Wilmar Leber

Wilmar Leber

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»Ich wog noch 85 Pfund.«

Wilmar Leber kommt am 12. Januar 1929 in Friesen zur Welt, einem kleinen Ort zwischen Zwickau und Plauen, der heute zur Stadt Reichen­bach im Vogt­land gehört. Dort rollen schon im Oktober 1938 deutsche Panzer durch die engen Straßen, weil die Wehr­macht zur Be­setzung des Sudete­nlandes aus­rückt. Der damals neun­jährige Wilmar versorgt die durstigen Soldaten mit Wasser. Als ein Jahr später der Zweite Welt­krieg ausbricht, nimmt der Junge wahr, wie unbe­haglich seine Eltern auf die Nachricht reagieren. Er selbst hat keine Vor­stellungs­kraft darüber, was ihn erwartet.

Doch Wilmars Eltern haben den Ersten Welt­krieg miterlebt, aus dem der Vater schwer verwundet von der Front zurück­gekehrt ist und fortan halb­seitig gelähmt bleibt. Wilmars Groß­mutter äußert auf dem Sterbe­bett ihre böse Vor­ahnung: »Das wird nichts Gutes!« Das Radio – das einzige Medium, über das Wilmar zu damaligen Zeit Neuig­keiten erfahren kann – verbreitet unter­dessen nur positive Meldungen über die sieg­reichen Feldzüge der Wehrmacht.

Erneut ziehen mili­tä­rische Truppen durch die Straßen des kleinen Ortes und Wilmar kann vom Küchen­fenster aus die voll­bela­denen Züge beob­achten, die Soldaten und Waffen in östliche Richtung transportieren. Immer mehr Männer aus Friesen werden einge­zogen, aber kaum ein Soldat kehrt von der Front zurück.

Mitte März 1945 muss Wilmar, der 1943 mit Erreichen des 14. Lebens­jahrs in die Hitler­jugend einge­gliedert worden ist, selbst in ein Wehr­ertüchtigungs­lager. Als sich einen Monat später mit dem Einzug der Amerikaner für die Vogt­länder das Ende des Krieges ankündigt, flüchtet er gemeinsam mit zwei Kameraden aus dem Lager im Stegen­wald­haus. Über Wald und Wiesen treten sie den rund 70 Kilometer weiten, aben­teuer­lichen Rückweg an.

Den drei Jugend­lichen droht aufgrund ihrer Fahnen­flucht die stand­recht­liche Erschießung, doch sie haben Glück. Der Kamerad, der eigens nach Reichen­bach gefahren worden ist, um das Fahn­dungs­schrei­ben ans Landes­schützen­bataillon zu überbringen, zerreißt den Brief und nutzt die Gelegen­heit, selbst heim­zu­kehren.

Am 1. Juli 1945 ziehen die amerika­nischen Truppen ab und Reichen­bach wird von der Roten Armee über­nommen, weil es in der Be­satzungs­zone liegt, die der Sowje­tischen Mili­tär­­adminis­tration SMAD laut Beschluss der Sieger­mächte nach der be­din­gungs­losen Kapi­tu­la­tion der Wehr­macht zugeteilt wurde.

Wilmar hat nach Abschluss der achten Klasse eine Lehre als Elektro-Installateur begonnen und arbeitet im Spät­sommer 1945 gerade an seinem Gesellen­stück. Am Nach­mittag des 21. September holen ihn zwei deutsche Polizei­beamte ab. Es heißt, man brauche lediglich die helfenden Hände von einigen Jugend­lichen, um ein Zimmer in der sowje­tischen Komman­dantur in Reichen­bach umzu­räumen. Als sie auf der Polizei­wache eintreffen, sind dort tat­säch­lich schon weitere Jugend­liche ver­sammelt. Doch anstelle eines Arbeits­einsatzes sperrt man die jungen Männer nun unter An­dro­hung von Waffe­ngewalt ein.

»In eine 3-Mann-Zelle sieben Mann.«

Bis zum 4. Oktober 1945 bleibt Wilmar einge­schlossen und wird durch Mitarbeiter des sowje­tischen Geheim­dienstes NKWD verhört. Einmal lässt man ihn den ganzen Tag lang in einer Garten­laube auf seine Ver­nehmung warten. Das Wetter hat schon zu herbst­lichem Schnee­regen umge­schlagen und Wilmar friert in der kurzen Hose und dem dünnen Hemd, die er seit dem Zeitpunkt seiner Verhaftung trägt.

