Annemarie Krause

Annemarie Krause

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»Ich war doch viel zu jung – und so was zu verurteilen, 25 Jahre!«

Annemarie Erika Weiser erblickt am 15. November 1931 in der kleinen erzgebirgischen Stadt Thum das Licht der Welt. Ihre Mutter Anna Weiser hat sich noch vor der Geburt vom Kindsvater scheiden lassen und zieht das Mädchen allein auf. Unter der liebevollen Fürsorge und mit einer engen Bindung zu ihrer Mutter und ihren Großeltern verbringt Annemarie eine gute Kindheit.

Als im September 1939 der Zweite Weltkrieg beginnt, ist Annemarie noch keine acht Jahre alt. In ihrer Umgebung werden viele Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene untergebracht und vor allem in der landwirtschaftlichen Versorgung eingesetzt. Der Erzgebirgsraum bleibt lange von den Kampfhandlungen verschont, doch am 11. September 1944 wird Annemarie Zeuge der Luftschlacht über dem Erzgebirge, bei der 53 Amerikaner und 21 Deutsche ums Leben kommen. Gemeinsam mit ihrer Großmutter steht sie vor dem Haus und kann den Luftkampf beobachten.

Ein weiteres Mal noch ist der Krieg ganz nah: Bei einem Luftangriff in der Nacht vom 14. zum 15. Februar 1945 wird die Thumer Stadtkirche St. Anna bis auf die Umfassungsmauern zerstört und ihre Innenausstattung vernichtet. Mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht ist der Zweite Weltkrieg am 8. Mai 1945 schließlich offiziell beendet.

Gemäß den Beschlüssen der Konferenz von Jalta verlassen die amerikanischen Truppen Anfang Juli 1945 die von ihnen zuvor besetzten Gebiete östlich der Elbe, während die Rote Armee einrückt. Die SMAD errichtet Militärkommandanturen und organisiert fortan alle Bereiche des politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Lebens. Das notwendige deutsche Verwaltungspersonal rekrutiert sie aus kommunistischen Kadern.

Annemarie ist mittlerweile 13 Jahre alt und erkundet gemeinsam mit ihren Freunden die Gegend. Dabei nähern sie sich auch immer wieder neugierig der sowjetischen Kommandantur, die in Thum eingerichtet wurde. Der Krieg ist vorbei und die jungen Leute sehnen sich nach Unterhaltung und Abwechslung, daher suchen sie interessiert den Kontakt zu den stationierten Soldaten, die aus ihrer Perspektive die große Welt in den kleinen Ort bringen.

Einer der sowjetischen Besatzungssoldaten fällt Annemarie besonders ins Auge. Maksim Milika ist ein stattlicher, sportlicher Sergeant, der bei der Thumer Bevölkerung durch seine fröhliche und hilfsbereite Art bekannt ist. Der gebürtige Moldawier stammt aus einer deutschsprachigen Familie und kann sich problemlos verständigen.

Annemarie verliebt sich in den sechs Jahre älteren Maksim, der ihre romantischen Gefühle erwidert. Sie hat absolut keine Vorbehalte oder Berührungsängste, was seine Position als Soldat der Roten Armee – der ostdeutschen Besatzungsmacht – angeht.

Annemarie Krause Portraits Maksim

Porträtfotos von Maksim aus dem Jahr 1946

Nach einer Weile treffen sich Maksim und Annemarie zu zweit und gehen eine Liebesbeziehung ein. Doch sie halten ihre Verbindung geheim. Annemarie verschweigt ihren Freund vor der Familie zunächst gänzlich. Damit niemand in der Öffentlichkeit des Ortes bemerkt, dass sie einen Militärangehörigen trifft, trägt Maksim bei ihren Treffen im Stadtpark oder im Wald immer Zivilkleidung.

»Es war ja verboten. Wir mussten uns immer heimlich treffen.«

In den westlichen Besatzungszonen gilt seit Frühjahr 1945 ein striktes sogenanntes Fraternisierungsverbot, das die Militärverwaltung der amerikanischen Besatzungstruppen in Deutschland im Oktober 1945 aufhebt. In der SBZ wiederum existieren zunächst keine Regelungen über den Umgang der sowjetischen Soldaten mit deutschen Frauen. Die Mitarbeiter des SMAD vermeiden normalerweise die öffentliche Verbrüderung mit dem »Feind«. Eine gezielte Abschottung der sowjetischen Truppen von der deutschen Bevölkerung erfolgt aber erst nach und nach.

