Joachim Liebmann (†)

Joachim Liebmann (†)

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»Wir waren schon halbe Russen.«

Der Kraftfahrer Max Liebmann und seine Frau Martha, eine Weberin, die in der Teppichfabrik Wurzen arbeitet, werden am 15. Januar 1929 Eltern des kleinen Joachim. Der Junge mit den blonden Locken wächst als Einzelkind in seinem Geburtsort Großzschepa auf, wo er ab 1935 die Volksschule besucht. Ab dem fünften Schuljahr wechselt er an die Handelsschule nach Wurzen.

Foto: Familie Liebmann, 1938

Familie Liebmann, 1938

Joachims Vater besitzt zwar ein Parteiabzeichen der NSDAP, trägt es aber nicht. Als 1939 der Zweite Weltkrieg ausbricht, kommentiert Max Liebmann die Meldung sorgenvoll mit den Worten, das gehe mal nicht gut aus. Er hält seinen 10-jährigen Sohn aber nicht davon ab, ins Deutsche Jungvolk einzutreten, so wie es in diesem Alter üblich ist.

Mit dem Rückzug der Wehrmacht verlagern sich die Kriegshandlungen ab Winter 1942 zunehmend auf deutsches Gebiet. Der Schulbetrieb wird vielerorts eingestellt, so auch in Wurzen, wo die Handelsschule zum Lazarett umfunktioniert wird. Joachim muss zunächst auf seinen Abschluss der mittleren Reife verzichten.

Beim Deutschen Jungvolk wird er als Fähnleinführer eingesetzt. In der Endphase des Zweiten Weltkriegs ruft die NSDAP alle waffenfähigen Männer im Alter von 16 bis 60 Jahren dazu auf, die Truppen der Wehrmacht zu verstärken. Ende April 1945 wird der 16-jährige Joachim deshalb Teil des Volkssturms. Vereinnahmt von der nationalsozialistischen Jugenderziehung fiebert er seinem Einsatz als Flakhelfer entgegen.

»Damals warst du so. Du warst Feuer und Flamme, für Adolf Hitler hättest du alles gegeben.«

Foto: Joachim Liebmann, 1939

Joachim Liebmann, 1939

Die Hitlerjungen sollen in einem Wehrertüchtigungslager in Grimma ausgebildet werden, doch da die Stadt bereits von amerikanischen Truppen besetzt ist, kehren sie zurück nach Hause. Dann übernimmt die sowjetische Militäradministration das Gebiet, das Teil der sowjetischen Besatzungszone SBZ ist.

Ab Mai 1945 zieht eine erste Verhaftungswelle durch das Land, Uniformträger verschwinden aus ihren Positionen. Joachim wartet darauf, dass er bald wieder zur Schule gehen kann. Doch die Handels schule teilt ihm postalisch mit, dass man ihn aufgrund seiner Mitgliedschaft in der Hitlerjugend nicht wieder aufnehmen werde.

Vorübergehend hilft Joachim in einem Landwirtschaftsbetrieb aus. Allmählich kehrt eine gewisse Normalität in den Nachkriegsalltag ein. Die Jugend stellt Kapellen zusammen und organisiert kleine Tanzveranstaltungen. Joachim will die vielen Bombennächte vergessen und blickt positiv in die Zukunft.

Doch erneut verschwinden Menschen aus der ländlichen Region, diesmal sind es auch Frauen und Jugendliche. Am Morgen des 19. September 1945 holt ein Ortspolizist Joachim zu einer kurzen Befragung ab, weil in der Nacht Hakenkreuze und Hetzparolen an eine Eisenbahnbrücke geschmiert wurden. Unerschrocken fährt der 16-Jährige mit, denn er hat mit der Sache nichts zu tun.

»Auf solche Gedanken kam ich damals nicht. War ja froh, dass Ruhe war.«

Gemeinsam mit einem anderen Jugendlichen wird Joachim ins Amt der Kreispolizei im ehemaligen Rathaus Wurzen gebracht. Drei Stunden verbringen sie hier, ohne dass etwas passiert und überbrücken die Wartezeit mit der Überlegung, welche Zugverbindung sie nach der Vernehmung wohl schnellstens wieder nach Hause bringen könnte.

Als ein sowjetischer Feldwebel eintrifft und die Jungen zum Wurzener Schloss fährt, um sie dem NKWD zu übergeben, ist es mit Joachims Sorglosigkeit vorbei. Ihm werden Gürtel, Hosenträger und Schnürsenkel abgenommen, man sperrt ihn in eine Zelle.

Allein sitzt er in der fünf mal zwei Meter großen Gefängniszelle und beginnt, sich Gedanken zu machen. In einer Ecke steht ein Kübel für die Notdurft, der einmal am Tag geleert wird und furchtbar stinkt. Eine einzelne, ununterbrochen brennende Glühbirne an der Decke lässt Tag und Nacht miteinander verschwimmen; nur darf man sich tagsüber nicht hinlegen, sondern muss das Bett hochklappen.

Seine Vorgänger haben sich mit einer unheilvollen Botschaft an der Zellenwand verewigt, die ihm nie wieder aus dem Sinn gehen wird: »Wurzen, Wurzen, ohne Zweifel, dich schuf nicht Gott, dich schuf der Teufel.«

Durch die Ofenrohre, die untereinander verbunden sind, ist es Joachim möglich, mit den Gefangenen der Nachbarzellen Kontakt aufzunehmen. Tagsüber springt er zum Fenster hoch, hält sich an den Gitterstäben fest und schaut auf den Innenhof des Wurzener Schlosses.

Foto: Schlosshof Wurzen – oberhalb der rechten Tür ein Zellenfenster

Schlosshof Wurzen – oberhalb der rechten Tür ein Zellenfenster

In den Abendstunden wird Joachim von sowjetischen Soldaten abgeholt und zu einem großen Zimmer geführt, in dem ihn ein russischer Offizier verhört. Eine Ostarbeiterin soll die Übersetzung leisten, aber Joachim fällt es schwer, ihr gebrochenes Deutsch zu ver stehen. Der Vernehmer zeigt dafür keine Nachsicht. Missfällt ihm eine Antwort, so wirft er mit einem großen, schweren Aschenbecher nach Joachim. Die Beamten des NKWD wenden psychische und physische Gewalt an, sie schlagen den Jungen bis aufs Blut. Die Angst vor der nächsten Misshandlung lässt ihn schon erzittern, sobald der Abend anbricht.

»Die Vernehmung in Wurzen war mit meine schlimmste Zeit. Die gingen ganz, ganz schlimm mit uns um. Das war schon Folter, was dort durchgeführt wurde.«

Joachim rechnet damit, dass ihm seine Position in der Hitlerjugend zum Vorwurf gemacht wird, doch zu seiner Überraschung unterstellt man ihm stattdessen eine Mitgliedschaft in der nationalsozialistischen Partisanengruppe »Werwolf«. Der 16-Jährige kennt den Begriff nur aus der Schulzeit, eine Organisation dieser Art gibt es in der Region nicht.