Der 16-Jährige wird in den Verhören immer wieder mit dem Vor­wurf ko­nfrontiert, er gehöre dem »Werwolf« an. Die Mitglieder dieser national­sozia­listischen Parti­sanen­orga­ni­sa­tion sind dazu angehalten, Sabo­tage­akte und Attentate auf die alliierten Be­sat­zungs­­truppen zu verüben. Doch in Mittel­deutschland hat die von Heinrich Himmler ins Leben gerufene Orga­ni­sation gar keine Ver­breitung gefunden.

Am Ende ist Wilmar gezwungen, ein Protokoll zu unter­schreiben, obwohl er dessen Inhalt aufgrund der kyrillischen Schrift nicht entziffern kann. Mit einem Bus werden die Jugend­lichen ab­trans­portiert und für einen Tag im Gefängnis Plauen unter­­ge­bracht. Danach geht es für zehn Tage Arrest ins Gefängnis Zwickau. Am 15. Oktober schließlich erfolgt der Transport ins sowje­tische Speziallager Nr. 1.

Bei der Baracken­stadt nahe Mühlberg an der Elbe handelt es sich um ein ehemaliges Kriegs­gefangenen­lager der deutschen Wehr­macht, das ab September 1945 vom NKWD als Internierungslager genutzt wird. Die Gefangen­schaft im Lager Mühlberg ist durch die Iso­lierung von der Außen­welt und völlige Unge­wissheit über das eigene Schicksal charakte­ri­siert. Zudem leiden die Inter­nier­ten unter einer mangel­haften Er­näh­rungs­­situa­tion, desolaten hygie­nischen Be­din­gungen und zumeist absoluter körper­licher und geistiger Be­schäf­tigungs­losigkeit.

Wilmar wird hier erneut zum Verhör geholt, wo man ihm den Inhalt des in Reichen­bach verfassten Protokolls vorliest. Weil er abstreitet, eine solche Aussage gemacht zu haben, erfährt er Schläge – schließlich habe er ja unterschrieben.

Einer der Kom­panie­führer setzt sich sehr für das Wohl der jugend­lichen Internierten ein. Er bewahrt sie vor so manchem kräfte­zehrenden Arbeits­einsatz und verschafft ihnen zusätzliche Portionen Essen, indem er ihnen vogt­ländisches Liedgut beibringt und sie zum Singen ermutigt. Trotzdem magert Wilmar rasant ab.

»Die Zeit, die wir dort mitmachen mussten, war hart. 1946 wog ich noch 85 Pfund.«

Aus Sorge um seine Gesund­heit verschafft ihm ein Kamerad die Stelle des Kessel­putzers, denn wer in der Küche arbeitet, hat gelegent­lich die Mög­lichkeit, zusätz­liche Lebens­mittel abzu­greifen. Im Laufe des Jahres kann sich Wilmar auf ein Gewicht von 125 Pfund aufpäppeln. Dann wird eine groß­ange­legte Muste­rung der Internierten des Speziallagers Mühlberg angeordnet. Die Unter­­suchung erfolgt durch eine Begutachtung des nackten Körpers und den Griff in das Gesäß, um die dort noch vorhandene Muskel­masse zu prüfen.

Wilmar wird als arbeits­tauglich einge­stuft und ist somit einer derjenigen, die am 8. Februar 1947 auf den soge­nannten Pelz­mützen­transport kommen. Zwei Jahre und vier Monate Gefangen­schaft hat Wilmar bereits im Lager Mühlberg durch­­ge­stan­den, nun wird er mit dem Zug nach Sibirien ver­frachtet, über 4.700 Kilo­meter von der Heimat entfernt. Im GULAG-Straflager 7503/11 Anschero-Sudschensk im Ver­­waltungs­­bezirk Kemerowo ist er fortan zu härtester Zwangs­arbeit verpflichtet.

