbäume hinter sich gelassen und nähern sich den letzten Sperrlinien. Als sie etwa 20 Meter vor der Stacheldrahtwand sind, werden sie von zwei Grenzsoldaten mit Maschinenpistolen gestellt.
»Wenn wir versucht hätten, uns zu wehren, hätten die geschossen. Die waren da wie der Blitz aus heiterem Himmel, und da war der große Traum erstmal aus.«
Die Freunde haben sich im Vorfeld auf eine gemeinsame Geschichte geeinigt: In den Verhören behaupten sie, sich nur die Grenze angesehen zu haben, weil sie die Freunde, mit denen sie angeblich gemeinsam Silvester feiern wollten, nicht zu Hause antrafen.
Die Dokumente des Ermittlungsverfahrens beinhalten ein seltsames Detail: Sie behaupten, die beiden jungen Männer wären mit Schlittschuhen auf dem Sacrower See aufgegriffen worden. Ein Fehler, der sich noch durch das gesamte Aktenmaterial bis in die Anklageschrift ziehen und dann lediglich als Missverständnis abgetan wird.
Einige Stunden verbringt Reiner im Keller der Dienststelle der Grenzpolizei. Dann wird er in die Untersuchungshaftanstalt (UHA) der Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit
MfS der DDR in Potsdam überführt.
Das im Volksmund »Lindenhotel« genannte Untersuchungsgefängnis wird seit 1820 als Gerichtsgebäude und Gefängnis genutzt. Die Nationalsozialisten inhaftieren hier Zwangsarbeiter und Mitglieder von Widerstandsgruppen und verurteilen Tausende vor dem ansässigen Erbgesundheitsgericht zur Zwangssterilisation. 1945 richtet die sowjetische Besatzungsmacht in dem Gebäudekomplex ihr Untersuchungsgefängnis für das Land Brandenburg ein. Neben Personen, denen Mittäterschaft an den Verbrechen der Nationalsozialisten vorgeworfen wird, inhaftiert der sowjetische Geheimdienst NKWD/MWD vermehrt Menschen, die sich dem Aufbau einer kommunistischen Diktatur entgegenstellen. Sowjetische Militärtribunale (SMT) erteilen lange Haft- oder sogar Todesstrafen.
Im Sommer 1952 übergibt der sowjetische Geheimdienst das Areal Lindenstraße 54/55 an das Ministerium für Staatssicherheit. Bis 1989 leiden nahezu 7.000 Menschen unter den entwürdigenden Haftbedingungen und den brutalen Verhörmethoden des MfS. Der größte Teil von ihnen sitzt aus politischen Gründen, darunter fast 2.000 Menschen aufgrund gescheiterter Fluchtversuche oder Fluchthilfe. Die ehemaligen Häftlinge berichten von peniblen Verhaltensvorschriften und häufigen Schikanen durch das Wachpersonal.
Untersuchungshaft bei der Staatssicherheit heißt meistens Einzelhaft. Erst, wenn die Ermittlungen abgeschlossen sind, verlegt man die Häftlinge in Gemeinschaftszellen. Bei Reiner ist der Fall offenbar schon klar. Der 18-Jährige kommt in eine Zwei-Mann-Zelle mit einem 20-Jährigen, der von den Wachhabenden ständig verprügelt wird.
»An der Zellentür kriegten Sie einen Tritt, da flogen Sie rein, das war dort ganz normal. Ich traute mich gar nichts mehr, obwohl ich bis dahin dachte, ich wäre relativ mutig. Aber dort … Ich war total schockiert und deprimiert, ich dachte gar nicht, dass es sowas gibt.«
Der Tagesablauf der politischen Häftlinge des MfS ist bestimmt von Desorientierung und Isolation, von ununterbrochener Beleuchtung der Zellen und ständiger Überwachung über den Türspion, sowie von Verhören zu jeder Tages- und Nachtzeit. Glasbausteine verhindern die Sicht durch die Zellenfenster. Die hygienischen Bedingungen sind zu Reiners Zeit das absolute Minimum: lediglich ein Eimer, der sogenannte Kübel, dient der Notdurft. Waschbecken und Toiletten werden in der UHA Potsdam erst Mitte der 1970er-Jahre eingebaut.
