Karl-Heinz Mantau

Karl-Heinz Mantau

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»Ich war sechs Jahre alt, als mein Vater spurlos verschwand.«

Die Lebensgeschichte von Karl-Heinz Mantau ist eng verbunden mit dem Schicksal seines Vaters Kurt Mantau – einem Mann, der Opfer stalinistischer Verfolgung wurde.

Während die Kampfhandlungen des Zweiten Weltkriegs in vollem Gange sind, erwartet Liesbeth Mantau von ihrem Mann Kurt das erste Kind. Kurt Mantau dient als Soldat in der Wehrmacht und kämpft an der Front. 1943 flieht Liesbeth aus Ostpreußen zu ihren Eltern ins sächsische Brand-Erbisdorf. Hier wird Karl-Heinz am 30. November 1943 geboren.

Der Einmarsch der Roten Armee und die Übernahme der SBZ nach Ende des Zweiten Weltkriegs erfolgt durch die sowjetischen Soldaten teilweise mit heftigen Übergriffen auf die deutsche Bevölkerung. Liesbeth Mantau und ihr Sohn Karl-Heinz überstehen die Zeit relativ unbescholten, da in ihrem Wohnhaus eine sowjetische Kommandantur eingerichtet wird. Die Offiziere, die teilweise gut deutsch sprechen und im Zivilberuf Lehrer sind, stellen sich schützend vor die junge Mutter.

Der Soldat Kurt Mantau gerät währenddessen in sowjetische Kriegsgefangenschaft und kehrt erst 1947 zu seiner Familie zurück. Wo genau er interniert wurde und ob er zu Zwangsarbeit verpflichtet war, ist heute nicht mehr nachvollziehbar und Karl-Heinz, der zum Zeitpunkt der Rückkehr erst vier Jahre alt ist, kann sich nicht daran erinnern, dass der Vater von seiner Gefangenschaft berichtet. Kurt Mantau findet Arbeit bei der damaligen Wismut AG in Brand-Erbisdorf. 1946 und 1948 werden Karl-Heinz‘ Brüder geboren.

Foto: Kurt Mantau mit Karl-Heinz auf dem Arm, 1944

Kurt Mantau mit Karl-Heinz auf dem Arm, 1944

»Und eines Tages nach der Schicht, das war genau der 30. August 1949, kam er nicht nach Hause. Mein Vater war praktisch verschwunden und wir wussten nicht, wo er war.«

Noch am selben Abend dringen Beamte des sowjetischen Innenministeriums MWD in die Wohnung der Familie Mantau ein und durchsuchen das Inventar. Der knapp sechsjährige Karl-Heinz ist erschrocken über die mit Maschinenpistolen bewaffneten Männer. Auf die Frage, wo sich ihr Ehemann befinde, erhält Liesbeth Mantau keine Antwort. Die Beamten suchen nach Waffen und ziehen schließlich wortlos ab.

Karl-Heinz‘ Mutter ist jedoch eine resolute Frau und nimmt die Situation nicht ohne weiteres hin, weshalb sie die sowjetische Militärkommandantur in Brand-Erbisdorf aufsucht und dort nach einem Anhaltspunkt zum Verbleib ihres Mannes fragt. Man verweigert ihr jegliche Auskunft.

Kurt Mantau bleibt mehrere Jahre verschollen, ohne dass jemand Informationen zu seinem Aufenthaltsort hat. Bekannt ist nur, dass Mitarbeiter des MWD ihn von der Arbeitsstelle aus mitnahmen. Die Gründe für seine Festnahme bleiben unbekannt, denn niemand sonst ist in demselben Zusammenhang verhaftet worden.

Karl-Heinz‘ Mutter ist nun auf sich allein gestellt und muss jede mögliche Arbeit annehmen, um sich und ihre drei Kinder zu ernähren. Unterstützung erhalten sie vom Großvater, trotzdem sind ihre Möglichkeiten äußerst beschränkt. Die wirtschaftliche Not macht Liesbeth erfinderisch. Zu seiner Einschulung trägt Karl-Heinz eine Schuluniform, die seine Mutter aus einem alten Wehrmachtsmantel geschneidert hat.

Foto: Karl-Heinz Mantau in einer Schuluniform aus Wehrmachtsstoff, 1950

Karl-Heinz Mantau in einer Schuluniform aus Wehrmachtsstoff, 1950

Anfang der 1950er Jahre werden über einen Radiosender der Bundesrepublik Suchmeldungen ausgestrahlt. Deutsche Kriegs- und Strafgefangene, die aus der Sowjetunion nach Hause kehren, nennen in der Sendung die Namen von Kameraden, mit denen sie zusammen waren. Auch in der DDR hört man heimlich das Programm.

»Eine Nachbarin kam zu meiner Mutter und sagte: ›Gestern Abend fiel der Name Kurt Mantau im Zusammenhang mit Workuta.‹«

Durch die Radiosendung hat Liesbeth Mantau zum ersten Mal einen konkreten Hinweis, dem sie nachgehen kann. Erneut spricht sie bei der sowjetischen Militäradministration vor, die nun nicht umhinkommt, den Sachverhalt zu bestätigen. Ein schriftlicher Beleg wird aber nicht ausgegeben.

Wie Karl-Heinz erst Jahrzehnte später aus dem Aktenmaterial über seinen Vater erfährt, verbringt Kurt Mantau nach seiner Festnahme eine Nacht im Amtsgericht in Brand-Erbisdorf und wird anschließend im Chemnitzer Kaßberg-Gefängnis und im Dresdener Gefängnis Münchner Platz inhaftiert und verhört.