Im ersten Jahr arbeitet er im Drei­schicht­system im Stein­­kohle­­berg­­bau, sieben Tage die Woche. Allein die Anfahrt zur Arbeits­stätte ist beschwerlich, denn in Sibirien sind nur die Haupt­straßen mit Baum­stämmen befestigt, während alle anderen Wege auf­grund der Witterungs­verhältnisse aus schlammigen Schlag­löchern bestehen.

»Manches Mal blieb das Auto in den Schlag­löchern stecken und wir mussten runter und schieben. Da fragte keiner, wie du die Stiefel wieder trocken bringst.«

Auch an die extremen klima­tischen Be­din­gungen müssen sie sich erst gewöhnen. Im Winter fallen die Tempera­turen mitunter bis auf 50 Grad Minus und im Sommer herrscht dagegen eine gewaltige Hitze.

Die Essens­rationen sind mit 700 g Brot und Wasser­suppe zwar größer als im Lager Mühlberg, doch noch immer nicht aus­reichend. Deshalb freuen sich die Männer, wenn die japa­nischen Kriegs­gefan­genen ihr Brot ver­schenken, sobald sie die monat­liche Reis­liefe­rung ihres Hilfswerks erhalten.

Jeweils sech­zehn Mann nächtigen in einem Zimmer, das der ge­mauer­te Ziegel­ofen nur spärlich zu beheizen in der Lage ist, obwohl die Männer ausge­wählte Kohle­stücke aus dem Schacht mitbringen. Eine Wasch­möglichkeit besteht, wenn sie sich Wasser aus dem 200 Meter entfernten Brunnen holen und in die Behälter im Wasch­raum füllen. Im Winter ist der Weg zum Brunnen auf­grund der hohen Schnee­wehen schwer zu erreichen und die Seile frieren ein. Die Männer dürfen dann auf der Arbeits­stelle duschen, doch auch dort gibt es oft nur kaltes Wasser.

Bei der Arbeit in den Kohle­stollen verletzt sich Wilmar mit einem Beil an der linken Hand. Die Wunde ist tief und geht bis auf den Knochen. Vorübergehend ist er von den schweren Schacht­arbeiten freige­stellt und putzt in der lager­eigenen Bäckerei. Hier kommt Wilmar ge­legent­lich in den Genuss von Kuchen­rändern. Weil die Verletzung schneller heilen will, als ihm lieb ist, mani­puliert er den Ge­nesungs­prozess mehrfach und reißt die Haut ab­sicht­lich ein.

»So hast du dich durch­geschlen­kert durch die Zeit.«

Erst, als der deutsche Arzt ihn warnt, dass der Schwindel bei der nächsten Visite der russischen Ärztin auffallen und er dafür mit zur Rechen­schaft gezogen werde, gibt Wilmar auf und lässt die Wunde verheilen.

Im Mai 1948 darf Wilmar das erste und einzige Mal während seiner Ge­fangen­schaft Brief­kontakt zu den Eltern aufnehmen und erhält auch eine Antwort­karte aus Friesen. Er weiß, dass seine Familie sich Tag und Nacht mit der Sorge um ihn plagt und sieht es als Glück im Unglück an, dass ihn die Arbeit und der tägliche Kampf ums Überleben aus­reichend beschäftigen.

Die Männer werden nun für den Bau eines Garagen­komplexes eingesetzt. Eine körperlich schwere Arbeit, bei der sie Abraum in Stein­brechern zerkleinern und große Beton­blöcke gießen müssen. Anfang 1949 wird die Internierten­gruppe nach Stalinsk verlegt, wo sie an der Er­rich­tung eines Wasser­kraft­werks mitwirkt.

Auch hier verletzt sich Wilmar schwer, als ein Gerüst unter ihm zusammenbricht und ein frisch geschmiedeter Meißel im Sturz seinen rechten Unter­schenkel durchbohrt. Der Unfall ereignet sich kurz nach Schicht­beginn, doch Wilmar muss noch die ver­­blei­ben­­den acht Stunden Arbeits­zeit durch­halten, ehe er einen Sani­täter aufsuchen und seine Wunde not­dürftig versorgen lassen kann.