»Sowas Menschenverachtendes habe ich nie wieder in meinem Leben gesehen. Sie hatten früh zwei Minuten Zeit: aufstehen, waschen, Kübel leermachen, die Hälfte über die Hände drüber, dann mussten Sie zurück. Es war katastrophal. Das kann sich kein Mensch vorstellen, was dort abging.«
Die Ermittlungen der Kriminalpolizei bringen schnell die nötigen Indizien zusammen und den Vernehmern gelingt es innerhalb kürzester Zeit, die beiden Freunde in getrennten Verhören so zu manipulieren, dass sie die versuchte Republikflucht gestehen.
Am 12. Januar 1962 wird Reiner in die MfS-Untersuchungshaftanstalt in Magdeburg verlegt. Schon am darauffolgenden Nachmittag geht die Fahrt weiter. Am Morgen erreicht der Zug den Leipziger Hauptbahnhof. Eine Ankunft, die Reiner nie vergessen wird. Die kleine Gruppe Häftlinge wird von vier Polizisten und zwei Schäferhunden eskortiert und demonstrativ am Interzonenzug vorbeigeführt. Die Reisenden beäugen die Häftlinge wie Schwerverbrecher.
»Die wussten ja nicht, dass man bloß, wenn man von einem Teil des Landes in den anderen will, verhaftet wird, und bestraft mit Gefängnis und gedemütigt wie in Potsdam mit Folter. Ich habe nie vergessen, wie diskriminierend das war. Für mich brach eine Welt zusammen.«
Über die Zwischenstationen des Haftkrankenhauses Leipzig-Meusdorf und des Zuchthauses Waldheim geht es anschließend zur Untersuchungshaftanstalt in Karl-Marx-Stadt, wo Reiner in der Zelle 71 im dritten Stock des Zellenhauses eingesperrt wird.
Das Kaßberg-Gefängnis ist Teil eines Justizkomplexes aus dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts. Auch diese Gefangenenanstalt wird während der nationalsozialistischen Diktatur und der darauffolgenden sowjetischen Besatzungszeit zur Inhaftierung tausender Menschen genutzt, darunter vor allem politische Häftlinge. Für viele von ihnen bildet das Kaßberg-Gefängnis eine der ersten Stationen auf einem langen Leidensweg durch Internie-rungslager, Strafvollzugsanstalten oder gar in den Tod.
1952 übernehmen die DDR-Behörden das Kaßberg-Gefängnis. Den D-Flügel des kreuzförmigen Gefängnisbaus nutzt das Ministerium des Innern (MdI). Im A-, B- und C-Flügel sperrt das MfS tausende politische Verfolgte ein – Menschen wie Reiner, die der SED-Herrschaft kritisch gegenüberstehen oder versucht haben, die Grenzen der DDR zu überwinden. Als größte der insgesamt 17 MfS-Untersuchungshaftanstalten und aufgrund seiner Nähe zur innerdeutschen Grenze, wird das Kaßberg-Gefängnis ab der Mitte der 1960er Jahre zur zentralen Drehscheibe des deutsch-deutschen Häftlingsfreikaufs. Fast 90 Prozent der rund 33.000 Freigekauften werden von hier aus nach Westdeutschland entlassen.
