Andreas Laake

Andreas Laake

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»Ich brauchte fast 20 Jahre, um erst einmal ein Puzzle zu finden.«

Am 1. Oktober 1960 kommt Andreas in Leipzig zur Welt und wächst zu einem selbstbewussten jungen Mann heran, der sich im sozia­listischen Staat fremd fühlt. Die Mitgliedschaft in der Pionier­organisation und der Freien Deutschen Jugend (FDJ) verweigert er. Andreas trägt Hut, Nietenjacke und Jeans, die ihm seine Tante aus dem Westen schickt.

Im Gegensatz zu seinen drei Geschwistern drängt es ihn, zu reisen und die Verwandtschaft in der Bundesrepublik zu besuchen. Dass eine Grenze beide deutsche Staaten voneinander trennt, sträubt er sich, zu akzeptieren.

1976 beginnt Andreas eine Ausbildung als Gießereifacharbeiter. Mit Ilona, einem Mädchen aus dem Nachbarhaus, geht er eine Beziehung ein. Der rebellische Andreas ist Ilonas staatstreuem Vater ein Dorn im Auge, nur vor der Öffentlichkeit verborgen dürfen sich die beiden treffen. Trotzdem heiraten sie im Alter von 19 Jahren.

Andreas Laake als 23-Jähriger.

Als sich fünf Jahre später bei dem jungen Ehepaar Nachwuchs ankündigt, ist dies für sie der Anlass, in die Bundesrepublik zu fliehen, wo sie ihrem Kind ein besseres Leben ermöglichen wollen. Der ausgefeilte Fluchtplan soll in die Tat umgesetzt werden, bevor die Schwangerschaft zu weit fortgeschritten ist.

Aufgrund seiner Berufsausbildung ist Andreas Mitglied der Gesellschaft für Sport und Technik (GST) geworden. Er weiß, dass er in der DDR kein Boot erwerben kann, ohne daraufhin vom Ministerium für Staatssicherheit MfS überprüft zu werden. Also schafft Andreas über mehrere Monate hinweg heimlich die Einzelteile eines Schlauchboots der GST beiseite.

Aus der Bundesrepublik lässt er sich von seiner Tante Landkarten mitbringen, mit denen er die Hoheitsgewässer der Ostsee unver­fälscht studieren kann.

Im April 1984 tritt das Ehepaar Laake zum Schein einen Urlaub in Graal-Müritz an. Um kein verdächtiges Gepäck mit sich zu führen, versenden sie das Schlauchboot in Einzelteile zerlegt in mehreren Paketen an die umliegenden Bahnhöfe und vergraben nach der Abholung das Material entlang der Düne.

Nun warten sie auf Sturm, denn nur sehr raue See garantiert, dass sie den Patrouillen nicht sofort auffallen. Die Überwachung des Strandes durch die Grenz­­beamten haben sie genau beobachtet und wissen, welches Zeitfenster ihnen bleibt, um aufs offene Meer zu kommen.

Ihr Ziel ist es, aus dem Hoheitsgewässer der DDR hinaus zu gelangen, um dann durch Patrouillenboote der Bundesrepublik, Dänemarks oder Schwedens aufgegriffen zu werden.

In der Nacht vom 10. zum 11. April 1984 ist die Ostsee sehr unruhig. Das Ehepaar Laake gräbt die Einzelteile des Schlauchbootes aus, baut es zusammen und zieht es ins Wasser. Die Spuren, die sie im geharkten Sand des Strandes hinterlassen, versuchen sie, so gut es ihnen möglich ist, zu verwischen.

Sie brauchen lange, um aus dem Sog herauszukommen, der sie immer wieder ans Festland treibt. In der nächtlichen Dunkelheit sind sie kaum in der Lage zu erkennen, wie weit sie bereits hinausgepaddelt sind.

»Man funktionierte nur noch. Paddeln, paddeln! Vorwärts, vorwärts. Es war wie ein Überlebenskampf.«

Etwa vier bis fünf Stunden nach dem Aufbruch ist das Ehepaar Laake am Ende seiner Kräfte. Die Kälte setzt ihnen zu, sie sind durchnässt und haben Angst, in die falsche Richtung abgetrieben zu sein.

Plötzlich sehen sie in der Ferne ein großes Schiff auf sich zukommen. Der Frachter verringert seine Geschwindigkeit und stoppt schließlich. Alle Positionslichter werden gelöscht, bis auf das vordere, das in ihre Richtung leuchtet. Andreas und Ilona sind sich sicher, nun von dem fremden Schiff gerettet zu werden. Sie sehen, wie etwas ins Wasser gelassen wird.

Da taucht unvermittelt ein Schnellboot auf und schiebt sich zwischen Schiff und Schlauchboot. Von der anderen Seite nähert sich ein zweites Gefährt, es sind Wasserfahrzeuge der DDR. Sie schießen auf das Schlauchboot und das Ehepaar Laake kentert auf offener See.

Niemand holt sie an Bord, sie müssen selbst in Richtung des rettenden Bugs schwimmen. Andreas merkt, wie seine Frau die Kräfte immer mehr verlassen und zieht sie mit letzter Kraft zum Boot hin. Erst als beide an Bord sind, greifen die DDR-Beamten ein und sperren die Gekenterten unter Deck.

Andreas und Ilona werden zurück an den Strand gefahren und getrennt auf zwei W50-Lkw verfrachtet. Von diesem Moment an sieht Andreas seine Frau nicht wieder.

Er wird zu einem Militärstützpunkt nach Dierhagen gebracht, nordöstlich von Graal-Müritz gelegen. Bewacht von fünf Grenz­beamten setzt man ihn in einen großen Schulungssaal, der kurz darauf von zwei Mitarbeitern des MfS betreten wird. Andreas steht auf, um die Männer zu begrüßen und wird sofort von dem Größeren der beiden niedergeschlagen.