Etwa ein Jahr später werden die Häft­linge wieder auf Züge verteilt und nach Brest-Litowsk gefahren. In einem neuen Lager erwarten sie den lang­ersehnten Rück­transport in die Heimat. Doch als die Gruppe abfahr­bereit antritt, wählt man nur einzelne Männer aus. Sie sollen ledig­lich die anderen Transporte auffüllen, damit die ver­merkte Personen­zahl trotz der hohen Sterbe­rate auf dem langen Reise­weg stimmt. Erst beim dritten Mal ist Wilmar unter den Abgezählten, als vorletzter von 30 Mann.

 

Entlassungsausweis, Mai 1950. Obwohl ihn das Dokument so bezeichnet, war Wilmar Leber nie Kriegs­gefangener.

Am 4. Mai 1950, nach mehr als vier Jahren und acht Monaten in sowje­tischer Gefangen­schaft, wird Wilmar nach Hause entlassen. Er ist nun 21 Jahre alt. Seine Eltern haben nichts von seiner Rück­kehr geahnt und sind überrascht, als er plötzlich wieder vor ihnen steht. Wilmars Mutter, die zum Zeitpunkt seiner Ver­haftung noch kein graues Haar hatte, ist schloh­weiß geworden.

»Was die mitmachten! Die mussten sich jeden Tag, von morgens bis abends und in die Nacht, damit beschäftigen, dass ich nicht da war.«

Zurück in der Heimat kann Wilmar anfangs nur schlecht schlafen, denn zu viele Erinnerungen stören seine Träume. Doch aus Vorsicht bleibt er sehr verhalten darin, sich jemandem anzuvertrauen. Noch ein Jahr lang passt ihm sein alter Kon­fir­man­den-Anzug – ein Zeugnis dafür, wie sehr ihn die strapa­ziösen Umstände der Haft in der körper­lichen Ent­wick­lung vom Jugend­lichen zum Mann behindert haben.

Ein Mit­arbeiter des Arbeits­amtes will ihm eine Stelle im Berg­bau auf­zwingen, doch Wilmar weigert sich vehe­ment, je wieder einen Schacht zu betreten. Bei einem Elektro­meister kann er schließlich seine Lehre beenden und bleibt für weitere vier Jahre im Betrieb, dann wechselt er zum Trans­forma­toren­werk in Reichen­bach. Dort lernt er seine spätere Frau kennen, sie heiraten 1961 und bekommen zwei Jahre später einen Sohn.

Um sich und seine Familie vor den mög­lichen Konse­quenzen einer unbe­dachten Aussage zu schützen, lässt Wilmar seinen Sohn über die genauen Umstände der Gefangen­schaft zunächst im Unklaren. Erst nach der Deut­schen Wie­der­ver­eini­gung traut er sich, ihn darüber aufzuklären.

Wilmar ist Mit­begründer der 1990 ins Leben gerufenen VOS-Bezirks­gruppe Reichen­bach. Jahre­lang treffen sich die Mitglieder regelmäßig und organi­sieren Ver­anstaltungen, arbeiten ihre Vergangen­heit auf und helfen einander bei den Re­­ha­bi­­li­­tie­rungs­­ver­fahren oder Anträgen für die Opfer­rente. So oft es sein Gesund­heits­zustand zulässt, nimmt Wilmar an den jährlich im September statt­findenden Treffen im ehemaligen Speziallager Nr. 1 Mühlberg teil. Obwohl er sich angesichts seiner Erfahrungen als »harten Hund« bezeichnet, setzt ihm das Betreten des Lager­geländes oft sehr zu.

»Trotzdem braucht man sich nicht zu schämen, wenn auch mal ein paar Tränen kommen.«

Wilmar sagt heute, dass er seine Erlebnisse im Großen und Ganzen gut für sich verarbeiten konnte und stets darauf geachtet hat, dass sie sein Wesen nicht negativ beeinflussen. Eine große Unter­­stützung ist ihm dabei seine Ehefrau, mit der er seit mittler­weile 55 Jahren verheiratet ist. Mit seinen zwei Enkel­kindern wohnt nun die fünfte Generation gemeinsam mit ihm in dem Haus in Friesen, in dem er aufge­wachsen ist.

Wilmar und einer seiner Schul­kameraden, der mit in Sibirien war, sind heute die letzten zwei aus ihrer damaligen Klasse, die noch am Leben sind.