»Es war auch menschenverachtend, aber gegenüber Potsdam human. Ich hatte schon schlimmste Befürchtungen, aber ich kann mich nicht erinnern, dass hier jemand verprügelt wurde.«
Der Schlussbericht des Volkspolizeikreisamts Karl-Marx-Stadt trägt die Ermittlungsergebnisse zusammen. Demnach hat Reiner sich nach Paragraf 8, Ziffer 1 und 3 des Passgesetzes der DDR strafbar gemacht: »§ 8. (1) Wer ohne erforderliche Genehmigung das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik verläßt oder betritt oder wer ihm vorgeschriebene Reiseziele, Reisewege oder Reisefristen oder sonstige Beschränkungen der Reise oder des Aufenthaltes hierbei nicht einhält, wird mit Gefängnis bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. / (3) Vorbereitung und Versuch sind strafbar.«
Nach der nüchternen Schilderung des Fluchtversuchs wechselt der Wortlaut dieses Schlussberichts auf der vierten Seite ins Wertende. Vorwurfsvoll wird konstruiert, dass zu lasche elterliche Erziehung und die als selbstverständlich angenommenen Möglichkeiten, »sich durch Erlernen von Berufen eine sichere Existenz zu schaffen«, bei Reiner dazu geführt hätten, abgehoben und egoistisch zu handeln. »Er hat keinen Grund, sich einzubilden, in Kanada oder was er sich sonst für eine Gegend aussuchen wollte, sein Glück zu machen. Sich die Welt anzusehen, gibt es auch andere Gelegenheiten, deswegen braucht man sich nicht leichtfertig über unsere Gesetze hinwegzusetzen und einzubilden, man könnte machen, was man will. Es ist beschämend für sein moralisches Verhalten seinen Eltern gegenüber. […] Es gab für Miserochi keinen Grund, sich zu Hause nicht wohlzufühlen.«

Seite 4 des Schlussberichts des VPKA Karl-Marx-Stadt, 29. Januar 1962
Am 12. März 1962, nach dreieinhalb Monaten Untersuchungshaft, wird die gemeinsame Gerichtsverhandlung für Reiner und seinen Freund vor der Strafkammer des Kreisgerichts Karl-Marx-Stadt/Mitte-Nord einberufen. Reiner geht mit einem schlechten Gefühl in die Verhandlung. Ihm wurden in einem der letzten Verhöre im Kaßberg-Gefängnis zwei bis drei Jahre Haft in Aussicht gestellt.
Der Staatsanwalt trägt den Inhalt der von ihm verfassten Anklageschrift vor, die auf Seite zwei behauptet, »Das illegale Verlassen der DDR ist daher auch im gegenwärtigen Zeitpunkt eine Handlung mit hoher Gesellschaftsgefährlichkeit und moralisch-politisch äußerst verwerflich, weil auf diese Weise der Arbeiter- und Bauernstaat geschwächt und der Klassenfeind gestärkt wird.«
Seiten drei und vier moralisieren: »Es handelt sich bei beiden Beschuldigten um noch junge Menschen, die ideologisch noch nicht gefestigt sind und so leicht ein Opfer der westlichen Ideologie wurden. Andererseits hatten gerade sie keinerlei Veranlassung. Sie haben in der DDR die Möglichkeiten der Berufsausbildung und Weiterqualifizierung, sie haben gut verdient und auch alle sonstigen Vorteile eines Jugendlichen in einem Arbeiter- und Bauernstaat. Alles dies wollten sie eines falschen Abenteuers willen opfern. Dies zeigt, wie wenig sich die Beschuldigten schon Gedanken über ihre Rechte und Pflichten als Bürger gemacht haben. Gesellschaftlich haben sie sich in keiner Weise beteiligt und sind so um so leichter der westlichen Ideologie verfallen. Beiden Beschuldigten muß durch eine entsprechende Bestrafung das Verwerfliche ihres Verhaltens vor Augen geführt werden.«
Seltsamerweise bringt der Staatsanwalt auch mehrere mildernde Umstände ein. Und tatsächlich wird Reiner nur zu sieben Monaten und sein Freund zu sechs Monaten Haft verurteilt.
»Das ist ja für dieses Delikt ein super mildes Urteil. Ich war richtig glücklich in der Situation.«
Reiners Strafvollzug findet in Aue statt. Über diese sächsische Haftanstalt ist nicht viel bekannt. Schon kurz nach Reiners Haftzeit, ab 1964, wird sie nicht mehr als Gefängnis genutzt, sondern dient als Hort für die benachbarten Schulen.