Mit großer Wahrscheinlichkeit vergehen zermürbende Wochen in Untersuchungshaft, bevor es zu einer Verurteilung durch das sowjetische Militärtribunal (SMT) kommt. Eine ordentliche Gerichtsverhandlung findet allerdings nicht statt. Den Häftlingen werden in stundenlanger Folter Geständnisse erpresst, welche die ohnehin festgelegten Strafmaße stützen sollen.

Kurt Mantau wird nach Artikel 58 des Strafgesetzbuches (StGB) der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. Die einzelnen Bestimmungen des Artikels 58 sind weit auslegbar, jedwede antikommunistische Haltung oder Tätigkeit kann als Rechtfertigung ausreichen. Doch auch wirtschaftliche Beweggründe spielen eine Rolle, denn man setzt die Häftlinge nach ihrer Verurteilung zur Zwangsarbeit in der UdSSR ein.

Die Angehörigen erfahren derweil nichts über das Schicksal der Verschwundenen, und meistens bleiben die Gefangenen selbst im Unklaren darüber, wohin es nach der Urteilsverkündung geht.

Über die Zwischenstationen Frankfurt/Oder, Brest-Litowsk und Gorki tritt Kurt Mantau die lange Zugreise in eine Strafregion im äußersten Norden Russlands an. Wegen ihrer Eisstürme und der klirrend-kalten Winter haben die Russen diesen Ort einst »Heimat des Teufels« getauft. Eine Gegend, die kaum ein Arbeiter freiwillig betreten hätte. Doch hier lagern enorme Mengen an Bodenschätzen, deshalb lässt Stalin Hunderttausende in den nördlichen Polarkreis verschleppen, um die Rohstoffe abzubauen.

Das Workuta-ITL (Ispravitelnyj trudovoj lager) ist eines der härtesten Zwangsarbeitslager des GULAG-Komplexes und befindet sich nördlich des Polarkreises in der Republik Komi. Es ist ein Gebiet von der Fläche Frankreichs, übersät mit Lagern für bis zu 73.000 Menschen verschiedener Nationalitäten. Das Workuta-ITL wird im Mai 1938 eröffnet und besteht bis 1960. Ein riesiges Sklavenlager, um Steinkohle, Erdgas und Erdöl abzubauen.

Wer die wochenlange Fahrt in den unbeheizten Güterzügen und die vorangegangene Folter, den Hunger und die sich epidemisch ausbreitenden Krankheiten übersteht, den erwartet in Workuta keine Besserung: Die Neulinge werden zunächst in Quarantäne gesteckt und müssen nur leichte Arbeiten verrichten. Die Gewöhnung an die klimatischen Verhältnisse steht im Vordergrund, denn neun Monate Dauerwinter mit Temperaturen von bis zu −56 °C setzen den meist unzureichend bekleideten Deportierten erheblich zu.

Die primitiven Baracken aus Holz, in denen die Häftlinge mit Unmengen von Ungeziefer zu kämpfen haben, können der Kälte nur wenig entgegensetzen. Körperliche Hygiene ist in Workuta nur eingeschränkt möglich, ebenso unzureichend fällt die medizinische Versorgung aus. Viele Gefangene leiden an Mangelerkrankungen, da die Nahrung keine oder kaum Vitamin- oder Eiweißbestandteile besitzt, teilweise gefroren oder verdorben ist.

Der typische Arbeitsalltag ist in 10-Stunden-Schichten eingeteilt, körperlich anstrengende Arbeit in der Steinkohleförderung und im Grubenbau oder schwere Bau- und Verladearbeiten. Ab 1952 bekommen die Internierten neben den festgelegten Essensrationen einen geringen, vom Erreichen der Arbeitsnorm abhängigen Verdienst ausgezahlt, den sie in zusätzliche Nahrungsmittel investieren können.

Nach Josef Stalins Tod im März 1953 und einem blutig niedergeschlagenen Aufstand in Workuta verändern sich die Haftbedingungen zum Positiven. In den Baracken werden die Gitter von den Fenstern entfernt und die Verpflegung verbessert sich.

Kurt Mantau erhält endlich die Möglichkeit, seine Familie zu kontaktieren. Am 8. Januar 1954 erreicht Liesbeth Mantau die erste Postkarte aus Workuta. Die Karten laufen über ein Postfach in Moskau, wo sie gelesen und zensiert und von dort aus in die DDR verschickt werden.

Bemerkenswert ist, dass Kurt Mantau zunächst einen fremden Namen als Absender angibt – vermutlich ist es der eines Kameraden, der zeitiger als er die Genehmigung bekommt, Karten in die Heimat zu schreiben. Ob der Kamerad ihm einen großen Freundschaftsdienst erweist oder Kurt Mantau sich die Gelegenheit teuer erkaufen muss, bleibt ein Geheimnis. Offiziell ist es im GULAG jederzeit möglich, seinen Angehörigen Briefe zu schreiben, nur müssen Ausländer dafür ein spezielles Formular ausfüllen, das bislang nie vorrätig war. Ab September 1954 steht Kurt Mantaus eigener Name im Adressfeld des Verfassers.