Maksims Kommandeur hat Verständnis für das junge Liebespaar und stellt großzügige Urlaubs- oder Besuchserlaubnisse aus. So können sie sich in der Öffentlichkeit zusammen frei bewegen und gehen sogar tanzen. Doch 1946 wird die Kommandantur in Thum aufgelöst und Maksim ins 13 Kilometer südlich entfernte Annaberg-Buchholz versetzt, später in die über 30 Kilometer nördlich liegende Kommandantur in Flöha. Trotzdem trifft sich das Paar regelmäßig.

Nach einem Jahr wird Annemarie schwanger. Die 15-Jährige macht sich keine Gedanken und schwebt im siebten Himmel vor Glück. Als sie sich ihrer Familie offenbart, ist die jedoch zunächst bestürzt, denn man hat schlechte Erfahrungen mit sowjetischen Militärangehörigen gemacht. Annemaries Onkel war kurz nach Kriegsende vom NKWD/MWD verhaftet worden und kam im sowjetischen Speziallager Nr. 1 Mühlberg ums Leben.

Am 6. Oktober 1947 bringt Annemarie ihre Tochter Verena zur Welt. Maksim ist begeistert von dem Baby. Nun macht auch Annemaries Familie ihren Frieden mit Maksim und steht bedingungslos hinter der jungen Familie. Er darf regelmäßig zu Besuch kommen und auch im Haus übernachten.

»Meine Großmutter sagte immer: ›Ob weiß, gelb, rot oder schwarz – es sind alles Menschen. Und jeder Mensch hat einen guten Kern in sich.‹«

In der Nachbarschaft fällt die Toleranz gegenüber der außergewöhnlichen und darüber hinaus unehelichen Verbindung jedoch deutlich geringer aus. Frauen, die sich mit Besatzungssoldaten einlassen, werden von der deutschen Nachkriegsgesellschaft häufig vorurteilsbehaftet moralisch verurteilt und solche Beziehungen oft als Verrat am deutschen Kollektiv betrachtet.

Dabei sind Besatzungskinder durchaus keine Seltenheit. Wissenschaftliche Berechnungen gehen von mindestens 400.000 Besatzungskindern im Westen und im Osten aus, gezeugt innerhalb von Liebesbeziehungen oder – weitaus mehr – aufgrund von Vergewaltigungen.

Maksim hat die aufrichtige und ernste Absicht, für Annemarie und Verena zu sorgen und mit ihnen ein neues Leben in Deutschland zu beginnen und bittet deshalb um seine Entlassung aus dem Armeedienst. Aber schon am Tag der Taufe beginnen die Probleme, denn er erhält keinen Urlaub, um der Zeremonie beiwohnen zu dürfen. Auch sein Entlassungsgesuch wird monatelang hinausgezögert.

Der Umgang mit den deutsch-sowjetischen Beziehungen hat sich verändert. Seit 1947 sind den Angehörigen der Roten Armee alle privaten Kontakte mit deutschen Frauen untersagt. Wird ein solcher Umgang bekannt, so holt die Militärpolizei den betreffenden Soldaten ab, zwingt ihn, die Beziehung zu beenden und schickt ihn in ein Arbeitslager.

Maksim steht in der Kommandantur unter erhöhter Beobachtung. Dennoch stiehlt er sich oft davon, um seine Freundin und das gemeinsame Kind zu besuchen. Auch Annemarie fährt regelmäßig mit dem Zug nach Flöha. Im Haus einer deutschen Familie, bei der Annemarie als Haushaltshilfe arbeitet, dürfen sie sich treffen. So schaffen sie es, sich etwa drei- bis viermal im Monat zu sehen.

Annemarie Krause Abbildung 2

v.l.n.r. Annemarie, Maksim mit Verena, Anna Weiser, Annemaries Tante und im Vordergrund Annemaries Großmutter, 1948 / Annemarie mit der sieben Wochen alten Verena, 1947

Eines Abends im September 1948 steht Maksim unangemeldet vor Annemaries Tür. Er erklärt, dass ihn sein Vorgesetzter wenige Stunden zuvor vor der drohenden Abschiebung in die Heimat gewarnt hat und ihnen nun der offizielle Weg, gemeinsam als Familie zu leben, versperrt bleibt. Maksim ist desertiert und sieht nur die Flucht in eine westliche Besatzungszone als Ausweg.

Die 16-jährige Annemarie ist im Zwiespalt: Sie will ihre Heimat nicht verlassen, aber auch nicht ohne Maksim leben. Also vertraut sich das Paar der Familie an. Gemeinsam plant man, die Flucht mithilfe einer Cousine umzusetzen, die in der Zonengrenze bei Magdeburg lebt. Die knapp einjährige Verena soll vorübergehend bei ihrer Großmutter bleiben und beide später nachkommen. Maksim wird über Nacht bei Annemaries Tante im Nachbarort Gelenau versteckt.