Der Befehl des Volkskommissars für innere Angelegenheiten der UdSSR Nr. 00315 vom 18. April 1945 benennt Kategorien von Personen, die bei der Säuberung der eingenommenen Gebiete in Arrest zu nehmen sind. Die Anordnung setzt sowohl die Einrichtung der Speziallager in der SBZ als auch die Mobilisierung arbeitsfähiger Deutscher zum Einsatz in der UdSSR in Gang. Unter Absatz 1 a) und b) fallen Angehörige von Spionagegruppen oder terroristischen Agenturen – also die Organisation »Werwolf«, deren bloße Existenz zur Legitimierung tausender Verhaftungen dient.

Eines Tages haben die quälenden Verhöre ein Ende. Joachim wird ein auf Russisch verfasstes Schriftstück vorgelegt, das er unterschreiben soll. Er weigert sich und wird erneut mit Gewalt zum Gehorsam gezwungen. Dann bekommt er warme Kleidung, die man von seinen Eltern holen ließ, denn mittler weile ist es der 14. Oktober 1945 und die Kälte des nahenden Winters hält Einzug.

14 Jungen und Männer und eine junge Frau werden unter strenger Bewachung auf den Hof getrieben, wo sie in einen Viehtransporter einer lokalen Fleischerei einsteigen und sich auf den Boden der Ladefläche setzen müssen. Zwei bewaffnete Posten hinter dem Führerhaus über wachen die Fahrt, die Richtung Oschatz geht. Trotzdem gelingt es den Jugendlichen, kleine Zettelchen durch die Schlitze des Wagens zu werfen, die Botschaften über ihre Inhaftierung enthalten und tatsächlich von aufmerksamen Bürgern aufgehoben und weitergeleitet werden.

Kurz vor Luppa hat das Auto eine Motorpanne und muss von der Wurzener Feuerwehr abgeschleppt werden, es geht zurück zum Schloss. Joachim plant einen Fluchtversuch, doch als sie auf dem Domplatz ankommen, erwarten sie dort 15 Wachposten mit aufgepflanztem Bajonett.

Die Gefangenen verbringen eine weitere Nacht in der Zelle, dann beginnt am Morgen des 15. Oktober der Transport mit einem anderen Fahrzeug von vorn. Es geht mit einer Fähre über die Elbe, bis sie ein Barackenlager hinter der Stadt Mühlberg erreichen. Das sowjetische Speziallager Nr. 1 Mühlberg, zu NS-Zeiten ein Kriegsgefangenenlager, wird vom NKWD für dessen Zwecke weitergenutzt.

Als Joachim das Lagergelände betritt, ist es mit einer Belegschaft von ca. 1.500 Internierten noch weitestgehend leer. Später werden bis zu 12.000 Mann gleichzeitig in den 40 Baracken gefangen gehalten. Joachim ist ein Schlafplatz in der Baracke 2 zugeteilt. Gleich in der ersten Nacht fallen Massen von Flöhen über ihn her.

Jeden Tag erreichen Transporte das Lager. Mal sind es kleine Grüppchen, mal einige Hundert Mann, die schon seit mehreren Wochen in anderen Gefängnissen eingesessen haben und nun auf dem Bahnhof Neuburxdorf ankommen. Weil nur ein Stacheldraht und noch kein Bretterzaun das Lagergelände abschirmt, kann Joachim die blassen Häftlinge schon aus der Ferne kommen sehen.

Obwohl es bloß ein kleines Stückchen war, dauerte das manchmal Stunden, ehe sie sich über das Feld bis ins Lager geschleppt hatten. Manche konnten gar nicht mehr laufen. Ein furchtbares Elend!

Um den Ankömmlingen eine Unterkunft zu bieten, müssen die heruntergewirtschafteten Baracken wiederaufgebaut werden. Diese Tätigkeit erfolgt durch die ersten Internierten, die im Speziallager Mühlberg eintreffen. Schnell sind die simplen Pritschen an Ort und Stelle installiert, die schlichten Bretterwände ausgebessert. Arbeit haben von nun an nur noch die von der deutschen Lagerverwaltung ausgewählten Kommandos, der Rest ist zum Nichtstun verdammt.

Ein Tag gleicht dem anderen. Weil die Gefangenen durch nichts abgelenkt werden, sind ihre quälenden Gedanken noch präsenter. Die Mangelernährung, die fehlenden Möglichkeiten der Hygiene und die sich epidemisch ausbreitenden Krankheiten führen dazu, dass täglich Dutzende Menschen sterben.

Durch Zufall erhält Joachim den Posten als Melder am Haupttor. Von morgens um sechs bis abends um zehn hat er nun die Aufgabe, einen russischen Sergeanten beim Öffnen und Schließen des Lagertors zu unterstützen. Er ruft die Mitglieder der Arbeitskommandos auf, die bei jedem Ein- und Ausgang von den sowjetischen Wachposten kontrolliert werden. Eine weiße Binde am Arm kennzeichnet Joachims Position.

Die Tätigkeit bringt ihm mehrere Vorteile ein. Arbeitende erhalten einen Nachschlag bei der täglichen Suppenration und haben es somit einfacher, dem körperlichen Verfall entgegenzuwirken. Joachim versorgt auch seine Kameraden mit den zusätzlichen Portionen.

Am Haupttor hat er nicht nur einen guten Überblick über die Geschehnisse im Lager, sondern auch davon, was vor den Toren geschieht, und kann seine eigenen Geschicke ein wenig lenken. So schafft er es heimlich zweimal, seine Mutter im Wald zu treffen. Einen Fluchtversuch wagt er nicht, denn er wiegt sich noch immer in der Hoffnung, bald entlassen zu werden, da er sich ja keines Verbrechens schuldig gemacht hat.

Im Februar 1947 untersucht eine Kommission russischer Ärzte den Gesundheitszustand der Internierten des sowjetischen Speziallagers Nr. 1. Parolen gehen durch die Reihen der Gefangenen, optimistisch ruft man sich die Überzeugung von einer baldigen Heimkehr zu. Die Männer werden in drei Gesundheitsstufen eingeteilt, bei denen die dritte Dystrophie bedeutet, während erste eine gute, arbeitsfähige Verfassung darstellt und direkt in ein Quarantänelager führt.

Joachim kommt ebenfalls ins Quarantänelager. Doch die Männer sind nicht ausgewählt, nach Hause zu fahren, sondern werden zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion geschickt.

»Ich sage, das war ein Vorteil. Ohne die Arbeit wäre ich vielleicht nicht nach Russland gekommen – aber dann wäre ich vielleicht in Mühlberg verreckt.«

Die Männer werden gebadet, entlaust und rasiert und anschließend mit Tarnkleidung der ehemaligen deutschen Wehrmacht ausgestattet: dicke Wattejacken, Handschuhe, Pelzmützen. Bei der Verabschiedung der Kameraden, die im Lager Mühlberg zurückbleiben, fließen Tränen.

Am 8. Februar 1947 besteigt Joachim gemeinsam mit rund 1.000 Mann, darunter auch Internierte aus anderen Speziallagern, einen aus 28 Viehwaggons bestehenden Zug. In jeden Waggon steckt man 40 Gefangene, die sich zwei Etagen Pritschen, einen kleinen Kanonenofen und einen Kübel für die Notdurft teilen.

33 Tage sind sie mit der Eisenbahn unterwegs, und je weiter sie fahren, desto kälter wird es. Durch die Ritzen des Waggons versuchen die Gefangenen zu erahnen, wohin sie deportiert werden. Draußen ziehen immer seltener Ortschaften und Bahnhöfe vorbei, sondern schneebedeckte, schier endlose Weiten.