Nicht jede abgeschickte Karte erreicht ihren Empfänger. Vielleicht fällt sie der Zensur zum Opfer oder geht auf dem langen Weg verloren. Acht Postkarten seines Vaters aus dem Workuta-ITL sind Karl-Heinz bis heute geblieben.

»Das sind die einzigen vorhandenen Dokumente aus der Zeit. Meine Mutter hob sie sorgfältig auf. Dafür bin ich ihr jetzt noch dankbar.«

Die Postkarten dokumentieren die Sehnsucht eines Vaters nach seiner Familie. Neben der Bitte um Zusendung warmer Kleidung, Rasierzeug und Tabakpfeifen – sicherlich eine begehrte Tauschware – fragt Kurt Mantau auch nach Fotografien von Liesbeth und den Kindern. In seinen Worten wird immer wieder die Sorge um die Familie deutlich, denn er stellt viele Fragen nach dem Wohlbefinden der Angehörigen und fragt seine Frau, ob sie arbeiten muss, um die Kinder zu ernähren.

Abbildung der Postkarte von Kurt Mantau an seine Familie, 2. Oktober 1954

Postkarte von Kurt Mantau an seine Familie, 2. Oktober 1954

Kurt Mantau bittet auch darum, dass Karl-Heinz ein paar Worte schreiben möge. Aber der bekommt die Karten nicht zu Gesicht. Als seine Mutter 2005 verstirbt, fallen ihm die Briefe erstmals in die Hände.

»Meine Mutter, bedingt durch die Umstände in dieser Zeit, wollte uns sicherlich schützen. Als Kind ist man ja offen und trägt das raus.«

Karl-Heinz ist 1954 elf, seine Brüder acht und sechs Jahre alt. Um ihre Kinder vor gesellschaftlichen Benachteiligungen so gut es geht zu bewahren, verordnet Liesbeth Mantau ihnen ein gewisses Maß an Unwissenheit. Die Thematik der Zwangsarbeiter wird nicht nur familiär, sondern auch gesellschaftlich totgeschwiegen.

Vom Suchdienst Hamburg erhält Liesbeth Mantau im Dezember 1954 endlich eine offizielle schriftliche Bestätigung darüber, dass ihr Mann sich im Arbeitslager Workuta befindet, lebend gesehen am 23. Juni 1953, Schacht 8. Doch die Bescheinigung bringt der Familie keine Vorteile, sondern haftet ihnen als Makel an. Durch seine politische Verurteilung gilt Kurt Mantau als Feind des kommunistischen Regimes.

Mitte des Jahres 1955 klingt in den Postkarten aus Workuta eine neue Thematik an. Die Ehe der Mantaus droht unter den Umständen der jahrelangen Trennung zu scheitern. Dennoch wünscht sich Kurt Mantau zurück zu seiner Familie und schreibt seiner Frau: »Warte auf mich, ich komme bald. Uns trennen nur noch Tage.«

Damit liegt er richtig, denn Konrad Adenauer erreicht nach seinem Besuch in Moskau im September 1955 die Freilassung der letzten deutschen Gefangenen in der Sowjetunion, knapp 10.000 ehemalige Wehrmachts- und Waffen-SS-Soldaten sowie rund 20.000 politisch inhaftierte Zivilisten. Schon im Oktober 1955 kommen die ersten 600 Heimkehrer im Lager Friedland an.

Kurt Mantau wird am 6. Januar 1956 entlassen. Doch er kehrt nicht zu seiner Frau, dem 13-jährigen Karl-Heinz und dessen zwei Brüdern zurück, sondern reist in die Bundesrepublik, wo er sich bei Verwandten niederlässt.

»Dort waren seine Startmöglichkeiten besser. Aus der Sicht gesehen. Aus der Sicht eines Sohnes hätte ich mir einen anderen Weg gewünscht.«

Die widrigen Haftbedingungen und die schwere Arbeit im Steinkohlebergbau sind auf Kosten von Kurt Mantaus Gesundheit gegangen, er bleibt für den Rest seines Lebens gezeichnet vom Raubbau an seinem Körper und seiner Seele. In der ersten Zeit hält Karl-Heinz Briefkontakt mit seinem Vater und tauscht Fotos mit dem Mann aus, den er in seiner Kindheit kaum kennengelernt hat. Doch nach und nach verliert sich der Kontakt.

Die Eltern lassen sich scheiden und Kurt Mantau lernt in seiner neuen Heimat eine andere Frau kennen, die er später heiratet. Was für Karl-Heinz eine unbestimmte Sehnsucht nach dem Mann ist, den er im Alter von sechs Jahren verlor, ist für seine jüngeren Brüder Normalität: ohne einen Vater aufzuwachsen.

Karl-Heinz schließt seine schulische Laufbahn 1960 mit der 10. Klasse auf der Mittelschule ab. Zum Abitur wird er nicht zugelassen und ein Zusammenhang mit der politischen Belastung seines Vaters ist hier nicht auszuschließen. Karl-Heinz lässt sich zum Industriekaufmann ausbilden und zieht dafür aus seiner Heimat in die Oberlausitz. Mit dem Lehrlingsgehalt kann er zum Lebensunterhalt seiner Familie beitragen. Später gründet er eine eigene Familie, er heiratet und bekommt einen Sohn.

Aufgrund des schlechten Gesundheitszustands seines Vaters erhält Karl-Heinz 1974 erstmals eine Besuchsgenehmigung für die Bundesrepublik. Als er mit dem Zug gegen Mitternacht ankommt, steht auf dem Bahnsteig nur ein Mann. Es ist sein Vater.