»Muss doch die sibirische Luft was Gutes gehabt haben, ne?«

»Ich wog noch 85 Pfund.«

Wilmar Leber kommt am 12. Januar 1929 in Friesen zur Welt, einem kleinen Ort zwischen Zwickau und Plauen, der heute zur Stadt Reichen­bach im Vogt­land gehört. Dort rollen schon im Oktober 1938 deutsche Panzer durch die engen Straßen, weil die Wehr­macht zur Be­setzung des Sudete­nlandes aus­rückt. Der damals neun­jährige Wilmar versorgt die durstigen Soldaten mit Wasser. Als ein Jahr später der Zweite Welt­krieg ausbricht, nimmt der Junge wahr, wie unbe­haglich seine Eltern auf die Nachricht reagieren. Er selbst hat keine Vor­stellungs­kraft darüber, was ihn erwartet.

Doch Wilmars Eltern haben den Ersten Welt­krieg miterlebt, aus dem der Vater schwer verwundet von der Front zurück­gekehrt ist und fortan halb­seitig gelähmt bleibt. Wilmars Groß­mutter äußert auf dem Sterbe­bett ihre böse Vor­ahnung: »Das wird nichts Gutes!« Das Radio – das einzige Medium, über das Wilmar zu damaligen Zeit Neuig­keiten erfahren kann – verbreitet unter­dessen nur positive Meldungen über die sieg­reichen Feldzüge der Wehrmacht.

Erneut ziehen mili­tä­rische Truppen durch die Straßen des kleinen Ortes und Wilmar kann vom Küchen­fenster aus die voll­bela­denen Züge beob­achten, die Soldaten und Waffen in östliche Richtung transportieren. Immer mehr Männer aus Friesen werden einge­zogen, aber kaum ein Soldat kehrt von der Front zurück.

Mitte März 1945 muss Wilmar, der 1943 mit Erreichen des 14. Lebens­jahrs in die Hitler­jugend einge­gliedert worden ist, selbst in ein Wehr­ertüchtigungs­lager. Als sich einen Monat später mit dem Einzug der Amerikaner für die Vogt­länder das Ende des Krieges ankündigt, flüchtet er gemeinsam mit zwei Kameraden aus dem Lager im Stegen­wald­haus. Über Wald und Wiesen treten sie den rund 70 Kilometer weiten, aben­teuer­lichen Rückweg an.

Den drei Jugend­lichen droht aufgrund ihrer Fahnen­flucht die stand­recht­liche Erschießung, doch sie haben Glück. Der Kamerad, der eigens nach Reichen­bach gefahren worden ist, um das Fahn­dungs­schrei­ben ans Landes­schützen­bataillon zu überbringen, zerreißt den Brief und nutzt die Gelegen­heit, selbst heim­zu­kehren.

Am 1. Juli 1945 ziehen die amerika­nischen Truppen ab und Reichen­bach wird von der Roten Armee über­nommen, weil es in der Be­satzungs­zone liegt, die der Sowje­tischen Mili­tär­­adminis­tration SMAD laut Beschluss der Sieger­mächte nach der be­din­gungs­losen Kapi­tu­la­tion der Wehr­macht zugeteilt wurde.

Wilmar hat nach Abschluss der achten Klasse eine Lehre als Elektro-Installateur begonnen und arbeitet im Spät­sommer 1945 gerade an seinem Gesellen­stück. Am Nach­mittag des 21. September holen ihn zwei deutsche Polizei­beamte ab. Es heißt, man brauche lediglich die helfenden Hände von einigen Jugend­lichen, um ein Zimmer in der sowje­tischen Komman­dantur in Reichen­bach umzu­räumen. Als sie auf der Polizei­wache eintreffen, sind dort tat­säch­lich schon weitere Jugend­liche ver­sammelt. Doch anstelle eines Arbeits­einsatzes sperrt man die jungen Männer nun unter An­dro­hung von Waffe­ngewalt ein.

»In eine 3-Mann-Zelle sieben Mann.«

Bis zum 4. Oktober 1945 bleibt Wilmar einge­schlossen und wird durch Mitarbeiter des sowje­tischen Geheim­dienstes NKWD verhört. Einmal lässt man ihn den ganzen Tag lang in einer Garten­laube auf seine Ver­nehmung warten. Das Wetter hat schon zu herbst­lichem Schnee­regen umge­schlagen und Wilmar friert in der kurzen Hose und dem dünnen Hemd, die er seit dem Zeitpunkt seiner Verhaftung trägt.