In unregelmäßigen Abständen hält der Zug, dann müssen aus jedem Waggon zwei Männer mit einem Alu-Kübel zum Küchenwaggon hetzen. Manchmal ist die Zeit zu knapp, um rechtzeitig vor der Weiterfahrt in ihren Waggon zurückzukehren. Dann springen sie in den nächstbesten und die Insassen müssen stundenlang warten, ehe sie ihre Mahlzeit beim nächsten Halt bekommen. Am meisten leiden die Gefangenen während der wochenlangen Fahrt an Durst.

Außerdem geht ihnen das Brennmaterial aus. In der Not verheizen sie sogar ihre Pritschen. Die lange Fahrt auf engem Raum und ohne jede Bewegung ist strapaziös. Joachim und seine Kameraden merken, wie ihnen nach und nach die Kräfte schwinden. Am 13. März stoppt der Zug schließlich, denn sie haben ihren Zielort erreicht. Es ist die sibirische Stadt Anschero-Sudschensk im Verwaltungsbezirk Kemerowo, 7.000 Kilometer von der Heimat entfernt und von meterhohem Schnee bedeckt.

»Willkommen als Arbeitssklaven Stalins in der Steinkohlengrube, im Dreischichtsystem, 1.000 Meter unter der Erde.«

Manche schaffen vor Entkräftung kaum den Weg vom Bahnhof bis zu dem Lager aus Steinbaracken, in dem sie unterkommen. Dort werden die Männer in drei Kompanien aufgeteilt und mit Helmen und Arbeitskleidung ausgestattet. Die Batterien für ihre Handlampe müssen sie jeden Tag nach Schichtende wieder abgeben. Ihre Kleidung, die bei der Arbeit unter Tage nass wird, wird niemals gewaschen, sondern nur an Haken aufgehängt, wo der Schmutz fest eintrocknet.

Der mittlerweile 18-jährige Joachim wird dem Vortriebsabschnitt zugeteilt und muss gemeinsam mit fünf Kameraden neue Stollen in den Berg schlagen. Mit ihnen leisten auch Russen, japanische Kriegsgefangene und Wolga deutsche die harte Zwangsarbeit unter Tage.

Die Lebensumstände in Anschero-Sudschensk sind deutlich erträglicher als im Lager Mühlberg. Für ihre anstrengende körperliche Tätigkeit bekommen die Gefangenen qualitativ und quantitativ besseres Essen und ab 1948 sogar eine Entlohnung, deren Höhe sich nach der Normerfüllung richtet. Einen Teil davon müssen sie für die Unterkunft und als Reparationsleistung abführen. Was übrig bleibt, investieren sie in zusätzliches Essen.

Manchmal sind die Vorräte aber schon von den Ratten aufgefressen. Das Ungeziefer ist weiterhin ein stetiger Wegbegleiter der Internierten. Nicht selten müssen sie bei der Arbeit im Schacht Pausen einlegen, um die Flöhe und Wanzen zu knacken, die bei steigender Körperwärme in ihrer Kleidung mobil werden.

Eines Tages erkrankt Joachim an Meningitis und verliert unter starkem Fieber das Bewusstsein. Er hat es dem Lagerarzt Hugo Betac zu verdanken, dass er die Krankheit überlebt. Drei ebenfalls erkrankte Kameraden sterben an der Hirnhautentzündung.

Was den Gefangenen die Zeit in Anschero-Sudschensk erheblich erleichtert, ist die Erlaubnis, über Postkarten des Roten Kreuzes mit ihrer Familie und Freunden Kontakt aufnehmen zu können. So können sie sich Lebenszeichen senden, austauschen und Mut zusprechen.

1949 erfolgt ein sowjetischer Befehl, der es Ausländern untersagt, unter Tage zu arbeiten. Für die Gefangenen wird schnell ein neuer Einsatzort gefunden. Auf Bau stellen sind sie den strengen klimatischen Bedingungen Sibiriens schonungslos ausgesetzt und müssen mit einer Picke den hartgefrorenen Boden bearbeiten, eine Sisyphusarbeit.

Die Essensrationen werden wieder kleiner. Das Lager wird nach Prokopjewsk verlegt. Dort ist Joachim einem Arbeitskommando im Sägewerk zugeteilt, das große Baumstämme sortiert, umlagert und bearbeitet. So vergehen zwei Jahre. Jeder hofft, dass es irgendwann nach Hause geht, doch manche Kameraden drohen angesichts ihrer aussichtslosen Lage den Antrieb zu verlieren.

»Solche musstest du aufrichten. Wenn du den Willen verlorst, war das der halbe Tod.«

Doch im April 1950 bereitet man die Heimreise der Internierten vor. Wieder steigen 1.000 Mann auf einen Güterzug, nur werden diesmal die Waggons nicht verschlossen und es fährt lediglich ein kleines sowjetisches Begleitkommando mit. Frohen Mutes tauschen die Kameraden Adressen aus, öffnen während der Fahrt sogar die Türen und lassen ihre Beine in der frühlingswarmen Luft baumeln.

Der Zug macht in Moskau einen Zwischenstopp, bei dem die Männer sich in der zentralen Sauna waschen und entlausen dürfen. Dann geht es über Minsk bis ins weißrussische Brest-Litowsk. Hier endet die russische Breitspur und macht einen Zugwechsel erforderlich. Weil von deutscher Seite nicht ausreichend Waggons für alle Heimkehrer bereitstehen, kommen sie übergangsweise in einem ehemaligen Kriegsgefangenenlager unter.

Zwei Tage später werden fast 900 Gefangene weitertransportiert. Joachim ist einer der wenigen, die im Lager bleiben müssen und zum Auffüllen anderer Transporte vorgesehen sind. Mit mulmigem Gefühl warten die Männer. Am nächsten Tag ruft man sie nach alphabetischer Reihenfolge auf. Liebmann und Leppert werden als letzte Namen genannt, bevor die Waggons voll besetzt sind. Die Kameraden passieren gerade das Lagertor, da ruft man sie wieder zurück, denn die sowjetischen Wachposten haben sich verzählt.

»Das kostete mich zwei Jahre.«

Zurückgeblieben auf dem Bahnhof Brest laden Joachim und seine etwa 80 Kameraden Getreide und Fleischhälften für das Nahrungs kombinat Wurzen und Eisenbarren für das Stahlwerk Riesa von russischen in deutsche Waggons um. Heimlich schmuggeln sie Kassiber in die Waggons, um ihre Angehörigen über ihren aktuellen Aufenthaltsort zu benachrichtigen.

Weil die Bewachung nicht mehr so streng ist, gelingt es den Männern auch, sich einige Male auf den Personenbahnhof zu stehlen. Dort nehmen sie Kontakt zum deutschen Zugpersonal auf und nutzen ebenfalls die Gelegenheit, Briefe mitzugeben. Einige der Botschaften erreichen die vorgesehenen Adressaten, so auch Joachims Eltern.

Ein kleiner Teil der Gefangenen wird in ein etwa 50 Kilometer entferntes Barackenlager gefahren. Dort müssen sie vormittags einen Waggon mit Holz beladen, anschließend haben sie den Rest des Tages arbeitsfrei und können sich relativ frei bewegen. Doch dieser erbauliche Aufenthalt ist kurz, nach etwa einem Monat geht es zurück zum Bahnhof Brest.