»Dort nahm ich meinen Vater das erste Mal so richtig bewusst wahr.«

Die Gespräche zwischen Vater und Sohn thematisieren die schwere Vergangenheit kaum. Kurt Mantau deutet lediglich die in Gefangenschaft erlittene körperliche Gewalt an, die ihn seine Zähne einbüßen ließ. Der Sohn scheut sich davor, tiefer nachzubohren, und bedauert das heute. Doch der Vater ist für ihn damals ein Fremder.

Karl-Heinz nimmt wahr, wie schlecht es dem Vater geht. Kurt Mantau wird von einer Schwester gepflegt und muss starke Medikamente einnehmen. 1976 wird die Besuchsgenehmigung verweigert. Daraufhin stellt Karl-Heinz gemeinsam mit seiner Frau einen Antrag auf Ausreise aus der DDR.

Einmal wöchentlich wird das Ehepaar fortan zum Rat des Kreises eingeladen, wo sie stundenlange Gespräche führen müssen, um ihre Gründe für den Ausreiseantrag zu erläutern. Die Mitarbeiter üben Druck aus: zu fünft sitzen sie Karl-Heinz gegenüber, der stets getrennt von seiner Frau befragt wird. Dass er sich als ältester Sohn für die Pflege des kranken Vaters verantwortlich fühlt, wird nicht akzeptiert. Man bietet stattdessen an, Kurt Mantau könne doch in die DDR übersiedeln, doch Karl-Heinz weiß, dass die medizinische Versorgung hier nicht ausreichend ist.

So zieht sich das Warten auf eine Entscheidung hin, bis seine Frau eines Tages einen Schlussstrich zieht. Sie bangt um ihre Arbeitsstelle und stellt Karl-Heinz vor die Wahl, den Antrag zurückzuziehen oder allein überzusiedeln. Für Karl-Heinz kommt es nicht in Frage, seine Familie zurückzulassen, und so zieht er den Ausreiseantrag zurück.

»Wahrscheinlich ein großer Fehler, aber man wusste ja nicht, wohin die Entwicklung mal geht. Nur die kühnsten Optimisten erwarteten, was dann mit der Wiedervereinigung kam.«

Der Rücknahme des Ausreiseantrags folgen keine Konsequenzen. Es wird Karl-Heinz sogar gestattet, über den zweiten Bildungsweg zu studieren. Von 1980 bis 1985 studiert er in Zittau an der Abendschule und macht ein Diplom als Wirtschaftsingenieur. Anschließend zieht er zurück ins Erzgebirge, wo er eine Arbeitsstelle bei der Akademie der Wissenschaften antritt.

Um in der Gemeindeverwaltung zu arbeiten, absolviert Karl-Heinz 1992 eine Ausbildung zum Verwaltungsfachangestellten. Die Mitarbeiter des Öffentlichen Dienstes müssen für ihre Tätigkeit den sogenannten Persilschein erbringen, einen Nachweis, zu DDR-Zeiten nicht für das Ministerium für Staatssicherheit MfS tätig gewesen zu sein, deshalb beantragt er Einsicht in seine Stasi-Akte. Die Akte legt ihm offen, dass er jahrelang von sage und schreibe zehn Informellen Mitarbeitern (IM) bespitzelt wurde.

2001 verstirbt Kurt Mantau. Der Verlust seines Vaters stößt in Karl-Heinz den Wunsch an, sich intensiv mit dessen politischer Gefangenschaft zu beschäftigen und nachzuforschen, wie es dazu kommen konnte. Er kontaktiert verschiedene Archive und Organisationen und besorgt sich die Lagerakte sowie die Straf- und Prozessakte aus Moskauer Archiven.

Das Aktenmaterial ist umfangreich und beinhaltet Dokumente, Fotos und Fingerabdrücke, doch der Großteil der zumeist handschriftlich und auf Russisch verfassten Schriftstücke wurde geschwärzt. Auch eine Übersetzung liefert letztendlich keinen Hinweis darauf, ob es einen tatsächlichen Anlass für die Verhaftung gegeben hat, oder nur Willkür im Spiel war.

»Hätte eine Straftat vorgelegen, wäre er nicht mit zehn Jahren Arbeitslager davongekommen, wenn überhaupt mit dem Leben. Wir hätten noch mehr Repressalien erleiden müssen. Aber unterschwellig taucht immer wieder die Frage auf… vielleicht war da doch mal was?«

Kurt Mantau wird im März 2002 durch die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation rehabilitiert.

Karl-Heinz engagiert sich weiterhin als Zeitzeuge, um das Thema in die schulische Bildung zu bringen. 2008 initiiert er in Rechenberg-Bienenmühle einen Gedenkstein, der die Inschrift »Den Toten zum Gedenken – Den Lebenden zur Mahnung« trägt und gleichermaßen den Opfern des Zweiten Weltkriegs und denen des Stalinismus gewidmet ist.

Bereits seit der deutschen Wiedervereinigung hat Karl-Heinz guten Kontakt zur Bezirksgruppe Freiberg der Vereinigung der Opfer des Stalinismus e.V. (VOS). 2015 wird er selbst deren Mitglied und übernimmt den Bezirksvorsitz. Es ist ihm eine Herzensangelegenheit, die Bezirksgruppe zusammenzuhalten und aktiv dazu beizutragen, die Erinnerungen seiner Kameraden niemals ins Vergessen geraten zu lassen.