Von den inhaftierten etwa 30 Strafgefangenen ist Reiners Erinnerung nach etwa die Hälfte politisch verurteilt. Reiner ist in einer Zwei-Mann-Zelle untergebracht, gemeinsam mit einem Koch, der für die Verpflegung der Insassen verantwortlich ist.
Reiner ist zunächst zur Haftarbeit beim Bau der Sprungschanze Johanngeorgenstadt eingesetzt. Jeden Tag werden die Häftlinge mit dem Bus zur Baustelle gefahren, wo sie mit Hammer und Meißel einen Granitfelsen bearbeiten. Nach etwa sechs Wochen erkältet Reiner sich stark. Nach seiner Genesung schlägt ihm die Verwaltung der Strafvollzugsanstalt eine andere Haftarbeit vor. Als ausgebildeten Maler kann man ihn hier gut gebrauchen, denn das gesamte Gebäude ist renovierungsbedürftig. Reiner darf die benötigten Werkzeuge und Materialien auflisten und beginnt dann, die Zellen und das Treppenhaus der Haftanstalt vorzurichten.
Ende Juni 1962 hat Reiner die Renovierungsarbeiten vollendet. In den letzten fünf Wochen des Strafvollzugs baut er in einer Werkstatt im Keller des Gefängnisses Transportketten zusammen. Am 1. August 1962 hat Reiner die Haftstrafe verbüßt und wird nach Hause entlassen. Eindrücklich bleibt ihm in Erinnerung, wie er von seinen Hausnachbarn in Karl-Marx-Stadt mit einem Blumenstrauß begrüßt wird.
»Ich sprach mit Außenstehenden nie groß darüber. Ich hätte es gar nicht fertiggebracht. Ich war froh, dass ich das hinter mir hatte. Ich litt ja in der ganzen DDR-Zeit darunter und war gar nicht interessiert, das wieder aufzurühren. Ich brauchte Jahrzehnte, um überhaupt darüber sprechen zu können.«
Auch mit seiner Familie spricht Reiner nicht oft über seine Erlebnisse. Zwar hat er ein gutes Verhältnis zu seinen Eltern und den Brüdern und niemand macht ihm je Vorwürfe. Aber es fällt Reiner trotzdem schwer – besonders seiner Mutter, die den Fluchtversuch als Abenteuerlust und jugendlichen Leichtsinn abtut – verständlich zu machen, dass es sich stattdessen um seine tief verankerte, politische Überzeugung handelt.
Reiner arbeitet weiterhin als Maler, eine Tätigkeit, die ihn nicht erfüllt. Zudem ist er ständig Lösungsmitteln ausgesetzt und bekommt zunehmend gesundheitliche Probleme.
Also wechselt Reiner zum VEB Barkas-Werke Karl-Marx-Stadt, wo er im Schichtsystem Hochdruckkompressoren repariert. Seine politische Vorbestrafung gereicht ihm im Kollegium zum Glück nicht zum Nachteil. Und auch wenn er seine persönlichen Erfahrungen nicht thematisieren möchte, ist es ihm wichtig, seine Kollegen über politisches Unrecht aufzuklären.
»Das wundert mich manchmal, dass ich das unbeschadet überstand. Wenn mich einer angeschwärzt hätte, säße ich heute noch im Gefängnis.«
Reiner verweigert die Mitgliedschaft in der SED oder DDR-Massenorganisationen, auch wenn ihm vor diesem Hintergrund eine steile Karriere versprochen wird. Er hält an seinen Idealen fest.
1968 heiratet Reiner und bekommt mit seiner Frau zwei Töchter. Der Wunsch, die DDR zu verlassen, ist immer präsent. Als Erich Honecker 1975 mit der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte von Helsinki den DDR-Bürgern das Recht auf Freizügigkeit zusichert, keimt in Reiner neue Hoffnung auf. Er möchte die Ausreise beantragen, doch seine Frau nicht. Wegen anhaltender Differenzen entschließt sich das Paar zur Trennung. Während die ältere Tochter bei der Mutter bleibt, lebt Reiners jüngere Tochter bei ihm.