Noch immer kündigt sich keine Heimreise an, stattdessen gehen wieder Parolen um, die den Verdacht erhärten, zurück nach Osten verschickt zu werden. Wenige Tage später bringt man die Männer nach Minsk, wo eine Kugellagerfabrik errichtet werden soll. Joachim wird für Maurerarbeiten eingesetzt, die Kenntnisse dazu muss er sich selbst aneignen.

Beim Bau des Haupteingangs des Fabrikgebäudes hat er mit seinem Kameraden Wolfgang Looß einen gefährlichen Unfall. Das Gerüst, konstruiert aus dem vor Ort frisch geschlagenen Holz, hält der Beanspruchung nicht stand und bricht in vier Stockwerken Höhe unter den Männern zusammen. Mit großem Glück überstehen beide Männer das Unglück nahezu unbeschadet.

Das Versprechen, die Zwangsarbeiter nach Beendigung der Bauarbeiten nach Hause zu schicken, wird von den Sowjets 1951 umgangen, indem sie die Inhaftierten vor Fertigstellung der Kugellagerfabrik abermals auf Reisen schicken. Es geht Richtung Süden in die Ukraine, ins Kohlegebiet des Donezbeckens.

Dieses Mal haben die Männer bei der Zugfahrt mit großer Hitze zu kämpfen. Ihr Durst ist so immens, dass sie die Bajonette ihrer sowjetischen Bewacher ignorieren, als sie bei der Ankunft in Stalino Hydranten ent decken und sich gierig auf die Wasserspender stürzen. Die Gefangenen werden in einem ehemaligen Kriegsgefangenenlager untergebracht und bauen eine Siedlung für die Bergarbeiter.

Bald darauf steht eine erneute Bahnfahrt an. Ziel ist Kiew, ihre Unterkunft eine alte Textilfabrik. In einem Arbeitskommando von 50 Mann wird Joachim in ein Waldlager weitergeschickt, um ein Sanatorium zu errichten.

Die ständigen Transporte zu kurzen Arbeitseinsätzen an unterschiedlichen Orten erweck en bei den Internierten den Eindruck, man wolle sie verstecken. Verstärkt wird der Verdacht durch Zeitungsartikel, in deren Besitz sie über ihre Post aus der Heimat kommen. Dort steht geschrieben, es gäbe in der UdSSR längst keine Kriegsgefangenen mehr. Ihren wachsenden Unmut teilen die Gefangenen immer wieder durch kurze Streiks mit.

Doch auf ein Ende ihrer Gefangenschaft wagt kaum noch jemand zu hoffen, als im April 1952 endlich die Heimreise stattfindet. Der Zwischenstopp auf dem Bahnhof Brest verläuft dieses Mal ohne böse Überraschungen, sie dürfen noch am gleichen Abend in Waggons der Deutschen Reichs bahn umsteigen. Am nächsten Morgen erreicht der Transport den Bahnhof Frankfurt/Oder, auf dem die Männer erstmals in einen Personenzug umsteigen, der sie nach Bischofswerda in ein Quarantänelager bringt.

»Nach 82 Monaten war damit die kurze Vernehmung beendet. Die Jugend war fort.«

Allen Internierten wird bei der Entlassung Schweigepflicht verordnet. Am Pfingstsonnabend, dem 1. Juni 1952, stattet man die Heimkehrer mit einem Zivilanzug und 50 Mark Fahrtgeld aus, damit sie die letzten Kilometer in ihre Heimatorte antreten.

Mit einer viel zu großen Hose und einem Holzkoffer voller russischer Zigaretten betritt Joachim den Bahnsteig. Die drei Leidensgenossen, die gemeinsam in Wurzen ankommen, schwören einander, sich jährlich zu Pfingsten in Leipzig zu treffen. Joachims Vater holt ihn vom Bahnhof ab und bringt ihn nach Hause, wo der junge Mann nach fast sieben Jahren seine Mutter und Großmutter wieder in die Arme schließen kann.

Joachim wird in Großzschepa auch von seinen alten Freunden herzlich empfangen. Schon zwei Tage nach seiner Ankunft spielt er ein Fußballturnier mit.

Ein beruflicher Neuanfang ist ohne Schulabschluss jedoch schwer. Der 23-Jährige besinnt sich auf die Fertigkeiten, die er sich in sowjetischer Gefangenschaft angeeignet hat, und setzt sich erneut auf die Schulbank, um eine Maurerlehre zu absolvieren. Es ist für ihn aber nicht einfach, nach den vielen Jahren, in denen Gehorsam eine überlebenswichtige Rolle spielte, zurück in ein selbstbestimmtes Leben zu finden. Zudem bleibt der Eindruck, unter ständiger Beobachtung des Staatssicherheitsdienstes zu stehen.

Joachim heiratet und gründet mit seiner Frau eine Familie. Mehr als 63 Jahre lang leitet er den Fußballverein seines Heimatortes. Nach der politischen Wende und der deutschen Wiedervereinigung geht er in den Vorruhestand, seit 1994 ist er Rentner. Heute ist Joachim mehrfacher Groß- und Urgroßvater.

Seine Vergangenheit lässt ihn nicht ruhen, also tritt er den Bildern, die ihn immer wieder heimsuchen, mutig entgegen und schreibt seine Biografie. Von Beginn an engagiert er sich bei der Initiativgruppe Lager Mühlberg e.V. Mit Begeisterung denkt er an den Tag zurück, an dem sich die ehemaligen Mühlberg-Insassen zum ersten Mal wieder sahen. Den jährlichen Gedenktreffen auf dem ehemaligen Lagergelände wohnt Joachim stets bei.

Auch außerhalb der Zusammenkünfte sucht er den Ort auf, der Teil seiner sieben verlorenen Jugendjahre ist, und hängt still seinen Erinnerungen nach. Oft begegnen ihm Besucher des Gedenkortes, die auf Spurensuche ihrer Angehörigen sind. Joachim hilft ihnen bei der Orientierung weiter und zeigt, was heute kaum noch vorstellbar ist – denn die Baracken wurden nach der Auflösung des Speziallagers 1948 abgerissen, das Gelände später auf geforstet.

Als Mitglied der Vereinigung der Opfer des Stalinismus wird Joachim im März 2019 mit der Goldenen Ehrennadel ausgezeichnet. Er wirkt aktiv an der Aufarbeitung mit, spricht als Zeitzeuge bei Veranstaltungen oder für mediale Berichterstattungen. Stets gedenkt er der vielen Opfer, die es nicht wieder nach Hause geschafft haben.

»Ich verneige mich vor meinen Kameraden, die in Mühlberg und in fremder Erde qualvoll verendet sind. Schlaft gut in kalter Erde. Solange ich noch lebe und gesundheitlich kann, werde ich Euch zu jeder Gelegenheit am Kreuz in Mühlberg und anderswo ehren.«

Nach einem schweren Sturz ist Joachim Liebmann nicht in der Lage, am Mühlberger Gedenktreffen Ende August 2019 teilzunehmen. In den folgenden Wochen gelingt es ihm nicht, wieder zu genesen. Am 18. September 2019, dem Vortag des 74. Jahrestages seiner Verhaftung durch das NKWD, verstirbt Joachim im Alter von 90 Jahren.