»Ich war sechs Jahre alt, als mein Vater spurlos verschwand.«

Die Lebensgeschichte von Karl-Heinz Mantau ist eng verbunden mit dem Schicksal seines Vaters Kurt Mantau – einem Mann, der Opfer stalinistischer Verfolgung wurde.

Während die Kampfhandlungen des Zweiten Weltkriegs in vollem Gange sind, erwartet Liesbeth Mantau von ihrem Mann Kurt das erste Kind. Kurt Mantau dient als Soldat in der Wehrmacht und kämpft an der Front. 1943 flieht Liesbeth aus Ostpreußen zu ihren Eltern ins sächsische Brand-Erbisdorf. Hier wird Karl-Heinz am 30. November 1943 geboren.

Der Einmarsch der Roten Armee und die Übernahme der SBZ nach Ende des Zweiten Weltkriegs erfolgt durch die sowjetischen Soldaten teilweise mit heftigen Übergriffen auf die deutsche Bevölkerung. Liesbeth Mantau und ihr Sohn Karl-Heinz überstehen die Zeit relativ unbescholten, da in ihrem Wohnhaus eine sowjetische Kommandantur eingerichtet wird. Die Offiziere, die teilweise gut deutsch sprechen und im Zivilberuf Lehrer sind, stellen sich schützend vor die junge Mutter.

Der Soldat Kurt Mantau gerät währenddessen in sowjetische Kriegsgefangenschaft und kehrt erst 1947 zu seiner Familie zurück. Wo genau er interniert wurde und ob er zu Zwangsarbeit verpflichtet war, ist heute nicht mehr nachvollziehbar und Karl-Heinz, der zum Zeitpunkt der Rückkehr erst vier Jahre alt ist, kann sich nicht daran erinnern, dass der Vater von seiner Gefangenschaft berichtet. Kurt Mantau findet Arbeit bei der damaligen Wismut AG in Brand-Erbisdorf. 1946 und 1948 werden Karl-Heinz‘ Brüder geboren.

Foto: Kurt Mantau mit Karl-Heinz auf dem Arm, 1944

Kurt Mantau mit Karl-Heinz auf dem Arm, 1944

»Und eines Tages nach der Schicht, das war genau der 30. August 1949, kam er nicht nach Hause. Mein Vater war praktisch verschwunden und wir wussten nicht, wo er war.«

Noch am selben Abend dringen Beamte des sowjetischen Innenministeriums MWD in die Wohnung der Familie Mantau ein und durchsuchen das Inventar. Der knapp sechsjährige Karl-Heinz ist erschrocken über die mit Maschinenpistolen bewaffneten Männer. Auf die Frage, wo sich ihr Ehemann befinde, erhält Liesbeth Mantau keine Antwort. Die Beamten suchen nach Waffen und ziehen schließlich wortlos ab.

Karl-Heinz‘ Mutter ist jedoch eine resolute Frau und nimmt die Situation nicht ohne weiteres hin, weshalb sie die sowjetische Militärkommandantur in Brand-Erbisdorf aufsucht und dort nach einem Anhaltspunkt zum Verbleib ihres Mannes fragt. Man verweigert ihr jegliche Auskunft.

Kurt Mantau bleibt mehrere Jahre verschollen, ohne dass jemand Informationen zu seinem Aufenthaltsort hat. Bekannt ist nur, dass Mitarbeiter des MWD ihn von der Arbeitsstelle aus mitnahmen. Die Gründe für seine Festnahme bleiben unbekannt, denn niemand sonst ist in demselben Zusammenhang verhaftet worden.

Karl-Heinz‘ Mutter ist nun auf sich allein gestellt und muss jede mögliche Arbeit annehmen, um sich und ihre drei Kinder zu ernähren. Unterstützung erhalten sie vom Großvater, trotzdem sind ihre Möglichkeiten äußerst beschränkt. Die wirtschaftliche Not macht Liesbeth erfinderisch. Zu seiner Einschulung trägt Karl-Heinz eine Schuluniform, die seine Mutter aus einem alten Wehrmachtsmantel geschneidert hat.

Foto: Karl-Heinz Mantau in einer Schuluniform aus Wehrmachtsstoff, 1950

Karl-Heinz Mantau in einer Schuluniform aus Wehrmachtsstoff, 1950

Anfang der 1950er Jahre werden über einen Radiosender der Bundesrepublik Suchmeldungen ausgestrahlt. Deutsche Kriegs- und Strafgefangene, die aus der Sowjetunion nach Hause kehren, nennen in der Sendung die Namen von Kameraden, mit denen sie zusammen waren. Auch in der DDR hört man heimlich das Programm.

»Eine Nachbarin kam zu meiner Mutter und sagte: ›Gestern Abend fiel der Name Kurt Mantau im Zusammenhang mit Workuta.‹«

Durch die Radiosendung hat Liesbeth Mantau zum ersten Mal einen konkreten Hinweis, dem sie nachgehen kann. Erneut spricht sie bei der sowjetischen Militäradministration vor, die nun nicht umhinkommt, den Sachverhalt zu bestätigen. Ein schriftlicher Beleg wird aber nicht ausgegeben.

Wie Karl-Heinz erst Jahrzehnte später aus dem Aktenmaterial über seinen Vater erfährt, verbringt Kurt Mantau nach seiner Festnahme eine Nacht im Amtsgericht in Brand-Erbisdorf und wird anschließend im Chemnitzer Kaßberg-Gefängnis und im Dresdener Gefängnis Münchner Platz inhaftiert und verhört.