Der 16-Jährige wird in den Verhören immer wieder mit dem Vor­wurf ko­nfrontiert, er gehöre dem »Werwolf« an. Die Mitglieder dieser national­sozia­listischen Parti­sanen­orga­ni­sa­tion sind dazu angehalten, Sabo­tage­akte und Attentate auf die alliierten Be­sat­zungs­­truppen zu verüben. Doch in Mittel­deutschland hat die von Heinrich Himmler ins Leben gerufene Orga­ni­sation gar keine Ver­breitung gefunden.

Am Ende ist Wilmar gezwungen, ein Protokoll zu unter­schreiben, obwohl er dessen Inhalt aufgrund der kyrillischen Schrift nicht entziffern kann. Mit einem Bus werden die Jugend­lichen ab­trans­portiert und für einen Tag im Gefängnis Plauen unter­­ge­bracht. Danach geht es für zehn Tage Arrest ins Gefängnis Zwickau. Am 15. Oktober schließlich erfolgt der Transport ins sowje­tische Speziallager Nr. 1.

Bei der Baracken­stadt nahe Mühlberg an der Elbe handelt es sich um ein ehemaliges Kriegs­gefangenen­lager der deutschen Wehr­macht, das ab September 1945 vom NKWD als Internierungslager genutzt wird. Die Gefangen­schaft im Lager Mühlberg ist durch die Iso­lierung von der Außen­welt und völlige Unge­wissheit über das eigene Schicksal charakte­ri­siert. Zudem leiden die Inter­nier­ten unter einer mangel­haften Er­näh­rungs­­situa­tion, desolaten hygie­nischen Be­din­gungen und zumeist absoluter körper­licher und geistiger Be­schäf­tigungs­losigkeit.

Wilmar wird hier erneut zum Verhör geholt, wo man ihm den Inhalt des in Reichen­bach verfassten Protokolls vorliest. Weil er abstreitet, eine solche Aussage gemacht zu haben, erfährt er Schläge – schließlich habe er ja unterschrieben.

Einer der Kom­panie­führer setzt sich sehr für das Wohl der jugend­lichen Internierten ein. Er bewahrt sie vor so manchem kräfte­zehrenden Arbeits­einsatz und verschafft ihnen zusätzliche Portionen Essen, indem er ihnen vogt­ländisches Liedgut beibringt und sie zum Singen ermutigt. Trotzdem magert Wilmar rasant ab.

»Die Zeit, die wir dort mitmachen mussten, war hart. 1946 wog ich noch 85 Pfund.«

Aus Sorge um seine Gesund­heit verschafft ihm ein Kamerad die Stelle des Kessel­putzers, denn wer in der Küche arbeitet, hat gelegent­lich die Mög­lichkeit, zusätz­liche Lebens­mittel abzu­greifen. Im Laufe des Jahres kann sich Wilmar auf ein Gewicht von 125 Pfund aufpäppeln. Dann wird eine groß­ange­legte Muste­rung der Internierten des Speziallagers Mühlberg angeordnet. Die Unter­­suchung erfolgt durch eine Begutachtung des nackten Körpers und den Griff in das Gesäß, um die dort noch vorhandene Muskel­masse zu prüfen.

Wilmar wird als arbeits­tauglich einge­stuft und ist somit einer derjenigen, die am 8. Februar 1947 auf den soge­nannten Pelz­mützen­transport kommen. Zwei Jahre und vier Monate Gefangen­schaft hat Wilmar bereits im Lager Mühlberg durch­­ge­stan­den, nun wird er mit dem Zug nach Sibirien ver­frachtet, über 4.700 Kilo­meter von der Heimat entfernt. Im GULAG-Straflager 7503/11 Anschero-Sudschensk im Ver­­waltungs­­bezirk Kemerowo ist er fortan zu härtester Zwangs­arbeit verpflichtet.