Auf der Website www.lager-muehlberg.de steht die Biografie von Joachim Liebmann zum kostenfreien Download zur Verfügung: LINK

»Wir waren schon halbe Russen.«

Der Kraftfahrer Max Liebmann und seine Frau Martha, eine Weberin, die in der Teppichfabrik Wurzen arbeitet, werden am 15. Januar 1929 Eltern des kleinen Joachim. Der Junge mit den blonden Locken wächst als Einzelkind in seinem Geburtsort Großzschepa auf, wo er ab 1935 die Volksschule besucht. Ab dem fünften Schuljahr wechselt er an die Handelsschule nach Wurzen.

Foto: Familie Liebmann, 1938

Familie Liebmann, 1938

Joachims Vater besitzt zwar ein Parteiabzeichen der NSDAP, trägt es aber nicht. Als 1939 der Zweite Weltkrieg ausbricht, kommentiert Max Liebmann die Meldung sorgenvoll mit den Worten, das gehe mal nicht gut aus. Er hält seinen 10-jährigen Sohn aber nicht davon ab, ins Deutsche Jungvolk einzutreten, so wie es in diesem Alter üblich ist.

Mit dem Rückzug der Wehrmacht verlagern sich die Kriegshandlungen ab Winter 1942 zunehmend auf deutsches Gebiet. Der Schulbetrieb wird vielerorts eingestellt, so auch in Wurzen, wo die Handelsschule zum Lazarett umfunktioniert wird. Joachim muss zunächst auf seinen Abschluss der mittleren Reife verzichten.

Beim Deutschen Jungvolk wird er als Fähnleinführer eingesetzt. In der Endphase des Zweiten Weltkriegs ruft die NSDAP alle waffenfähigen Männer im Alter von 16 bis 60 Jahren dazu auf, die Truppen der Wehrmacht zu verstärken. Ende April 1945 wird der 16-jährige Joachim deshalb Teil des Volkssturms. Vereinnahmt von der nationalsozialistischen Jugenderziehung fiebert er seinem Einsatz als Flakhelfer entgegen.

»Damals warst du so. Du warst Feuer und Flamme, für Adolf Hitler hättest du alles gegeben.«

Foto: Joachim Liebmann, 1939

Joachim Liebmann, 1939

Die Hitlerjungen sollen in einem Wehrertüchtigungslager in Grimma ausgebildet werden, doch da die Stadt bereits von amerikanischen Truppen besetzt ist, kehren sie zurück nach Hause. Dann übernimmt die sowjetische Militäradministration das Gebiet, das Teil der sowjetischen Besatzungszone SBZ ist.

Ab Mai 1945 zieht eine erste Verhaftungswelle durch das Land, Uniformträger verschwinden aus ihren Positionen. Joachim wartet darauf, dass er bald wieder zur Schule gehen kann. Doch die Handels schule teilt ihm postalisch mit, dass man ihn aufgrund seiner Mitgliedschaft in der Hitlerjugend nicht wieder aufnehmen werde.

Vorübergehend hilft Joachim in einem Landwirtschaftsbetrieb aus. Allmählich kehrt eine gewisse Normalität in den Nachkriegsalltag ein. Die Jugend stellt Kapellen zusammen und organisiert kleine Tanzveranstaltungen. Joachim will die vielen Bombennächte vergessen und blickt positiv in die Zukunft.

Doch erneut verschwinden Menschen aus der ländlichen Region, diesmal sind es auch Frauen und Jugendliche. Am Morgen des 19. September 1945 holt ein Ortspolizist Joachim zu einer kurzen Befragung ab, weil in der Nacht Hakenkreuze und Hetzparolen an eine Eisenbahnbrücke geschmiert wurden. Unerschrocken fährt der 16-Jährige mit, denn er hat mit der Sache nichts zu tun.

»Auf solche Gedanken kam ich damals nicht. War ja froh, dass Ruhe war.«

Gemeinsam mit einem anderen Jugendlichen wird Joachim ins Amt der Kreispolizei im ehemaligen Rathaus Wurzen gebracht. Drei Stunden verbringen sie hier, ohne dass etwas passiert und überbrücken die Wartezeit mit der Überlegung, welche Zugverbindung sie nach der Vernehmung wohl schnellstens wieder nach Hause bringen könnte.

Als ein sowjetischer Feldwebel eintrifft und die Jungen zum Wurzener Schloss fährt, um sie dem NKWD zu übergeben, ist es mit Joachims Sorglosigkeit vorbei. Ihm werden Gürtel, Hosenträger und Schnürsenkel abgenommen, man sperrt ihn in eine Zelle.

Allein sitzt er in der fünf mal zwei Meter großen Gefängniszelle und beginnt, sich Gedanken zu machen. In einer Ecke steht ein Kübel für die Notdurft, der einmal am Tag geleert wird und furchtbar stinkt. Eine einzelne, ununterbrochen brennende Glühbirne an der Decke lässt Tag und Nacht miteinander verschwimmen; nur darf man sich tagsüber nicht hinlegen, sondern muss das Bett hochklappen.

Seine Vorgänger haben sich mit einer unheilvollen Botschaft an der Zellenwand verewigt, die ihm nie wieder aus dem Sinn gehen wird: »Wurzen, Wurzen, ohne Zweifel, dich schuf nicht Gott, dich schuf der Teufel.«

Durch die Ofenrohre, die untereinander verbunden sind, ist es Joachim möglich, mit den Gefangenen der Nachbarzellen Kontakt aufzunehmen. Tagsüber springt er zum Fenster hoch, hält sich an den Gitterstäben fest und schaut auf den Innenhof des Wurzener Schlosses.

Foto: Schlosshof Wurzen – oberhalb der rechten Tür ein Zellenfenster

Schlosshof Wurzen – oberhalb der rechten Tür ein Zellenfenster

In den Abendstunden wird Joachim von sowjetischen Soldaten abgeholt und zu einem großen Zimmer geführt, in dem ihn ein russischer Offizier verhört. Eine Ostarbeiterin soll die Übersetzung leisten, aber Joachim fällt es schwer, ihr gebrochenes Deutsch zu ver stehen. Der Vernehmer zeigt dafür keine Nachsicht. Missfällt ihm eine Antwort, so wirft er mit einem großen, schweren Aschenbecher nach Joachim. Die Beamten des NKWD wenden psychische und physische Gewalt an, sie schlagen den Jungen bis aufs Blut. Die Angst vor der nächsten Misshandlung lässt ihn schon erzittern, sobald der Abend anbricht.

»Die Vernehmung in Wurzen war mit meine schlimmste Zeit. Die gingen ganz, ganz schlimm mit uns um. Das war schon Folter, was dort durchgeführt wurde.«

Joachim rechnet damit, dass ihm seine Position in der Hitlerjugend zum Vorwurf gemacht wird, doch zu seiner Überraschung unterstellt man ihm stattdessen eine Mitgliedschaft in der nationalsozialistischen Partisanengruppe »Werwolf«. Der 16-Jährige kennt den Begriff nur aus der Schulzeit, eine Organisation dieser Art gibt es in der Region nicht.

Der Befehl des Volkskommissars für innere Angelegenheiten der UdSSR Nr. 00315 vom 18. April 1945 benennt Kategorien von Personen, die bei der Säuberung der eingenommenen Gebiete in Arrest zu nehmen sind. Die Anordnung setzt sowohl die Einrichtung der Speziallager in der SBZ als auch die Mobilisierung arbeitsfähiger Deutscher zum Einsatz in der UdSSR in Gang. Unter Absatz 1 a) und b) fallen Angehörige von Spionagegruppen oder terroristischen Agenturen – also die Organisation »Werwolf«, deren bloße Existenz zur Legitimierung tausender Verhaftungen dient.