»Der beugte sich über mich – vergesse ich nie mehr, die Sätze: ›Du alte, dreckige Sachsensau! Damit du unsere Umgangssprache kennenlernst.‹«

Entsetzt von dieser ersten Konfrontation beschließt Andreas zu schweigen. Die Vernehmer spielen »Guter Polizist, böser Polizist«: Unentwegt droht ihm der eine mit Prügel, während ihm der andere gut zuredet und von den Vorteilen einer Zusammenarbeit über­zeugen will.

Andreas muss eine Leibesvisitation über sich ergehen lassen. Dann wird er nach Rostock gefahren, wo man ihn in Einzelarrest steckt und intensiven Verhören unterzieht. Er schweigt weiterhin vehement, nennt den Beamten noch nicht einmal seinen Namen.

Doch als sie ihn in seine Zelle zurückbringen, erhascht er durch die Milchglasscheibe der Tür zum Nebenraum einen Blick auf seine Frau. Ihr desolater Zustand beängstigt ihn. Andreas beginnt zu überlegen, wie er ihr eine Fortsetzung der Haft ersparen könnte.

Er wird in eine Leipziger Untersuchungshaftanstalt überführt. Dort schlägt ihm sein Pflichtverteidiger einen Handel vor: Sollte Andreas alle Schuld auf sich nehmen, könne seine Frau auf Bewährung freigelassen werden.

Natürlich bedeutet dies eine erheblich höhere Haftstrafe für ihn, doch er willigt ein, unter der Bedingung, Besuch von seiner Mutter erhalten zu dürfen. Er möchte nämlich aus ihrem Mund hören, ob Ilona tatsächlich entlassen ist, denn er traut den Aussagen der Beamten nicht.

Bei seiner Gerichtsverhandlung wird Andreas nach Paragraf 213 des Strafgesetzbuchs der DDR wegen ungesetzlichen Grenz­übertritts zu vier Jahren und sieben Monaten Strafvollzug ver­ur­teilt. Die Richter ordnen die Republikflucht als schweren Fall ein. Die Verbüßung der Haftstrafe soll in der Strafanstalt Brandenburg-Görden erfolgen.

Das Zuchthaus Brandenburg-Görden ist eine der meistgefürchteten Strafvollzugsanstalten der DDR. Es wird zwischen 1927 und 1935 in Brandenburg an der Havel errichtet. Die Nationalsozialisten nutzen es als Gefängnis für Kriminelle, aber auch für politische Häftlinge wie den späteren Staatsratsvorsitzenden der DDR, Erich Honecker.

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs übernimmt die sowjetische Besatzungsmacht das Gefängnis. Mit der Gründung der DDR wird das Gebäude an das Ministerium des Innern (MdI) übergeben. Insbesondere zu Langzeithaft Verurteilte und politische Häftlinge verbüßen ihre Strafen hier unter härtesten Bedingungen.

Andreas wird in einer Zelle mit 15 weiteren Insassen unter­gebracht. Er arbeitet im Drei-Schichten-System an einer Dreh­maschine im Getriebewerk Brandenburg, am Wochenende ist ganztägig Einschluss in der Zelle. Die Wochen und Monate vergehen eintönig, jegliches Zeitgefühl geht im Haftalltag verloren.

Besuche darf Andreas nur alle zwei Monate empfangen. Der Besucher muss angemeldet sein und sich am Besuchstag pünktlich morgens um sieben in der Haftanstalt einfinden, um dann zu warten, bis er am Nachmittag die Dreiviertelstunde Besuchszeit wahrnehmen darf.

Zu seiner Frau darf Andreas keinerlei Kontakt mehr haben, also versucht er, seine Mutter bei ihren Besuchen auszuhorchen. Die Besuchergespräche werden aufgezeichnet, und sobald den Wach­habenden etwas missfällt, beenden sie das Gespräch.

»Ende Oktober kam meine Mutter und sagte: Alles gut verlaufen.‹ Da wusste ich, dass Marko geboren war.«

Dann erhält Andreas unvermittelt ein Schreiben vom Jugendamt Leipzig, in dem er aufgefordert wird, einer Adoption seines Sohnes zuzustimmen.

Er weigert sich und bittet darum, seiner Mutter oder der Schwester das Erziehungsrecht für Marko zu übertragen, solange er selbst es nicht wahrnehmen könne. Dies wird abgelehnt, stattdessen versucht man, Andreas’ Einverständnis zu erzwingen, indem man seine Haftbedingungen verschärft: Einkäufe und Besuche werden gestrichen, er muss in Einzelarrest.

In seiner Verzweiflung wendet sich Andreas schriftlich hilfe­suchend an den Leiter der Abteilung Staats- und Rechtsfragen des ZK der SED. 14 Tage später wird er zu einer Unterredung mit zwei Beamten vom Berliner MfS geholt, die ihm versichern, ohne seine Zustimmung könne ihm niemand das Kind wegnehmen. Andreas schöpft Hoffnung.

Doch im April 1986 erhält er die von seiner Frau eingereichten Scheidungspapiere. Was er noch nicht weiß, ist, dass Ilona schon einen Monat vorher die Einwilligungserklärung unterschrieben hat, mit der sie Marko zur Adoption freigibt.

Nach DDR-Gesetzgebung ist die Adoptionsfreigabe ab dem Zeitpunkt der Unterschrift rechtskräftig und kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Einen Monat später werden die Eheleute Laake geschieden. Auf Antrag des Jugendamtes überträgt das Gericht das alleinige Sorge- und Erziehungsrecht an Ilona.

»Das muss man sich mal überlegen! Obwohl sie gar kein Kind mehr hatte, kriegte sie das alleinige Sorgerecht. Das ist kurios.«

Der Junge befindet sich bereits in einem Kinderheim, eine Rechnung über die Unterbringungskosten wird Andreas in die Strafanstalt Brandenburg-Görden zugestellt. Noch im selben Jahr erhält Andreas eine Vorladung zur Vaterschafts-Aberkennung.