Im ersten Jahr arbeitet er im Drei­schicht­system im Stein­­kohle­­berg­­bau, sieben Tage die Woche. Allein die Anfahrt zur Arbeits­stätte ist beschwerlich, denn in Sibirien sind nur die Haupt­straßen mit Baum­stämmen befestigt, während alle anderen Wege auf­grund der Witterungs­verhältnisse aus schlammigen Schlag­löchern bestehen.

»Manches Mal blieb das Auto in den Schlag­löchern stecken und wir mussten runter und schieben. Da fragte keiner, wie du die Stiefel wieder trocken bringst.«

Auch an die extremen klima­tischen Be­din­gungen müssen sie sich erst gewöhnen. Im Winter fallen die Tempera­turen mitunter bis auf 50 Grad Minus und im Sommer herrscht dagegen eine gewaltige Hitze.

Die Essens­rationen sind mit 700 g Brot und Wasser­suppe zwar größer als im Lager Mühlberg, doch noch immer nicht aus­reichend. Deshalb freuen sich die Männer, wenn die japa­nischen Kriegs­gefan­genen ihr Brot ver­schenken, sobald sie die monat­liche Reis­liefe­rung ihres Hilfswerks erhalten.

Jeweils sech­zehn Mann nächtigen in einem Zimmer, das der ge­mauer­te Ziegel­ofen nur spärlich zu beheizen in der Lage ist, obwohl die Männer ausge­wählte Kohle­stücke aus dem Schacht mitbringen. Eine Wasch­möglichkeit besteht, wenn sie sich Wasser aus dem 200 Meter entfernten Brunnen holen und in die Behälter im Wasch­raum füllen. Im Winter ist der Weg zum Brunnen auf­grund der hohen Schnee­wehen schwer zu erreichen und die Seile frieren ein. Die Männer dürfen dann auf der Arbeits­stelle duschen, doch auch dort gibt es oft nur kaltes Wasser.

Bei der Arbeit in den Kohle­stollen verletzt sich Wilmar mit einem Beil an der linken Hand. Die Wunde ist tief und geht bis auf den Knochen. Vorübergehend ist er von den schweren Schacht­arbeiten freige­stellt und putzt in der lager­eigenen Bäckerei. Hier kommt Wilmar ge­legent­lich in den Genuss von Kuchen­rändern. Weil die Verletzung schneller heilen will, als ihm lieb ist, mani­puliert er den Ge­nesungs­prozess mehrfach und reißt die Haut ab­sicht­lich ein.

»So hast du dich durch­geschlen­kert durch die Zeit.«

Erst, als der deutsche Arzt ihn warnt, dass der Schwindel bei der nächsten Visite der russischen Ärztin auffallen und er dafür mit zur Rechen­schaft gezogen werde, gibt Wilmar auf und lässt die Wunde verheilen.

Im Mai 1948 darf Wilmar das erste und einzige Mal während seiner Ge­fangen­schaft Brief­kontakt zu den Eltern aufnehmen und erhält auch eine Antwort­karte aus Friesen. Er weiß, dass seine Familie sich Tag und Nacht mit der Sorge um ihn plagt und sieht es als Glück im Unglück an, dass ihn die Arbeit und der tägliche Kampf ums Überleben aus­reichend beschäftigen.

Die Männer werden nun für den Bau eines Garagen­komplexes eingesetzt. Eine körperlich schwere Arbeit, bei der sie Abraum in Stein­brechern zerkleinern und große Beton­blöcke gießen müssen. Anfang 1949 wird die Internierten­gruppe nach Stalinsk verlegt, wo sie an der Er­rich­tung eines Wasser­kraft­werks mitwirkt.

Auch hier verletzt sich Wilmar schwer, als ein Gerüst unter ihm zusammenbricht und ein frisch geschmiedeter Meißel im Sturz seinen rechten Unter­schenkel durchbohrt. Der Unfall ereignet sich kurz nach Schicht­beginn, doch Wilmar muss noch die ver­­blei­ben­­den acht Stunden Arbeits­zeit durch­halten, ehe er einen Sani­täter aufsuchen und seine Wunde not­dürftig versorgen lassen kann.