Eines Tages haben die quälenden Verhöre ein Ende. Joachim wird ein auf Russisch verfasstes Schriftstück vorgelegt, das er unterschreiben soll. Er weigert sich und wird erneut mit Gewalt zum Gehorsam gezwungen. Dann bekommt er warme Kleidung, die man von seinen Eltern holen ließ, denn mittler weile ist es der 14. Oktober 1945 und die Kälte des nahenden Winters hält Einzug.

14 Jungen und Männer und eine junge Frau werden unter strenger Bewachung auf den Hof getrieben, wo sie in einen Viehtransporter einer lokalen Fleischerei einsteigen und sich auf den Boden der Ladefläche setzen müssen. Zwei bewaffnete Posten hinter dem Führerhaus über wachen die Fahrt, die Richtung Oschatz geht. Trotzdem gelingt es den Jugendlichen, kleine Zettelchen durch die Schlitze des Wagens zu werfen, die Botschaften über ihre Inhaftierung enthalten und tatsächlich von aufmerksamen Bürgern aufgehoben und weitergeleitet werden.

Kurz vor Luppa hat das Auto eine Motorpanne und muss von der Wurzener Feuerwehr abgeschleppt werden, es geht zurück zum Schloss. Joachim plant einen Fluchtversuch, doch als sie auf dem Domplatz ankommen, erwarten sie dort 15 Wachposten mit aufgepflanztem Bajonett.

Die Gefangenen verbringen eine weitere Nacht in der Zelle, dann beginnt am Morgen des 15. Oktober der Transport mit einem anderen Fahrzeug von vorn. Es geht mit einer Fähre über die Elbe, bis sie ein Barackenlager hinter der Stadt Mühlberg erreichen. Das sowjetische Speziallager Nr. 1 Mühlberg, zu NS-Zeiten ein Kriegsgefangenenlager, wird vom NKWD für dessen Zwecke weitergenutzt.

Als Joachim das Lagergelände betritt, ist es mit einer Belegschaft von ca. 1.500 Internierten noch weitestgehend leer. Später werden bis zu 12.000 Mann gleichzeitig in den 40 Baracken gefangen gehalten. Joachim ist ein Schlafplatz in der Baracke 2 zugeteilt. Gleich in der ersten Nacht fallen Massen von Flöhen über ihn her.

Jeden Tag erreichen Transporte das Lager. Mal sind es kleine Grüppchen, mal einige Hundert Mann, die schon seit mehreren Wochen in anderen Gefängnissen eingesessen haben und nun auf dem Bahnhof Neuburxdorf ankommen. Weil nur ein Stacheldraht und noch kein Bretterzaun das Lagergelände abschirmt, kann Joachim die blassen Häftlinge schon aus der Ferne kommen sehen.

Obwohl es bloß ein kleines Stückchen war, dauerte das manchmal Stunden, ehe sie sich über das Feld bis ins Lager geschleppt hatten. Manche konnten gar nicht mehr laufen. Ein furchtbares Elend!

Um den Ankömmlingen eine Unterkunft zu bieten, müssen die heruntergewirtschafteten Baracken wiederaufgebaut werden. Diese Tätigkeit erfolgt durch die ersten Internierten, die im Speziallager Mühlberg eintreffen. Schnell sind die simplen Pritschen an Ort und Stelle installiert, die schlichten Bretterwände ausgebessert. Arbeit haben von nun an nur noch die von der deutschen Lagerverwaltung ausgewählten Kommandos, der Rest ist zum Nichtstun verdammt.

Ein Tag gleicht dem anderen. Weil die Gefangenen durch nichts abgelenkt werden, sind ihre quälenden Gedanken noch präsenter. Die Mangelernährung, die fehlenden Möglichkeiten der Hygiene und die sich epidemisch ausbreitenden Krankheiten führen dazu, dass täglich Dutzende Menschen sterben.

Durch Zufall erhält Joachim den Posten als Melder am Haupttor. Von morgens um sechs bis abends um zehn hat er nun die Aufgabe, einen russischen Sergeanten beim Öffnen und Schließen des Lagertors zu unterstützen. Er ruft die Mitglieder der Arbeitskommandos auf, die bei jedem Ein- und Ausgang von den sowjetischen Wachposten kontrolliert werden. Eine weiße Binde am Arm kennzeichnet Joachims Position.

Die Tätigkeit bringt ihm mehrere Vorteile ein. Arbeitende erhalten einen Nachschlag bei der täglichen Suppenration und haben es somit einfacher, dem körperlichen Verfall entgegenzuwirken. Joachim versorgt auch seine Kameraden mit den zusätzlichen Portionen.

Am Haupttor hat er nicht nur einen guten Überblick über die Geschehnisse im Lager, sondern auch davon, was vor den Toren geschieht, und kann seine eigenen Geschicke ein wenig lenken. So schafft er es heimlich zweimal, seine Mutter im Wald zu treffen. Einen Fluchtversuch wagt er nicht, denn er wiegt sich noch immer in der Hoffnung, bald entlassen zu werden, da er sich ja keines Verbrechens schuldig gemacht hat.

Im Februar 1947 untersucht eine Kommission russischer Ärzte den Gesundheitszustand der Internierten des sowjetischen Speziallagers Nr. 1. Parolen gehen durch die Reihen der Gefangenen, optimistisch ruft man sich die Überzeugung von einer baldigen Heimkehr zu. Die Männer werden in drei Gesundheitsstufen eingeteilt, bei denen die dritte Dystrophie bedeutet, während erste eine gute, arbeitsfähige Verfassung darstellt und direkt in ein Quarantänelager führt.

Joachim kommt ebenfalls ins Quarantänelager. Doch die Männer sind nicht ausgewählt, nach Hause zu fahren, sondern werden zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion geschickt.

»Ich sage, das war ein Vorteil. Ohne die Arbeit wäre ich vielleicht nicht nach Russland gekommen – aber dann wäre ich vielleicht in Mühlberg verreckt.«

Die Männer werden gebadet, entlaust und rasiert und anschließend mit Tarnkleidung der ehemaligen deutschen Wehrmacht ausgestattet: dicke Wattejacken, Handschuhe, Pelzmützen. Bei der Verabschiedung der Kameraden, die im Lager Mühlberg zurückbleiben, fließen Tränen.

Am 8. Februar 1947 besteigt Joachim gemeinsam mit rund 1.000 Mann, darunter auch Internierte aus anderen Speziallagern, einen aus 28 Viehwaggons bestehenden Zug. In jeden Waggon steckt man 40 Gefangene, die sich zwei Etagen Pritschen, einen kleinen Kanonenofen und einen Kübel für die Notdurft teilen.

33 Tage sind sie mit der Eisenbahn unterwegs, und je weiter sie fahren, desto kälter wird es. Durch die Ritzen des Waggons versuchen die Gefangenen zu erahnen, wohin sie deportiert werden. Draußen ziehen immer seltener Ortschaften und Bahnhöfe vorbei, sondern schneebedeckte, schier endlose Weiten.