Er wird nach Leipzig gefahren und mit fünf Polizisten, zwei Knebeln, Ketten und zwei Hunden ins Zivilgericht geführt. Bei diesem Anblick brechen die Richter die Verhandlung sofort ab und geben dem Antrag des Jugendamtes statt. Andreas hat keine Möglichkeit, sich zu äußern.

Das Kind, das er noch nie zu Gesicht bekommen hat, wird Andreas am 2. September 1986 entzogen, ohne dass er etwas dagegen unternehmen kann. Er muss noch weitere zwei Jahre und drei Monate im Strafvollzug verbringen.

»Ich war verzweifelt und die Welt brach zusammen. Aber ich sagte mir, wenn du hier rauskommst, suchst du den. Ich war überzeugt, ich finde ihn.«

Als Andreas im Dezember 1988 entlassen wird, wartet seine Mutter vor den Toren der Haftanstalt und überreicht ihm ein Foto, das sie schon seit Jahren für ihn aufbewahrt. Es zeigt den Säugling Marko.

Andreas’ Mutter hatte das Baby im Krankenhaus besuchen dürfen, wo es als Frühchen zur Welt gekommen war und so lange versorgt wurde, bis man es im Kinderheim aufnahm. Etwa ein Jahr später, im März 1986, ist Marko dann in die Obhut seiner zukünftigen Adoptiveltern gekommen.

Wieder in Leipzig beginnt Andreas nun eine langwierige und kräftezehrende Suche nach seinem Sohn Marko.

Er geht davon aus, dass Marko in eine Familie adoptiert worden ist, die im Großraum Leipzig wohnt. Er beginnt nun, systematisch Kindergärten und später Schulen aufzusuchen, in der Hoffnung, in einem der Kinder seinen Sohn zu erkennen. Ob am Badesee, auf dem Spielplatz oder bei Ausflügen, stets schaut er sich aufmerksam um und hofft, Marko zufällig zu entdecken.

»Bei jedem Kind erschreckte ich, es könnte mein eigenes sein.«

Auch jeden seiner Bekannten und Kollegen instruiert Andreas, auf Kinder zu achten, die ihm ähnlich sehen. Er gibt Suchanzeigen auf, wendet sich an Politiker und Anwälte, beauftragt sogar zwei Detekteien und schaltet schließlich die Presse ein: nationale und internationale Zeitungen, das Fernsehen, Internetreporter. Immer wieder helfen ihm winzige Bruchstückchen in seiner Suche weiter, wie zum Beispiel Hinweise in seiner Haftakte.

Nach der Wiedervereinigung setzt er große Hoffnungen in die Bundesrepublik Deutschland. Doch die in der DDR vollzogenen Adoptionen werden nicht für ungültig erklärt. Es gibt lediglich eine Zweijahresfrist, in der die Überprüfung von eventuellen Zwangs­adoptionen vor Gericht beantragt werden darf.

Der Richter klärt Andreas darüber auf, dass er im Falle eines Urteils zu seinen Gunsten mit sofortiger Wirkung berechtigt sei, Marko aus der Adoptionsfamilie zu holen, notfalls auch mit Unterstützung der Staatsorgane. Die Vorstellung, seinen Sohn zwangsweise aus dem ihm vertrauten Umfeld zu reißen, womöglich nicht einmal ahnend, dass er adoptiert worden ist, schreckt Andreas ab. Also entscheidet er sich gegen das Verfahren.

1991 fragt Andreas das erste Mal beim Jugendamt an und äußert den Wunsch, Kontakt zu seinem Sohn aufzunehmen. Immer wieder schreibt er Briefe an Marko, die über das Jugendamt an die Adoptiveltern weitergeleitet werden sollen.

Nach dem Adoptionsrecht der DDR sind die Adoptiveltern nicht verpflichtet, das adoptierte Kind über seinen Status aufzuklären, und somit obliegt ihnen auch die Entscheidung, den Brief an Marko auszuhändigen oder ihm vorzuenthalten.

Andreas gründet unterdessen eine Familie. Er lernt Antje kennen, sie bekommen drei Kinder. Erst 2004 heiratet das Paar, obwohl sie sich schon deutlich länger kennen.

Damit sich keine Hoffnungslosigkeit manifestiert, nimmt Andreas von seiner Suche nach Marko wiederholt eine Auszeit, um neue Kräfte zu sammeln. Die langwierige Suche treibt ihn manches Mal an die Grenzen seiner emotionalen Belastbarkeit und wirkt sich auch auf das Familienleben aus.

2009 überschlagen sich dann die Ereignisse. Die Doku­mentations­sendung »37 Grad« des ZDF möchte über sein Schicksal berichten. Fast ein Jahr recherchieren die Journalisten, holen juristischen Rat ein, da wird Andreas zum Jugendamt vorgeladen.

Das Fernsehteam darf nicht filmen, als die Mitarbeiterin des Jugendamtes ihm einen Briefumschlag überreicht. Er muss unterschreiben, unter keinen Umständen zu veröffentlichen, was sich darin befindet. Es sind vier Kinderbilder seines Sohnes.

»Ich kam nach Hause, scannte die Bilder ein und machte sie öffentlich. Ich dachte: Verklagt doch mal einen suchenden Vater, da steht die Presse Schlange.«

Andreas publiziert die Fotos auf sämtlichen ihm bekannten Netzwerken mit der Frage, wer diese Person kennt. Marko wird nun von seinen Adoptiveltern darüber informiert, dass sie nicht seine leiblichen Eltern sind. Über die Umstände seiner Adoption klären sie ihn jedoch nicht auf.