Mit großer Wahrscheinlichkeit vergehen zermürbende Wochen in Untersuchungshaft, bevor es zu einer Verurteilung durch das sowjetische Militärtribunal (SMT) kommt. Eine ordentliche Gerichtsverhandlung findet allerdings nicht statt. Den Häftlingen werden in stundenlanger Folter Geständnisse erpresst, welche die ohnehin festgelegten Strafmaße stützen sollen.

Kurt Mantau wird nach Artikel 58 des Strafgesetzbuches (StGB) der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. Die einzelnen Bestimmungen des Artikels 58 sind weit auslegbar, jedwede antikommunistische Haltung oder Tätigkeit kann als Rechtfertigung ausreichen. Doch auch wirtschaftliche Beweggründe spielen eine Rolle, denn man setzt die Häftlinge nach ihrer Verurteilung zur Zwangsarbeit in der UdSSR ein.

Die Angehörigen erfahren derweil nichts über das Schicksal der Verschwundenen, und meistens bleiben die Gefangenen selbst im Unklaren darüber, wohin es nach der Urteilsverkündung geht.

Über die Zwischenstationen Frankfurt/Oder, Brest-Litowsk und Gorki tritt Kurt Mantau die lange Zugreise in eine Strafregion im äußersten Norden Russlands an. Wegen ihrer Eisstürme und der klirrend-kalten Winter haben die Russen diesen Ort einst »Heimat des Teufels« getauft. Eine Gegend, die kaum ein Arbeiter freiwillig betreten hätte. Doch hier lagern enorme Mengen an Bodenschätzen, deshalb lässt Stalin Hunderttausende in den nördlichen Polarkreis verschleppen, um die Rohstoffe abzubauen.

Das Workuta-ITL (Ispravitelnyj trudovoj lager) ist eines der härtesten Zwangsarbeitslager des GULAG-Komplexes und befindet sich nördlich des Polarkreises in der Republik Komi. Es ist ein Gebiet von der Fläche Frankreichs, übersät mit Lagern für bis zu 73.000 Menschen verschiedener Nationalitäten. Das Workuta-ITL wird im Mai 1938 eröffnet und besteht bis 1960. Ein riesiges Sklavenlager, um Steinkohle, Erdgas und Erdöl abzubauen.

Wer die wochenlange Fahrt in den unbeheizten Güterzügen und die vorangegangene Folter, den Hunger und die sich epidemisch ausbreitenden Krankheiten übersteht, den erwartet in Workuta keine Besserung: Die Neulinge werden zunächst in Quarantäne gesteckt und müssen nur leichte Arbeiten verrichten. Die Gewöhnung an die klimatischen Verhältnisse steht im Vordergrund, denn neun Monate Dauerwinter mit Temperaturen von bis zu −56 °C setzen den meist unzureichend bekleideten Deportierten erheblich zu.

Die primitiven Baracken aus Holz, in denen die Häftlinge mit Unmengen von Ungeziefer zu kämpfen haben, können der Kälte nur wenig entgegensetzen. Körperliche Hygiene ist in Workuta nur eingeschränkt möglich, ebenso unzureichend fällt die medizinische Versorgung aus. Viele Gefangene leiden an Mangelerkrankungen, da die Nahrung keine oder kaum Vitamin- oder Eiweißbestandteile besitzt, teilweise gefroren oder verdorben ist.

Der typische Arbeitsalltag ist in 10-Stunden-Schichten eingeteilt, körperlich anstrengende Arbeit in der Steinkohleförderung und im Grubenbau oder schwere Bau- und Verladearbeiten. Ab 1952 bekommen die Internierten neben den festgelegten Essensrationen einen geringen, vom Erreichen der Arbeitsnorm abhängigen Verdienst ausgezahlt, den sie in zusätzliche Nahrungsmittel investieren können.

Nach Josef Stalins Tod im März 1953 und einem blutig niedergeschlagenen Aufstand in Workuta verändern sich die Haftbedingungen zum Positiven. In den Baracken werden die Gitter von den Fenstern entfernt und die Verpflegung verbessert sich.

Kurt Mantau erhält endlich die Möglichkeit, seine Familie zu kontaktieren. Am 8. Januar 1954 erreicht Liesbeth Mantau die erste Postkarte aus Workuta. Die Karten laufen über ein Postfach in Moskau, wo sie gelesen und zensiert und von dort aus in die DDR verschickt werden.

Bemerkenswert ist, dass Kurt Mantau zunächst einen fremden Namen als Absender angibt – vermutlich ist es der eines Kameraden, der zeitiger als er die Genehmigung bekommt, Karten in die Heimat zu schreiben. Ob der Kamerad ihm einen großen Freundschaftsdienst erweist oder Kurt Mantau sich die Gelegenheit teuer erkaufen muss, bleibt ein Geheimnis. Offiziell ist es im GULAG jederzeit möglich, seinen Angehörigen Briefe zu schreiben, nur müssen Ausländer dafür ein spezielles Formular ausfüllen, das bislang nie vorrätig war. Ab September 1954 steht Kurt Mantaus eigener Name im Adressfeld des Verfassers.

Nicht jede abgeschickte Karte erreicht ihren Empfänger. Vielleicht fällt sie der Zensur zum Opfer oder geht auf dem langen Weg verloren. Acht Postkarten seines Vaters aus dem Workuta-ITL sind Karl-Heinz bis heute geblieben.