In unregelmäßigen Abständen hält der Zug, dann müssen aus jedem Waggon zwei Männer mit einem Alu-Kübel zum Küchenwaggon hetzen. Manchmal ist die Zeit zu knapp, um rechtzeitig vor der Weiterfahrt in ihren Waggon zurückzukehren. Dann springen sie in den nächstbesten und die Insassen müssen stundenlang warten, ehe sie ihre Mahlzeit beim nächsten Halt bekommen. Am meisten leiden die Gefangenen während der wochenlangen Fahrt an Durst.

Außerdem geht ihnen das Brennmaterial aus. In der Not verheizen sie sogar ihre Pritschen. Die lange Fahrt auf engem Raum und ohne jede Bewegung ist strapaziös. Joachim und seine Kameraden merken, wie ihnen nach und nach die Kräfte schwinden. Am 13. März stoppt der Zug schließlich, denn sie haben ihren Zielort erreicht. Es ist die sibirische Stadt Anschero-Sudschensk im Verwaltungsbezirk Kemerowo, 7.000 Kilometer von der Heimat entfernt und von meterhohem Schnee bedeckt.

»Willkommen als Arbeitssklaven Stalins in der Steinkohlengrube, im Dreischichtsystem, 1.000 Meter unter der Erde.«

Manche schaffen vor Entkräftung kaum den Weg vom Bahnhof bis zu dem Lager aus Steinbaracken, in dem sie unterkommen. Dort werden die Männer in drei Kompanien aufgeteilt und mit Helmen und Arbeitskleidung ausgestattet. Die Batterien für ihre Handlampe müssen sie jeden Tag nach Schichtende wieder abgeben. Ihre Kleidung, die bei der Arbeit unter Tage nass wird, wird niemals gewaschen, sondern nur an Haken aufgehängt, wo der Schmutz fest eintrocknet.

Der mittlerweile 18-jährige Joachim wird dem Vortriebsabschnitt zugeteilt und muss gemeinsam mit fünf Kameraden neue Stollen in den Berg schlagen. Mit ihnen leisten auch Russen, japanische Kriegsgefangene und Wolga deutsche die harte Zwangsarbeit unter Tage.

Die Lebensumstände in Anschero-Sudschensk sind deutlich erträglicher als im Lager Mühlberg. Für ihre anstrengende körperliche Tätigkeit bekommen die Gefangenen qualitativ und quantitativ besseres Essen und ab 1948 sogar eine Entlohnung, deren Höhe sich nach der Normerfüllung richtet. Einen Teil davon müssen sie für die Unterkunft und als Reparationsleistung abführen. Was übrig bleibt, investieren sie in zusätzliches Essen.

Manchmal sind die Vorräte aber schon von den Ratten aufgefressen. Das Ungeziefer ist weiterhin ein stetiger Wegbegleiter der Internierten. Nicht selten müssen sie bei der Arbeit im Schacht Pausen einlegen, um die Flöhe und Wanzen zu knacken, die bei steigender Körperwärme in ihrer Kleidung mobil werden.

Eines Tages erkrankt Joachim an Meningitis und verliert unter starkem Fieber das Bewusstsein. Er hat es dem Lagerarzt Hugo Betac zu verdanken, dass er die Krankheit überlebt. Drei ebenfalls erkrankte Kameraden sterben an der Hirnhautentzündung.

Was den Gefangenen die Zeit in Anschero-Sudschensk erheblich erleichtert, ist die Erlaubnis, über Postkarten des Roten Kreuzes mit ihrer Familie und Freunden Kontakt aufnehmen zu können. So können sie sich Lebenszeichen senden, austauschen und Mut zusprechen.

1949 erfolgt ein sowjetischer Befehl, der es Ausländern untersagt, unter Tage zu arbeiten. Für die Gefangenen wird schnell ein neuer Einsatzort gefunden. Auf Bau stellen sind sie den strengen klimatischen Bedingungen Sibiriens schonungslos ausgesetzt und müssen mit einer Picke den hartgefrorenen Boden bearbeiten, eine Sisyphusarbeit.

Die Essensrationen werden wieder kleiner. Das Lager wird nach Prokopjewsk verlegt. Dort ist Joachim einem Arbeitskommando im Sägewerk zugeteilt, das große Baumstämme sortiert, umlagert und bearbeitet. So vergehen zwei Jahre. Jeder hofft, dass es irgendwann nach Hause geht, doch manche Kameraden drohen angesichts ihrer aussichtslosen Lage den Antrieb zu verlieren.

»Solche musstest du aufrichten. Wenn du den Willen verlorst, war das der halbe Tod.«

Doch im April 1950 bereitet man die Heimreise der Internierten vor. Wieder steigen 1.000 Mann auf einen Güterzug, nur werden diesmal die Waggons nicht verschlossen und es fährt lediglich ein kleines sowjetisches Begleitkommando mit. Frohen Mutes tauschen die Kameraden Adressen aus, öffnen während der Fahrt sogar die Türen und lassen ihre Beine in der frühlingswarmen Luft baumeln.

Der Zug macht in Moskau einen Zwischenstopp, bei dem die Männer sich in der zentralen Sauna waschen und entlausen dürfen. Dann geht es über Minsk bis ins weißrussische Brest-Litowsk. Hier endet die russische Breitspur und macht einen Zugwechsel erforderlich. Weil von deutscher Seite nicht ausreichend Waggons für alle Heimkehrer bereitstehen, kommen sie übergangsweise in einem ehemaligen Kriegsgefangenenlager unter.

Zwei Tage später werden fast 900 Gefangene weitertransportiert. Joachim ist einer der wenigen, die im Lager bleiben müssen und zum Auffüllen anderer Transporte vorgesehen sind. Mit mulmigem Gefühl warten die Männer. Am nächsten Tag ruft man sie nach alphabetischer Reihenfolge auf. Liebmann und Leppert werden als letzte Namen genannt, bevor die Waggons voll besetzt sind. Die Kameraden passieren gerade das Lagertor, da ruft man sie wieder zurück, denn die sowjetischen Wachposten haben sich verzählt.

»Das kostete mich zwei Jahre.«

Zurückgeblieben auf dem Bahnhof Brest laden Joachim und seine etwa 80 Kameraden Getreide und Fleischhälften für das Nahrungs kombinat Wurzen und Eisenbarren für das Stahlwerk Riesa von russischen in deutsche Waggons um. Heimlich schmuggeln sie Kassiber in die Waggons, um ihre Angehörigen über ihren aktuellen Aufenthaltsort zu benachrichtigen.

Weil die Bewachung nicht mehr so streng ist, gelingt es den Männern auch, sich einige Male auf den Personenbahnhof zu stehlen. Dort nehmen sie Kontakt zum deutschen Zugpersonal auf und nutzen ebenfalls die Gelegenheit, Briefe mitzugeben. Einige der Botschaften erreichen die vorgesehenen Adressaten, so auch Joachims Eltern.

Ein kleiner Teil der Gefangenen wird in ein etwa 50 Kilometer entferntes Barackenlager gefahren. Dort müssen sie vormittags einen Waggon mit Holz beladen, anschließend haben sie den Rest des Tages arbeitsfrei und können sich relativ frei bewegen. Doch dieser erbauliche Aufenthalt ist kurz, nach etwa einem Monat geht es zurück zum Bahnhof Brest.