Etwa ein Jahr später werden die Häft­linge wieder auf Züge verteilt und nach Brest-Litowsk gefahren. In einem neuen Lager erwarten sie den lang­ersehnten Rück­transport in die Heimat. Doch als die Gruppe abfahr­bereit antritt, wählt man nur einzelne Männer aus. Sie sollen ledig­lich die anderen Transporte auffüllen, damit die ver­merkte Personen­zahl trotz der hohen Sterbe­rate auf dem langen Reise­weg stimmt. Erst beim dritten Mal ist Wilmar unter den Abgezählten, als vorletzter von 30 Mann.

 

Entlassungsausweis, Mai 1950. Obwohl ihn das Dokument so bezeichnet, war Wilmar Leber nie Kriegs­gefangener.

Am 4. Mai 1950, nach mehr als vier Jahren und acht Monaten in sowje­tischer Gefangen­schaft, wird Wilmar nach Hause entlassen. Er ist nun 21 Jahre alt. Seine Eltern haben nichts von seiner Rück­kehr geahnt und sind überrascht, als er plötzlich wieder vor ihnen steht. Wilmars Mutter, die zum Zeitpunkt seiner Ver­haftung noch kein graues Haar hatte, ist schloh­weiß geworden.

»Was die mitmachten! Die mussten sich jeden Tag, von morgens bis abends und in die Nacht, damit beschäftigen, dass ich nicht da war.«

Zurück in der Heimat kann Wilmar anfangs nur schlecht schlafen, denn zu viele Erinnerungen stören seine Träume. Doch aus Vorsicht bleibt er sehr verhalten darin, sich jemandem anzuvertrauen. Noch ein Jahr lang passt ihm sein alter Kon­fir­man­den-Anzug – ein Zeugnis dafür, wie sehr ihn die strapa­ziösen Umstände der Haft in der körper­lichen Ent­wick­lung vom Jugend­lichen zum Mann behindert haben.

Ein Mit­arbeiter des Arbeits­amtes will ihm eine Stelle im Berg­bau auf­zwingen, doch Wilmar weigert sich vehe­ment, je wieder einen Schacht zu betreten. Bei einem Elektro­meister kann er schließlich seine Lehre beenden und bleibt für weitere vier Jahre im Betrieb, dann wechselt er zum Trans­forma­toren­werk in Reichen­bach. Dort lernt er seine spätere Frau kennen, sie heiraten 1961 und bekommen zwei Jahre später einen Sohn.

Um sich und seine Familie vor den mög­lichen Konse­quenzen einer unbe­dachten Aussage zu schützen, lässt Wilmar seinen Sohn über die genauen Umstände der Gefangen­schaft zunächst im Unklaren. Erst nach der Deut­schen Wie­der­ver­eini­gung traut er sich, ihn darüber aufzuklären.

Wilmar ist Mit­begründer der 1990 ins Leben gerufenen VOS-Bezirks­gruppe Reichen­bach. Jahre­lang treffen sich die Mitglieder regelmäßig und organi­sieren Ver­anstaltungen, arbeiten ihre Vergangen­heit auf und helfen einander bei den Re­­ha­bi­­li­­tie­rungs­­ver­fahren oder Anträgen für die Opfer­rente. So oft es sein Gesund­heits­zustand zulässt, nimmt Wilmar an den jährlich im September statt­findenden Treffen im ehemaligen Speziallager Nr. 1 Mühlberg teil. Obwohl er sich angesichts seiner Erfahrungen als »harten Hund« bezeichnet, setzt ihm das Betreten des Lager­geländes oft sehr zu.

»Trotzdem braucht man sich nicht zu schämen, wenn auch mal ein paar Tränen kommen.«

Wilmar sagt heute, dass er seine Erlebnisse im Großen und Ganzen gut für sich verarbeiten konnte und stets darauf geachtet hat, dass sie sein Wesen nicht negativ beeinflussen. Eine große Unter­­stützung ist ihm dabei seine Ehefrau, mit der er seit mittler­weile 55 Jahren verheiratet ist. Mit seinen zwei Enkel­kindern wohnt nun die fünfte Generation gemeinsam mit ihm in dem Haus in Friesen, in dem er aufge­wachsen ist.

Wilmar und einer seiner Schul­kameraden, der mit in Sibirien war, sind heute die letzten zwei aus ihrer damaligen Klasse, die noch am Leben sind.

»Muss doch die sibirische Luft was Gutes gehabt haben, ne?«