Nach der Ausstrahlung der ZDF-Reportage im September 2009 wird Familie Laake auf offener Straße attackiert. In einer ruhigen Seitenstraße rast ein BMW mit Vollgas auf Andreas zu, während er gerade den Kinderwagen mit seinem jüngsten Sohn über die Straße schiebt. Es gelingt ihm, den Kinderwagen außer Reichweite zu schubsen, er selbst wird von dem Pkw am Rücken getroffen.

Der Fahrer steigt aus und bricht Andreas mit einem Tritt in die Brust zwei Rippen. Dann will er auf den kleinen Sohn losgehen und greift schließlich sogar Antje und die Tochter an, die schützend eingreifen wollen. Mit der Drohung, sie totzuschlagen, sollten sie ihre Suche nicht einstellen, kann der Fahrer fliehen. Ein halbes Jahr später wird er gestellt und wegen gefährlicher Körperverletzung zu 2 Jahren und 8 Monaten Haft verurteilt.

Familie Laake wendet sich an den Weißen Ring, einen Verein zur Unterstützung von Kriminalitätsopfern und zur Verhütung von Straftaten. Im Rahmen eines Schutzprogramms zieht die Familie innerhalb weniger Stunden um.

Auch Journalisten vom Fokus, von RTL und dem Japanischen Fernsehen erhalten Drohanrufe und E-Mails, mancher Bericht fällt dadurch erheblich kleiner aus als ursprünglich geplant.

Über das Jugendamt wird Andreas immer wieder mitgeteilt, Marko wünsche keinen Kontakt und er solle die Suche deshalb einstellen. Doch Andreas lässt sich nicht beirren. Er will nur aufgeben, wenn Marko persönlich es von ihm verlangen sollte. So vergehen weitere Jahre der Suche.

Mit einem französischen Kamerateam, das einen Bericht über ihn dreht, stattet er dem Leipziger Kinderheim 2011 einen Besuch ab. Die Stelle der Heimleiterin ist noch von derselben Mitarbeiterin besetzt wie zu der Zeit, als Marko in dem Heim untergekommen war. In der Vergangenheit hatte sie Andreas mitgeteilt, keine Informationen über Marko zu haben. Nach nunmehr 27 Jahren erfährt er von ihr das genaue Geburtsdatum seines Sohnes.

»Sie schrieb mir einen kleinen gelben Zettel, den hab ich heute noch. Das war ein riesengroßer Fortschritt für mich.«

Das Geburtsdatum ist vor allem ein zwingender Beweis für Markos Existenz, die in der Vergangenheit schon von etlichen Behörden angezweifelt worden ist, da weder die Ämter, noch Andreas selbst im Besitz von entsprechenden Unterlagen gewesen sind.

Mit Markos Geburtsdatum kann er zudem nun präzise Such­anzeigen schalten. Bisher hat er diese stets nur mit einem Zeitraum versehen: irgendwann im Oktober 1984.

2013 wendet sich Andreas an die Sat.1-Sendung »Bitte melde dich«. Der Bericht über die Suche nach seinem Kind wird am 6. Oktober 2013 im Fernsehen ausgestrahlt.

Am darauffolgenden Abend klingelt bei Familie Laake das Telefon. Der Anrufer ist Marko.

»Das waren nach 29 Jahren die ersten Worte.«

Für das anschließende Wochenende verabreden sich Vater und Sohn zu einem ersten Treffen nach fast 30 Jahren. Marko kommt dafür nach Leipzig, denn tatsächlich hatte ihn die Adoption nicht in das Umland, sondern nach Brandenburg verschlagen. Als Treff­punkt dient der Hauptbahnhof. Andreas erkennt Marko sofort, als er aus dem Auto steigt.

Andreas Laake und Marko am Tag ihres ersten Treffens in Leipzig im Oktober 2013.

Die Freude und Erleichterung ist riesengroß und Marko wird herzlich in die Familie Laake aufgenommen. Er lernt seine Halbgeschwister kennen und entwickelt ein gutes Verhältnis zu ihnen, oft ist er seitdem zu Besuch.

Andreas beantragt nun seine politische Rehabilitation, seit April 2014 bezieht er eine Opferentschädigung. Eigentlich will er seine Aktivitäten beenden, denn er hat seine Suche nach Marko erfolgreich beendet und möchte sich nur noch auf seine Familie konzentrieren. Doch während seiner jahrelangen Suche haben ihn etliche Menschen unterstützt und begleitet.

»Da dachte ich mir: Du kannst gar nicht aufhören. Du musst jetzt zurückgehen und für andere da sein, um sie zu beraten.«

Andreas organisiert eine Art »Opferstammtisch«, um die Menschen, die sich bisher mit ihm nur über das Internet austauschen, auch in der Realität zusammenzubringen. Es entsteht die Idee, Kund­gebungen zum Thema Zwangs­adoption abzuhalten.

Im Februar 2014 wird er Mitglied in dem Verein »Hilfe für Opfer von DDR-Zwangsadoptionen e. V.« (OvZ-DDR e. V.), der 2008 von Kathrin Behr gegründet worden ist, die selbst ein Opfer von Zwangsadoption und eine langjährige Bekannte von Andreas ist. Im Oktober 2014 wird sie mit dem Publikums- und Medienpreis »Goldene Henne« ausgezeichnet. Im Rahmen der Preisverleihung zeigt man einen Filmbeitrag über das Schicksal von Andreas und seine Suche nach Marko.

Andreas ist heute viel unterwegs. Er engagiert sich weiterhin dafür, Betroffene zusammenzubringen, um sie zu stärken. Andreas organisiert Veranstaltungen und besucht im Rahmen von Zeitzeugen­gesprächen Schulen und Universitäten, um auf das Thema aufmerksam zu machen; auch ist er Protagonist zahlreicher Interviews und Berichte.

Seine Telefonnummer wechselt er aus Sicherheitsgründen immer noch jährlich.