Als Annemarie am Abend heimkommt, wimmelt es in der Straße von sowjetischen Soldaten und Militärfahrzeugen. An ein Weglaufen ist nicht zu denken. Weil die Soldaten den gesuchten Maksim nicht antreffen, nehmen sie an seiner Stelle Annemarie mit.

Die Soldaten bringen Annemarie nach Chemnitz, wo sie mehrere Tage im deutschen Polizeigefängnis verbringt. Deutsche und sowjetische Behörden arbeiten Hand in Hand. Immer wieder führt ein Polizeibeamter sie auf den Kaßberg in eine Villa, die von der politischen Geheimpolizei der Sowjetunion genutzt wird, dem MWD. Dort unterzieht man sie etlichen Vernehmungen, um den Aufenthaltsort des fahnenflüchtigen Maksim herauszufinden, doch Annemarie schweigt. Dann wird sie überraschend wieder entlassen.

Allerdings verfolgen Soldaten Annemarie auf Schritt und Tritt, weil sie davon ausgehen, das Liebespaar würde einander früher oder später aufsuchen, und Maksim bei dieser Gelegenheit fassen wollen. Weil dieser nicht auftaucht, marschieren am 5. Oktober 1948 sowjetische Offiziere in Annemaries Elternhaus und nehmen die 16-Jährige erneut fest. Die Dolmetscherin rät ihr, ausreichend Kleidung einzupacken.

Wieder wird Annemarie zuerst auf das Chemnitzer Polizeipräsidium gebracht. Anschließend überführt eine Polizistin sie in das sogenannte Russengefängnis: die Untersuchungshaftanstalt am östlichen Rand des bürgerlich geprägten Chemnitzer Kaßbergs.

Die Gefangenenanstalt geht auf einen im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts errichteten Justizkomplex zurück, zu dem Gebäude der Staatsanwaltschaft sowie des Land- und Amtsgerichts gehören. Von 1933 bis 1945 dient das Untersuchungs- und Strafgefängnis den Nationalsozialisten zur Inhaftierung zahlloser Menschen, darunter vor allem politische Häftlinge. Im Mai 1945 übernimmt der sowjetische Sicherheitsapparat das Kaßberg-Gefängnis und nutzt es als Untersuchungshaftstätte für NS-Verbrecher und viele junge Menschen, die hier aufgrund von Denunziationen, politischer Willkür oder aus Protest gegen das kommunistische System interniert werden.

Ein in der Nähe der Haftanstalt tagendes Sowjetisches Militärtribunal (SMT) verurteilt Inhaftierte in rechtsstaatswidrigen Schnellverfahren zu drakonischen Haftstrafen oder gar zum Tode. Die Betroffenen werden anschließend in ein sowjetisches Speziallager oder zur Vollstreckung des Todesurteils in das Moskauer Butyrka-Gefängnis verbracht. Die SMT fällen von 1945 bis 1955 Urteile über ca. 40.000 verhaftete Deutsche.

Die Haftzeit auf dem Kaßberg verlangt Annemarie viel ab. Der Tag nach ihrer Verhaftung ist Verenas erster Geburtstag. Doch Annemarie kann ihn nicht mit ihrer Tochter feiern. Sie sitzt in einer schmutzigen und von Ungeziefer befallenen Einzelzelle. Die schlechten hygienischen Bedingungen und der psychische Druck der ständigen nächtlichen Verhöre bringen die verängstigte junge Frau an ihre emotionalen Grenzen. Immer wieder lässt sie sich alles durch den Kopf gehen, was sie bisher in ihrem Leben erlebt hat.

»Der Kaßberg war mit das Schlimmste. Ich hab nur geweint, geweint«

Weil das Fenster mit Brettern verkleidet ist, kann sie ihre Umgebung kaum erkennen. Am Läuten der Glocken der benachbarten Kirche und einer Schule versucht sich, sich zumindest zeitlich zu orientieren. Immer wieder vernimmt sie Klopfzeichen, die aus anderen Zellen zu kommen scheinen. Annemarie versteht, dass sich die Häftlinge auf diese Weise miteinander austauschen, erkennt aber zunächst nicht, welches System dahintersteckt.

Angst, Verzweiflung und die Unsicherheit über ihr Schicksal lähmen sie. Hinzu kommen die körperlichen Beschwerden. Annemarie leidet unter heftigen Zahnschmerzen. Sie trägt drei Monate lang dieselbe Kleidung. Nur einmal wird ihr erlaubt, duschen zu gehen, doch für die ersehnte Körperpflege wird sie in einen finsteren Kellerraum gebracht, der ihr unheimlich ist. Dann bekommt sie ihre Monatsblutung und ist froh, Taschentücher eingepackt zu haben.