Am 29. Juni 1984 stellt Reiner den ersten Ausreiseantrag für sich und seine damals 13-jährige Tochter. Aus Sicht der DDR-Behörden ist dies eine nicht akzeptable Absage an den propagierten »real existierenden Sozialismus«, für die zudem keine Rechtsgrundlage existiert. Wer die Antragstellung wagt, muss mit langwierigen und harten Schikanen auf persönlicher, familiärer und beruflicher Ebene rechnen. Über 400.000 Ostdeutsche erstreiten sich dennoch hartnäckig eine Ausreiseerlaubnis und dürfen offiziell in die Bundesrepublik übersiedeln. Die Ausreise¬bewegung trägt wesentlich zum Zusammenbruch der SED-Diktatur bei.
Reiners Antrag wird im Juli 1984 zurückgewiesen. Der 41-Jährige gibt nicht auf. Er verfasst einen neuen Antrag und anschließend mehrere Bekräftigungsschreiben. Daraufhin erhält er wiederholt Vorladungen zu Gesprächen, in denen MfS-Beamte versuchen, ihn zu überreden, den Antrag zurückzunehmen.
Reiner lehnt die Bestechungsversuche des MfS ab. Er führt auch an, seinen christlichen Glau¬ben in der Bundesrepublik viel besser leben zu können. Das nimmt man zur Kenntnis. Doch Monate und schließlich Jahre vergehen, ohne dass die Ausreise genehmigt wird. Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, kündigt Reiner bei einem der Gespräche an, sich demnächst an öffentlichkeitswirksamen Aktionen zu beteiligen.
»Schon 1988 gab es in Chemnitz stumme Demonstrationen. Das war dienstags 18.00 Uhr bei der Jakobikirche und dann wurde in Richtung Karl-Marx-Kopf gegangen. Es waren immer so 40, 50 Mann.«
Vier Jahre nach dem ersten Antrag, im September 1988, reagiert das MfS und genehmigt die »Übersiedlung« – unter der Bedingung, dass er ab sofort nicht mehr an den Demonstrationen teilnimmt. Schnell verkauft Reiner alle Möbel und den Trabant. Doch erst am 19. Januar 1989 kommt endlich der offizielle Bescheid, dass Reiner mit seiner Tochter in einer Woche die DDR verlassen darf.
Im Notaufnahmelager Gießen bekommt Reiner erstmals Kontakt zur VOS und wird Mitglied des Opferverbands. Reiner und seine Tochter ziehen in die Nähe von Stuttgart. Reiner findet Arbeit als CNC-Dreher.
Der Kontakt zur Verwandtschaft ist schwierig. Alle vier bis sechs Wochen kommen Reiner und seine Tochter mit seiner Ex-Frau und der zweiten Tochter im tschechischen Karlsbad zusammen.
Kaum ein Dreivierteljahr nach Reiners Ausreise fällt die Mauer und das Ende der DDR zeichnet sich ab. Am 1. Juli 1990 tritt die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion in Kraft. Mit dem 3. Oktober 1990 ist der deutsche Vereinigungsprozess formell abgeschlossen, wenn auch noch lange nicht auf gesellschaftlicher Ebene. Aus Liebe zu seiner zweiten Frau kehrt Reiner 1991 zurück nach Sachsen.
Mit seiner Vergangenheit hat Reiner sich in den vergangenen Jahren nur wenig auseinandergesetzt. Zwar nimmt er Einsicht in seine Stasi-Akte und hält auch viele Jahre lang Kontakt mit einem ehemaligen Zellengenossen aus dem Kaßberg-Gefängnis.
»Diese Erlebnisse haben mich mein ganzes Leben deprimiert. Ich konnte das nicht richtig verkraften. Jetzt kann ich darüber sprechen. Darauf, dass ich gegen Gesetze der DDR verstieß, bin ich stolz. Aber damals stellte man es dar, als wären die, die gegen die DDR waren, Kriegstreiber. Also wurde ich richtig menschenscheu.«