Link: www.zwangsadoption-saeuglingstod-ddr.com

»Ich brauchte fast 20 Jahre, um erst einmal ein Puzzle zu finden.«

Am 1. Oktober 1960 kommt Andreas in Leipzig zur Welt und wächst zu einem selbstbewussten jungen Mann heran, der sich im sozia­listischen Staat fremd fühlt. Die Mitgliedschaft in der Pionier­organisation und der Freien Deutschen Jugend (FDJ) verweigert er. Andreas trägt Hut, Nietenjacke und Jeans, die ihm seine Tante aus dem Westen schickt.

Im Gegensatz zu seinen drei Geschwistern drängt es ihn, zu reisen und die Verwandtschaft in der Bundesrepublik zu besuchen. Dass eine Grenze beide deutsche Staaten voneinander trennt, sträubt er sich, zu akzeptieren.

1976 beginnt Andreas eine Ausbildung als Gießereifacharbeiter. Mit Ilona, einem Mädchen aus dem Nachbarhaus, geht er eine Beziehung ein. Der rebellische Andreas ist Ilonas staatstreuem Vater ein Dorn im Auge, nur vor der Öffentlichkeit verborgen dürfen sich die beiden treffen. Trotzdem heiraten sie im Alter von 19 Jahren.

Andreas Laake als 23-Jähriger.

Als sich fünf Jahre später bei dem jungen Ehepaar Nachwuchs ankündigt, ist dies für sie der Anlass, in die Bundesrepublik zu fliehen, wo sie ihrem Kind ein besseres Leben ermöglichen wollen. Der ausgefeilte Fluchtplan soll in die Tat umgesetzt werden, bevor die Schwangerschaft zu weit fortgeschritten ist.

Aufgrund seiner Berufsausbildung ist Andreas Mitglied der Gesellschaft für Sport und Technik (GST) geworden. Er weiß, dass er in der DDR kein Boot erwerben kann, ohne daraufhin vom Ministerium für Staatssicherheit MfS überprüft zu werden. Also schafft Andreas über mehrere Monate hinweg heimlich die Einzelteile eines Schlauchboots der GST beiseite.

Aus der Bundesrepublik lässt er sich von seiner Tante Landkarten mitbringen, mit denen er die Hoheitsgewässer der Ostsee unver­fälscht studieren kann.

Im April 1984 tritt das Ehepaar Laake zum Schein einen Urlaub in Graal-Müritz an. Um kein verdächtiges Gepäck mit sich zu führen, versenden sie das Schlauchboot in Einzelteile zerlegt in mehreren Paketen an die umliegenden Bahnhöfe und vergraben nach der Abholung das Material entlang der Düne.

Nun warten sie auf Sturm, denn nur sehr raue See garantiert, dass sie den Patrouillen nicht sofort auffallen. Die Überwachung des Strandes durch die Grenz­­beamten haben sie genau beobachtet und wissen, welches Zeitfenster ihnen bleibt, um aufs offene Meer zu kommen.

Ihr Ziel ist es, aus dem Hoheitsgewässer der DDR hinaus zu gelangen, um dann durch Patrouillenboote der Bundesrepublik, Dänemarks oder Schwedens aufgegriffen zu werden.

In der Nacht vom 10. zum 11. April 1984 ist die Ostsee sehr unruhig. Das Ehepaar Laake gräbt die Einzelteile des Schlauchbootes aus, baut es zusammen und zieht es ins Wasser. Die Spuren, die sie im geharkten Sand des Strandes hinterlassen, versuchen sie, so gut es ihnen möglich ist, zu verwischen.

Sie brauchen lange, um aus dem Sog herauszukommen, der sie immer wieder ans Festland treibt. In der nächtlichen Dunkelheit sind sie kaum in der Lage zu erkennen, wie weit sie bereits hinausgepaddelt sind.

»Man funktionierte nur noch. Paddeln, paddeln! Vorwärts, vorwärts. Es war wie ein Überlebenskampf.«

Etwa vier bis fünf Stunden nach dem Aufbruch ist das Ehepaar Laake am Ende seiner Kräfte. Die Kälte setzt ihnen zu, sie sind durchnässt und haben Angst, in die falsche Richtung abgetrieben zu sein.

Plötzlich sehen sie in der Ferne ein großes Schiff auf sich zukommen. Der Frachter verringert seine Geschwindigkeit und stoppt schließlich. Alle Positionslichter werden gelöscht, bis auf das vordere, das in ihre Richtung leuchtet. Andreas und Ilona sind sich sicher, nun von dem fremden Schiff gerettet zu werden. Sie sehen, wie etwas ins Wasser gelassen wird.

Da taucht unvermittelt ein Schnellboot auf und schiebt sich zwischen Schiff und Schlauchboot. Von der anderen Seite nähert sich ein zweites Gefährt, es sind Wasserfahrzeuge der DDR. Sie schießen auf das Schlauchboot und das Ehepaar Laake kentert auf offener See.

Niemand holt sie an Bord, sie müssen selbst in Richtung des rettenden Bugs schwimmen. Andreas merkt, wie seine Frau die Kräfte immer mehr verlassen und zieht sie mit letzter Kraft zum Boot hin. Erst als beide an Bord sind, greifen die DDR-Beamten ein und sperren die Gekenterten unter Deck.

Andreas und Ilona werden zurück an den Strand gefahren und getrennt auf zwei W50-Lkw verfrachtet. Von diesem Moment an sieht Andreas seine Frau nicht wieder.

Er wird zu einem Militärstützpunkt nach Dierhagen gebracht, nordöstlich von Graal-Müritz gelegen. Bewacht von fünf Grenz­beamten setzt man ihn in einen großen Schulungssaal, der kurz darauf von zwei Mitarbeitern des MfS betreten wird. Andreas steht auf, um die Männer zu begrüßen und wird sofort von dem Größeren der beiden niedergeschlagen.