»Das sind die einzigen vorhandenen Dokumente aus der Zeit. Meine Mutter hob sie sorgfältig auf. Dafür bin ich ihr jetzt noch dankbar.«

Die Postkarten dokumentieren die Sehnsucht eines Vaters nach seiner Familie. Neben der Bitte um Zusendung warmer Kleidung, Rasierzeug und Tabakpfeifen – sicherlich eine begehrte Tauschware – fragt Kurt Mantau auch nach Fotografien von Liesbeth und den Kindern. In seinen Worten wird immer wieder die Sorge um die Familie deutlich, denn er stellt viele Fragen nach dem Wohlbefinden der Angehörigen und fragt seine Frau, ob sie arbeiten muss, um die Kinder zu ernähren.

Abbildung der Postkarte von Kurt Mantau an seine Familie, 2. Oktober 1954

Postkarte von Kurt Mantau an seine Familie, 2. Oktober 1954

Kurt Mantau bittet auch darum, dass Karl-Heinz ein paar Worte schreiben möge. Aber der bekommt die Karten nicht zu Gesicht. Als seine Mutter 2005 verstirbt, fallen ihm die Briefe erstmals in die Hände.

»Meine Mutter, bedingt durch die Umstände in dieser Zeit, wollte uns sicherlich schützen. Als Kind ist man ja offen und trägt das raus.«

Karl-Heinz ist 1954 elf, seine Brüder acht und sechs Jahre alt. Um ihre Kinder vor gesellschaftlichen Benachteiligungen so gut es geht zu bewahren, verordnet Liesbeth Mantau ihnen ein gewisses Maß an Unwissenheit. Die Thematik der Zwangsarbeiter wird nicht nur familiär, sondern auch gesellschaftlich totgeschwiegen.

Vom Suchdienst Hamburg erhält Liesbeth Mantau im Dezember 1954 endlich eine offizielle schriftliche Bestätigung darüber, dass ihr Mann sich im Arbeitslager Workuta befindet, lebend gesehen am 23. Juni 1953, Schacht 8. Doch die Bescheinigung bringt der Familie keine Vorteile, sondern haftet ihnen als Makel an. Durch seine politische Verurteilung gilt Kurt Mantau als Feind des kommunistischen Regimes.

Mitte des Jahres 1955 klingt in den Postkarten aus Workuta eine neue Thematik an. Die Ehe der Mantaus droht unter den Umständen der jahrelangen Trennung zu scheitern. Dennoch wünscht sich Kurt Mantau zurück zu seiner Familie und schreibt seiner Frau: »Warte auf mich, ich komme bald. Uns trennen nur noch Tage.«

Damit liegt er richtig, denn Konrad Adenauer erreicht nach seinem Besuch in Moskau im September 1955 die Freilassung der letzten deutschen Gefangenen in der Sowjetunion, knapp 10.000 ehemalige Wehrmachts- und Waffen-SS-Soldaten sowie rund 20.000 politisch inhaftierte Zivilisten. Schon im Oktober 1955 kommen die ersten 600 Heimkehrer im Lager Friedland an.

Kurt Mantau wird am 6. Januar 1956 entlassen. Doch er kehrt nicht zu seiner Frau, dem 13-jährigen Karl-Heinz und dessen zwei Brüdern zurück, sondern reist in die Bundesrepublik, wo er sich bei Verwandten niederlässt.

»Dort waren seine Startmöglichkeiten besser. Aus der Sicht gesehen. Aus der Sicht eines Sohnes hätte ich mir einen anderen Weg gewünscht.«

Die widrigen Haftbedingungen und die schwere Arbeit im Steinkohlebergbau sind auf Kosten von Kurt Mantaus Gesundheit gegangen, er bleibt für den Rest seines Lebens gezeichnet vom Raubbau an seinem Körper und seiner Seele. In der ersten Zeit hält Karl-Heinz Briefkontakt mit seinem Vater und tauscht Fotos mit dem Mann aus, den er in seiner Kindheit kaum kennengelernt hat. Doch nach und nach verliert sich der Kontakt.

Die Eltern lassen sich scheiden und Kurt Mantau lernt in seiner neuen Heimat eine andere Frau kennen, die er später heiratet. Was für Karl-Heinz eine unbestimmte Sehnsucht nach dem Mann ist, den er im Alter von sechs Jahren verlor, ist für seine jüngeren Brüder Normalität: ohne einen Vater aufzuwachsen.

Karl-Heinz schließt seine schulische Laufbahn 1960 mit der 10. Klasse auf der Mittelschule ab. Zum Abitur wird er nicht zugelassen und ein Zusammenhang mit der politischen Belastung seines Vaters ist hier nicht auszuschließen. Karl-Heinz lässt sich zum Industriekaufmann ausbilden und zieht dafür aus seiner Heimat in die Oberlausitz. Mit dem Lehrlingsgehalt kann er zum Lebensunterhalt seiner Familie beitragen. Später gründet er eine eigene Familie, er heiratet und bekommt einen Sohn.

Aufgrund des schlechten Gesundheitszustands seines Vaters erhält Karl-Heinz 1974 erstmals eine Besuchsgenehmigung für die Bundesrepublik. Als er mit dem Zug gegen Mitternacht ankommt, steht auf dem Bahnsteig nur ein Mann. Es ist sein Vater.