Noch immer kündigt sich keine Heimreise an, stattdessen gehen wieder Parolen um, die den Verdacht erhärten, zurück nach Osten verschickt zu werden. Wenige Tage später bringt man die Männer nach Minsk, wo eine Kugellagerfabrik errichtet werden soll. Joachim wird für Maurerarbeiten eingesetzt, die Kenntnisse dazu muss er sich selbst aneignen.

Beim Bau des Haupteingangs des Fabrikgebäudes hat er mit seinem Kameraden Wolfgang Looß einen gefährlichen Unfall. Das Gerüst, konstruiert aus dem vor Ort frisch geschlagenen Holz, hält der Beanspruchung nicht stand und bricht in vier Stockwerken Höhe unter den Männern zusammen. Mit großem Glück überstehen beide Männer das Unglück nahezu unbeschadet.

Das Versprechen, die Zwangsarbeiter nach Beendigung der Bauarbeiten nach Hause zu schicken, wird von den Sowjets 1951 umgangen, indem sie die Inhaftierten vor Fertigstellung der Kugellagerfabrik abermals auf Reisen schicken. Es geht Richtung Süden in die Ukraine, ins Kohlegebiet des Donezbeckens.

Dieses Mal haben die Männer bei der Zugfahrt mit großer Hitze zu kämpfen. Ihr Durst ist so immens, dass sie die Bajonette ihrer sowjetischen Bewacher ignorieren, als sie bei der Ankunft in Stalino Hydranten ent decken und sich gierig auf die Wasserspender stürzen. Die Gefangenen werden in einem ehemaligen Kriegsgefangenenlager untergebracht und bauen eine Siedlung für die Bergarbeiter.

Bald darauf steht eine erneute Bahnfahrt an. Ziel ist Kiew, ihre Unterkunft eine alte Textilfabrik. In einem Arbeitskommando von 50 Mann wird Joachim in ein Waldlager weitergeschickt, um ein Sanatorium zu errichten.

Die ständigen Transporte zu kurzen Arbeitseinsätzen an unterschiedlichen Orten erweck en bei den Internierten den Eindruck, man wolle sie verstecken. Verstärkt wird der Verdacht durch Zeitungsartikel, in deren Besitz sie über ihre Post aus der Heimat kommen. Dort steht geschrieben, es gäbe in der UdSSR längst keine Kriegsgefangenen mehr. Ihren wachsenden Unmut teilen die Gefangenen immer wieder durch kurze Streiks mit.

Doch auf ein Ende ihrer Gefangenschaft wagt kaum noch jemand zu hoffen, als im April 1952 endlich die Heimreise stattfindet. Der Zwischenstopp auf dem Bahnhof Brest verläuft dieses Mal ohne böse Überraschungen, sie dürfen noch am gleichen Abend in Waggons der Deutschen Reichs bahn umsteigen. Am nächsten Morgen erreicht der Transport den Bahnhof Frankfurt/Oder, auf dem die Männer erstmals in einen Personenzug umsteigen, der sie nach Bischofswerda in ein Quarantänelager bringt.

»Nach 82 Monaten war damit die kurze Vernehmung beendet. Die Jugend war fort.«

Allen Internierten wird bei der Entlassung Schweigepflicht verordnet. Am Pfingstsonnabend, dem 1. Juni 1952, stattet man die Heimkehrer mit einem Zivilanzug und 50 Mark Fahrtgeld aus, damit sie die letzten Kilometer in ihre Heimatorte antreten.

Mit einer viel zu großen Hose und einem Holzkoffer voller russischer Zigaretten betritt Joachim den Bahnsteig. Die drei Leidensgenossen, die gemeinsam in Wurzen ankommen, schwören einander, sich jährlich zu Pfingsten in Leipzig zu treffen. Joachims Vater holt ihn vom Bahnhof ab und bringt ihn nach Hause, wo der junge Mann nach fast sieben Jahren seine Mutter und Großmutter wieder in die Arme schließen kann.

Joachim wird in Großzschepa auch von seinen alten Freunden herzlich empfangen. Schon zwei Tage nach seiner Ankunft spielt er ein Fußballturnier mit.

Ein beruflicher Neuanfang ist ohne Schulabschluss jedoch schwer. Der 23-Jährige besinnt sich auf die Fertigkeiten, die er sich in sowjetischer Gefangenschaft angeeignet hat, und setzt sich erneut auf die Schulbank, um eine Maurerlehre zu absolvieren. Es ist für ihn aber nicht einfach, nach den vielen Jahren, in denen Gehorsam eine überlebenswichtige Rolle spielte, zurück in ein selbstbestimmtes Leben zu finden. Zudem bleibt der Eindruck, unter ständiger Beobachtung des Staatssicherheitsdienstes zu stehen.

Joachim heiratet und gründet mit seiner Frau eine Familie. Mehr als 63 Jahre lang leitet er den Fußballverein seines Heimatortes. Nach der politischen Wende und der deutschen Wiedervereinigung geht er in den Vorruhestand, seit 1994 ist er Rentner. Heute ist Joachim mehrfacher Groß- und Urgroßvater.

Seine Vergangenheit lässt ihn nicht ruhen, also tritt er den Bildern, die ihn immer wieder heimsuchen, mutig entgegen und schreibt seine Biografie. Von Beginn an engagiert er sich bei der Initiativgruppe Lager Mühlberg e.V. Mit Begeisterung denkt er an den Tag zurück, an dem sich die ehemaligen Mühlberg-Insassen zum ersten Mal wieder sahen. Den jährlichen Gedenktreffen auf dem ehemaligen Lagergelände wohnt Joachim stets bei.

Auch außerhalb der Zusammenkünfte sucht er den Ort auf, der Teil seiner sieben verlorenen Jugendjahre ist, und hängt still seinen Erinnerungen nach. Oft begegnen ihm Besucher des Gedenkortes, die auf Spurensuche ihrer Angehörigen sind. Joachim hilft ihnen bei der Orientierung weiter und zeigt, was heute kaum noch vorstellbar ist – denn die Baracken wurden nach der Auflösung des Speziallagers 1948 abgerissen, das Gelände später auf geforstet.

Als Mitglied der Vereinigung der Opfer des Stalinismus wird Joachim im März 2019 mit der Goldenen Ehrennadel ausgezeichnet. Er wirkt aktiv an der Aufarbeitung mit, spricht als Zeitzeuge bei Veranstaltungen oder für mediale Berichterstattungen. Stets gedenkt er der vielen Opfer, die es nicht wieder nach Hause geschafft haben.

»Ich verneige mich vor meinen Kameraden, die in Mühlberg und in fremder Erde qualvoll verendet sind. Schlaft gut in kalter Erde. Solange ich noch lebe und gesundheitlich kann, werde ich Euch zu jeder Gelegenheit am Kreuz in Mühlberg und anderswo ehren.«

Nach einem schweren Sturz ist Joachim Liebmann nicht in der Lage, am Mühlberger Gedenktreffen Ende August 2019 teilzunehmen. In den folgenden Wochen gelingt es ihm nicht, wieder zu genesen. Am 18. September 2019, dem Vortag des 74. Jahrestages seiner Verhaftung durch das NKWD, verstirbt Joachim im Alter von 90 Jahren.

Auf der Website www.lager-muehlberg.de steht die Biografie von Joachim Liebmann zum kostenfreien Download zur Verfügung: LINK