»Der beugte sich über mich – vergesse ich nie mehr, die Sätze: ›Du alte, dreckige Sachsensau! Damit du unsere Umgangssprache kennenlernst.‹«

Entsetzt von dieser ersten Konfrontation beschließt Andreas zu schweigen. Die Vernehmer spielen »Guter Polizist, böser Polizist«: Unentwegt droht ihm der eine mit Prügel, während ihm der andere gut zuredet und von den Vorteilen einer Zusammenarbeit über­zeugen will.

Andreas muss eine Leibesvisitation über sich ergehen lassen. Dann wird er nach Rostock gefahren, wo man ihn in Einzelarrest steckt und intensiven Verhören unterzieht. Er schweigt weiterhin vehement, nennt den Beamten noch nicht einmal seinen Namen.

Doch als sie ihn in seine Zelle zurückbringen, erhascht er durch die Milchglasscheibe der Tür zum Nebenraum einen Blick auf seine Frau. Ihr desolater Zustand beängstigt ihn. Andreas beginnt zu überlegen, wie er ihr eine Fortsetzung der Haft ersparen könnte.

Er wird in eine Leipziger Untersuchungshaftanstalt überführt. Dort schlägt ihm sein Pflichtverteidiger einen Handel vor: Sollte Andreas alle Schuld auf sich nehmen, könne seine Frau auf Bewährung freigelassen werden.

Natürlich bedeutet dies eine erheblich höhere Haftstrafe für ihn, doch er willigt ein, unter der Bedingung, Besuch von seiner Mutter erhalten zu dürfen. Er möchte nämlich aus ihrem Mund hören, ob Ilona tatsächlich entlassen ist, denn er traut den Aussagen der Beamten nicht.

Bei seiner Gerichtsverhandlung wird Andreas nach Paragraf 213 des Strafgesetzbuchs der DDR wegen ungesetzlichen Grenz­übertritts zu vier Jahren und sieben Monaten Strafvollzug ver­ur­teilt. Die Richter ordnen die Republikflucht als schweren Fall ein. Die Verbüßung der Haftstrafe soll in der Strafanstalt Brandenburg-Görden erfolgen.

Das Zuchthaus Brandenburg-Görden ist eine der meistgefürchteten Strafvollzugsanstalten der DDR. Es wird zwischen 1927 und 1935 in Brandenburg an der Havel errichtet. Die Nationalsozialisten nutzen es als Gefängnis für Kriminelle, aber auch für politische Häftlinge wie den späteren Staatsratsvorsitzenden der DDR, Erich Honecker.

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs übernimmt die sowjetische Besatzungsmacht das Gefängnis. Mit der Gründung der DDR wird das Gebäude an das Ministerium des Innern (MdI) übergeben. Insbesondere zu Langzeithaft Verurteilte und politische Häftlinge verbüßen ihre Strafen hier unter härtesten Bedingungen.

Andreas wird in einer Zelle mit 15 weiteren Insassen unter­gebracht. Er arbeitet im Drei-Schichten-System an einer Dreh­maschine im Getriebewerk Brandenburg, am Wochenende ist ganztägig Einschluss in der Zelle. Die Wochen und Monate vergehen eintönig, jegliches Zeitgefühl geht im Haftalltag verloren.

Besuche darf Andreas nur alle zwei Monate empfangen. Der Besucher muss angemeldet sein und sich am Besuchstag pünktlich morgens um sieben in der Haftanstalt einfinden, um dann zu warten, bis er am Nachmittag die Dreiviertelstunde Besuchszeit wahrnehmen darf.

Zu seiner Frau darf Andreas keinerlei Kontakt mehr haben, also versucht er, seine Mutter bei ihren Besuchen auszuhorchen. Die Besuchergespräche werden aufgezeichnet, und sobald den Wach­habenden etwas missfällt, beenden sie das Gespräch.

»Ende Oktober kam meine Mutter und sagte: Alles gut verlaufen.‹ Da wusste ich, dass Marko geboren war.«

Dann erhält Andreas unvermittelt ein Schreiben vom Jugendamt Leipzig, in dem er aufgefordert wird, einer Adoption seines Sohnes zuzustimmen.

Er weigert sich und bittet darum, seiner Mutter oder der Schwester das Erziehungsrecht für Marko zu übertragen, solange er selbst es nicht wahrnehmen könne. Dies wird abgelehnt, stattdessen versucht man, Andreas’ Einverständnis zu erzwingen, indem man seine Haftbedingungen verschärft: Einkäufe und Besuche werden gestrichen, er muss in Einzelarrest.

In seiner Verzweiflung wendet sich Andreas schriftlich hilfe­suchend an den Leiter der Abteilung Staats- und Rechtsfragen des ZK der SED. 14 Tage später wird er zu einer Unterredung mit zwei Beamten vom Berliner MfS geholt, die ihm versichern, ohne seine Zustimmung könne ihm niemand das Kind wegnehmen. Andreas schöpft Hoffnung.

Doch im April 1986 erhält er die von seiner Frau eingereichten Scheidungspapiere. Was er noch nicht weiß, ist, dass Ilona schon einen Monat vorher die Einwilligungserklärung unterschrieben hat, mit der sie Marko zur Adoption freigibt.

Nach DDR-Gesetzgebung ist die Adoptionsfreigabe ab dem Zeitpunkt der Unterschrift rechtskräftig und kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Einen Monat später werden die Eheleute Laake geschieden. Auf Antrag des Jugendamtes überträgt das Gericht das alleinige Sorge- und Erziehungsrecht an Ilona.

»Das muss man sich mal überlegen! Obwohl sie gar kein Kind mehr hatte, kriegte sie das alleinige Sorgerecht. Das ist kurios.«

Der Junge befindet sich bereits in einem Kinderheim, eine Rechnung über die Unterbringungskosten wird Andreas in die Strafanstalt Brandenburg-Görden zugestellt. Noch im selben Jahr erhält Andreas eine Vorladung zur Vaterschafts-Aberkennung.