»Dort nahm ich meinen Vater das erste Mal so richtig bewusst wahr.«

Die Gespräche zwischen Vater und Sohn thematisieren die schwere Vergangenheit kaum. Kurt Mantau deutet lediglich die in Gefangenschaft erlittene körperliche Gewalt an, die ihn seine Zähne einbüßen ließ. Der Sohn scheut sich davor, tiefer nachzubohren, und bedauert das heute. Doch der Vater ist für ihn damals ein Fremder.

Karl-Heinz nimmt wahr, wie schlecht es dem Vater geht. Kurt Mantau wird von einer Schwester gepflegt und muss starke Medikamente einnehmen. 1976 wird die Besuchsgenehmigung verweigert. Daraufhin stellt Karl-Heinz gemeinsam mit seiner Frau einen Antrag auf Ausreise aus der DDR.

Einmal wöchentlich wird das Ehepaar fortan zum Rat des Kreises eingeladen, wo sie stundenlange Gespräche führen müssen, um ihre Gründe für den Ausreiseantrag zu erläutern. Die Mitarbeiter üben Druck aus: zu fünft sitzen sie Karl-Heinz gegenüber, der stets getrennt von seiner Frau befragt wird. Dass er sich als ältester Sohn für die Pflege des kranken Vaters verantwortlich fühlt, wird nicht akzeptiert. Man bietet stattdessen an, Kurt Mantau könne doch in die DDR übersiedeln, doch Karl-Heinz weiß, dass die medizinische Versorgung hier nicht ausreichend ist.

So zieht sich das Warten auf eine Entscheidung hin, bis seine Frau eines Tages einen Schlussstrich zieht. Sie bangt um ihre Arbeitsstelle und stellt Karl-Heinz vor die Wahl, den Antrag zurückzuziehen oder allein überzusiedeln. Für Karl-Heinz kommt es nicht in Frage, seine Familie zurückzulassen, und so zieht er den Ausreiseantrag zurück.

»Wahrscheinlich ein großer Fehler, aber man wusste ja nicht, wohin die Entwicklung mal geht. Nur die kühnsten Optimisten erwarteten, was dann mit der Wiedervereinigung kam.«

Der Rücknahme des Ausreiseantrags folgen keine Konsequenzen. Es wird Karl-Heinz sogar gestattet, über den zweiten Bildungsweg zu studieren. Von 1980 bis 1985 studiert er in Zittau an der Abendschule und macht ein Diplom als Wirtschaftsingenieur. Anschließend zieht er zurück ins Erzgebirge, wo er eine Arbeitsstelle bei der Akademie der Wissenschaften antritt.

Um in der Gemeindeverwaltung zu arbeiten, absolviert Karl-Heinz 1992 eine Ausbildung zum Verwaltungsfachangestellten. Die Mitarbeiter des Öffentlichen Dienstes müssen für ihre Tätigkeit den sogenannten Persilschein erbringen, einen Nachweis, zu DDR-Zeiten nicht für das Ministerium für Staatssicherheit MfS tätig gewesen zu sein, deshalb beantragt er Einsicht in seine Stasi-Akte. Die Akte legt ihm offen, dass er jahrelang von sage und schreibe zehn Informellen Mitarbeitern (IM) bespitzelt wurde.

2001 verstirbt Kurt Mantau. Der Verlust seines Vaters stößt in Karl-Heinz den Wunsch an, sich intensiv mit dessen politischer Gefangenschaft zu beschäftigen und nachzuforschen, wie es dazu kommen konnte. Er kontaktiert verschiedene Archive und Organisationen und besorgt sich die Lagerakte sowie die Straf- und Prozessakte aus Moskauer Archiven.

Das Aktenmaterial ist umfangreich und beinhaltet Dokumente, Fotos und Fingerabdrücke, doch der Großteil der zumeist handschriftlich und auf Russisch verfassten Schriftstücke wurde geschwärzt. Auch eine Übersetzung liefert letztendlich keinen Hinweis darauf, ob es einen tatsächlichen Anlass für die Verhaftung gegeben hat, oder nur Willkür im Spiel war.

»Hätte eine Straftat vorgelegen, wäre er nicht mit zehn Jahren Arbeitslager davongekommen, wenn überhaupt mit dem Leben. Wir hätten noch mehr Repressalien erleiden müssen. Aber unterschwellig taucht immer wieder die Frage auf… vielleicht war da doch mal was?«

Kurt Mantau wird im März 2002 durch die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation rehabilitiert.

Karl-Heinz engagiert sich weiterhin als Zeitzeuge, um das Thema in die schulische Bildung zu bringen. 2008 initiiert er in Rechenberg-Bienenmühle einen Gedenkstein, der die Inschrift »Den Toten zum Gedenken – Den Lebenden zur Mahnung« trägt und gleichermaßen den Opfern des Zweiten Weltkriegs und denen des Stalinismus gewidmet ist.

Bereits seit der deutschen Wiedervereinigung hat Karl-Heinz guten Kontakt zur Bezirksgruppe Freiberg der Vereinigung der Opfer des Stalinismus e.V. (VOS). 2015 wird er selbst deren Mitglied und übernimmt den Bezirksvorsitz. Es ist ihm eine Herzensangelegenheit, die Bezirksgruppe zusammenzuhalten und aktiv dazu beizutragen, die Erinnerungen seiner Kameraden niemals ins Vergessen geraten zu lassen.