Er wird nach Leipzig gefahren und mit fünf Polizisten, zwei Knebeln, Ketten und zwei Hunden ins Zivilgericht geführt. Bei diesem Anblick brechen die Richter die Verhandlung sofort ab und geben dem Antrag des Jugendamtes statt. Andreas hat keine Möglichkeit, sich zu äußern.

Das Kind, das er noch nie zu Gesicht bekommen hat, wird Andreas am 2. September 1986 entzogen, ohne dass er etwas dagegen unternehmen kann. Er muss noch weitere zwei Jahre und drei Monate im Strafvollzug verbringen.

»Ich war verzweifelt und die Welt brach zusammen. Aber ich sagte mir, wenn du hier rauskommst, suchst du den. Ich war überzeugt, ich finde ihn.«

Als Andreas im Dezember 1988 entlassen wird, wartet seine Mutter vor den Toren der Haftanstalt und überreicht ihm ein Foto, das sie schon seit Jahren für ihn aufbewahrt. Es zeigt den Säugling Marko.

Andreas’ Mutter hatte das Baby im Krankenhaus besuchen dürfen, wo es als Frühchen zur Welt gekommen war und so lange versorgt wurde, bis man es im Kinderheim aufnahm. Etwa ein Jahr später, im März 1986, ist Marko dann in die Obhut seiner zukünftigen Adoptiveltern gekommen.

Wieder in Leipzig beginnt Andreas nun eine langwierige und kräftezehrende Suche nach seinem Sohn Marko.

Er geht davon aus, dass Marko in eine Familie adoptiert worden ist, die im Großraum Leipzig wohnt. Er beginnt nun, systematisch Kindergärten und später Schulen aufzusuchen, in der Hoffnung, in einem der Kinder seinen Sohn zu erkennen. Ob am Badesee, auf dem Spielplatz oder bei Ausflügen, stets schaut er sich aufmerksam um und hofft, Marko zufällig zu entdecken.

»Bei jedem Kind erschreckte ich, es könnte mein eigenes sein.«

Auch jeden seiner Bekannten und Kollegen instruiert Andreas, auf Kinder zu achten, die ihm ähnlich sehen. Er gibt Suchanzeigen auf, wendet sich an Politiker und Anwälte, beauftragt sogar zwei Detekteien und schaltet schließlich die Presse ein: nationale und internationale Zeitungen, das Fernsehen, Internetreporter. Immer wieder helfen ihm winzige Bruchstückchen in seiner Suche weiter, wie zum Beispiel Hinweise in seiner Haftakte.

Nach der Wiedervereinigung setzt er große Hoffnungen in die Bundesrepublik Deutschland. Doch die in der DDR vollzogenen Adoptionen werden nicht für ungültig erklärt. Es gibt lediglich eine Zweijahresfrist, in der die Überprüfung von eventuellen Zwangs­adoptionen vor Gericht beantragt werden darf.

Der Richter klärt Andreas darüber auf, dass er im Falle eines Urteils zu seinen Gunsten mit sofortiger Wirkung berechtigt sei, Marko aus der Adoptionsfamilie zu holen, notfalls auch mit Unterstützung der Staatsorgane. Die Vorstellung, seinen Sohn zwangsweise aus dem ihm vertrauten Umfeld zu reißen, womöglich nicht einmal ahnend, dass er adoptiert worden ist, schreckt Andreas ab. Also entscheidet er sich gegen das Verfahren.

1991 fragt Andreas das erste Mal beim Jugendamt an und äußert den Wunsch, Kontakt zu seinem Sohn aufzunehmen. Immer wieder schreibt er Briefe an Marko, die über das Jugendamt an die Adoptiveltern weitergeleitet werden sollen.

Nach dem Adoptionsrecht der DDR sind die Adoptiveltern nicht verpflichtet, das adoptierte Kind über seinen Status aufzuklären, und somit obliegt ihnen auch die Entscheidung, den Brief an Marko auszuhändigen oder ihm vorzuenthalten.

Andreas gründet unterdessen eine Familie. Er lernt Antje kennen, sie bekommen drei Kinder. Erst 2004 heiratet das Paar, obwohl sie sich schon deutlich länger kennen.

Damit sich keine Hoffnungslosigkeit manifestiert, nimmt Andreas von seiner Suche nach Marko wiederholt eine Auszeit, um neue Kräfte zu sammeln. Die langwierige Suche treibt ihn manches Mal an die Grenzen seiner emotionalen Belastbarkeit und wirkt sich auch auf das Familienleben aus.

2009 überschlagen sich dann die Ereignisse. Die Doku­mentations­sendung »37 Grad« des ZDF möchte über sein Schicksal berichten. Fast ein Jahr recherchieren die Journalisten, holen juristischen Rat ein, da wird Andreas zum Jugendamt vorgeladen.

Das Fernsehteam darf nicht filmen, als die Mitarbeiterin des Jugendamtes ihm einen Briefumschlag überreicht. Er muss unterschreiben, unter keinen Umständen zu veröffentlichen, was sich darin befindet. Es sind vier Kinderbilder seines Sohnes.

»Ich kam nach Hause, scannte die Bilder ein und machte sie öffentlich. Ich dachte: Verklagt doch mal einen suchenden Vater, da steht die Presse Schlange.«

Andreas publiziert die Fotos auf sämtlichen ihm bekannten Netzwerken mit der Frage, wer diese Person kennt. Marko wird nun von seinen Adoptiveltern darüber informiert, dass sie nicht seine leiblichen Eltern sind. Über die Umstände seiner Adoption klären sie ihn jedoch nicht auf.

Nach der Ausstrahlung der ZDF-Reportage im September 2009 wird Familie Laake auf offener Straße attackiert. In einer ruhigen Seitenstraße rast ein BMW mit Vollgas auf Andreas zu, während er gerade den Kinderwagen mit seinem jüngsten Sohn über die Straße schiebt. Es gelingt ihm, den Kinderwagen außer Reichweite zu schubsen, er selbst wird von dem Pkw am Rücken getroffen.

Der Fahrer steigt aus und bricht Andreas mit einem Tritt in die Brust zwei Rippen. Dann will er auf den kleinen Sohn losgehen und greift schließlich sogar Antje und die Tochter an, die schützend eingreifen wollen. Mit der Drohung, sie totzuschlagen, sollten sie ihre Suche nicht einstellen, kann der Fahrer fliehen. Ein halbes Jahr später wird er gestellt und wegen gefährlicher Körperverletzung zu 2 Jahren und 8 Monaten Haft verurteilt.

Familie Laake wendet sich an den Weißen Ring, einen Verein zur Unterstützung von Kriminalitätsopfern und zur Verhütung von Straftaten. Im Rahmen eines Schutzprogramms zieht die Familie innerhalb weniger Stunden um.

Auch Journalisten vom Fokus, von RTL und dem Japanischen Fernsehen erhalten Drohanrufe und E-Mails, mancher Bericht fällt dadurch erheblich kleiner aus als ursprünglich geplant.

Über das Jugendamt wird Andreas immer wieder mitgeteilt, Marko wünsche keinen Kontakt und er solle die Suche deshalb einstellen. Doch Andreas lässt sich nicht beirren. Er will nur aufgeben, wenn Marko persönlich es von ihm verlangen sollte. So vergehen weitere Jahre der Suche.

Mit einem französischen Kamerateam, das einen Bericht über ihn dreht, stattet er dem Leipziger Kinderheim 2011 einen Besuch ab. Die Stelle der Heimleiterin ist noch von derselben Mitarbeiterin besetzt wie zu der Zeit, als Marko in dem Heim untergekommen war. In der Vergangenheit hatte sie Andreas mitgeteilt, keine Informationen über Marko zu haben. Nach nunmehr 27 Jahren erfährt er von ihr das genaue Geburtsdatum seines Sohnes.

»Sie schrieb mir einen kleinen gelben Zettel, den hab ich heute noch. Das war ein riesengroßer Fortschritt für mich.«

Das Geburtsdatum ist vor allem ein zwingender Beweis für Markos Existenz, die in der Vergangenheit schon von etlichen Behörden angezweifelt worden ist, da weder die Ämter, noch Andreas selbst im Besitz von entsprechenden Unterlagen gewesen sind.

Mit Markos Geburtsdatum kann er zudem nun präzise Such­anzeigen schalten. Bisher hat er diese stets nur mit einem Zeitraum versehen: irgendwann im Oktober 1984.

2013 wendet sich Andreas an die Sat.1-Sendung »Bitte melde dich«. Der Bericht über die Suche nach seinem Kind wird am 6. Oktober 2013 im Fernsehen ausgestrahlt.

Am darauffolgenden Abend klingelt bei Familie Laake das Telefon. Der Anrufer ist Marko.

»Das waren nach 29 Jahren die ersten Worte.«

Für das anschließende Wochenende verabreden sich Vater und Sohn zu einem ersten Treffen nach fast 30 Jahren. Marko kommt dafür nach Leipzig, denn tatsächlich hatte ihn die Adoption nicht in das Umland, sondern nach Brandenburg verschlagen. Als Treff­punkt dient der Hauptbahnhof. Andreas erkennt Marko sofort, als er aus dem Auto steigt.

Andreas Laake und Marko am Tag ihres ersten Treffens in Leipzig im Oktober 2013.

Die Freude und Erleichterung ist riesengroß und Marko wird herzlich in die Familie Laake aufgenommen. Er lernt seine Halbgeschwister kennen und entwickelt ein gutes Verhältnis zu ihnen, oft ist er seitdem zu Besuch.

Andreas beantragt nun seine politische Rehabilitation, seit April 2014 bezieht er eine Opferentschädigung. Eigentlich will er seine Aktivitäten beenden, denn er hat seine Suche nach Marko erfolgreich beendet und möchte sich nur noch auf seine Familie konzentrieren. Doch während seiner jahrelangen Suche haben ihn etliche Menschen unterstützt und begleitet.

»Da dachte ich mir: Du kannst gar nicht aufhören. Du musst jetzt zurückgehen und für andere da sein, um sie zu beraten.«

Andreas organisiert eine Art »Opferstammtisch«, um die Menschen, die sich bisher mit ihm nur über das Internet austauschen, auch in der Realität zusammenzubringen. Es entsteht die Idee, Kund­gebungen zum Thema Zwangs­adoption abzuhalten.

Im Februar 2014 wird er Mitglied in dem Verein »Hilfe für Opfer von DDR-Zwangsadoptionen e. V.« (OvZ-DDR e. V.), der 2008 von Kathrin Behr gegründet worden ist, die selbst ein Opfer von Zwangsadoption und eine langjährige Bekannte von Andreas ist. Im Oktober 2014 wird sie mit dem Publikums- und Medienpreis »Goldene Henne« ausgezeichnet. Im Rahmen der Preisverleihung zeigt man einen Filmbeitrag über das Schicksal von Andreas und seine Suche nach Marko.

Andreas ist heute viel unterwegs. Er engagiert sich weiterhin dafür, Betroffene zusammenzubringen, um sie zu stärken. Andreas organisiert Veranstaltungen und besucht im Rahmen von Zeitzeugen­gesprächen Schulen und Universitäten, um auf das Thema aufmerksam zu machen; auch ist er Protagonist zahlreicher Interviews und Berichte.

Seine Telefonnummer wechselt er aus Sicherheitsgründen immer noch jährlich.

Link: www.zwangsadoption-saeuglingstod-ddr.com