Ein Mann, der ebenfalls Häftling im Kaßberg-Gefängnis und für das Austragen des Essens in ihrem Zellentrakt verantwortlich ist, tauscht sich manchmal mit Annemarie aus. Als sich die junge Frau, die sonst mit niemandem reden kann, dem Kalfaktor schließlich anvertraut, rät er, ihr Schweigen zu brechen und in der nächsten Vernehmung einfach die Wahrheit zu sagen.

Gutgläubig und am Ende ihrer Willenskraft gesteht Annemarie den Ermittlern ihre Fluchtpläne. Mit schwerwiegenden Konsequenzen: Im November 1948 werden ihre Mutter Anna Weiser und ihre Tante Helene ebenfalls verhaftet. Annemarie hatte Verena in deren vertrauensvoller Obhut sicher gewusst, nun wird das Kind bei einer anderen Tante in Thum aufgenommen.

Am 20. Dezember 1948 werden die drei Frauen vor ein Sowjetisches Militärtribunal gestellt. Das Gericht klagt die drei Frauen des Versteckens eines Deserteurs der Roten Armee an und verurteilt sie wegen Beihilfe zur Fahnenflucht zu je 25 Jahren Strafarbeitslager.

»Sie lachten und sagten, da wäre nachher die Tochter am Ende schon verheiratet.«

Annemarie ist erschüttert. Sie kann nicht fassen, dass ihr jugendlicher Leichtsinn solch folgenschwere Konsequenzen hat. Bevor sie ihre Strafe antritt, überbringt ihr der Kalfaktor eine wichtige Botschaft. Er hat herausgefunden, dass Maksim ebenfalls in dieser Haftanstalt einsitzt. Annemarie hatte bis zu diesem Zeitpunkt keine Kenntnis darüber, ob Maksim die Flucht gelungen war. Sie erfährt, was geschehen ist:

Ein Suchtrupp durchkämmt die Wohnung ihrer Tante in Gelenau, während Maksim sich in einem Nebenraum versteckt. Als die Soldaten gehen und Maksim erfährt, dass Annemarie verhaftet worden ist, wird ihm die Situation zu gefährlich und er entschließt sich dazu, allein den Weg in die Westzone anzutreten – in der Hoffnung, Annemarie und Verena könnten später einmal nachkommen.

Die Familie in Thum, bei der sich das Paar regelmäßig treffen durfte, hilft Maksim mit Kleidung, Geld und Lebensmitteln aus. Doch im Zug nach Magdeburg wird der Fahnenflüchtige am 7. Oktober 1948, zwei Tage nach Annemaries Verhaftung, aufgegriffen. Nun wartet er ebenfalls im Kaßberg-Gefängnis auf seine Verurteilung.

Annemarie wird die Bitte auf ein letztes Wiedersehen gewährt. Man führt sie in ein Vernehmungszimmer, in dem Maksim sitzt, kahlgeschoren und tief traurig. Er spricht kein Wort, und auch Annemarie schafft es nicht, Worte des Abschieds über die Lippen zu bringen, stattdessen bricht sie in Tränen aus. Die 17-Jährige weiß nicht, das dies die letzte Begegnung mit ihrer Jugendliebe sein wird. Doch die Hilflosigkeit der Situation und die verpasste Chance auf ein letztes Gespräch prägen sich tief in ihr Gedächtnis ein.

»Da komme ich heute noch nicht drüber hinweg.«

Nach ihrer Verurteilung bleibt Annemarie noch bis zum Januar 1949 im Kaßberg-Gefängnis. In diesen letzten Tagen wird ihr eine Zellengenossin zugeteilt. Die Mitgefangene überredet sie anlässlich des ersten Weihnachtsfeiertags 1948, den Wachposten um ein Buch zu bitten. Als Annemarie das tut, bestraft der Wachhabende sie damit, das Hafthaus zu putzen.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entsteht auf dem sowjetisch besetzten Territorium ein System von Speziallagern des NKWD/MWD, oft in Nachnutzung der Anlagen ehemaliger Konzentrations- oder NS-Kriegsgefangenenlager. Bis 1950 werden hier 122.671 Deutsche gefangen gehalten, von denen – insgesamt betrachtet – etwa ein Drittel die menschenunwürdigen Bedingungen der Haft nicht überlebt.

Im Januar 1949 werden Annemarie, ihre Mutter und deren Schwester in das sowjetische Speziallager Nr. 4 Bautzen eingeliefert. Das Lager wird im Mai 1945 eingerichtet und schnell unter dem Beinamen »Gelbes Elend« bekannt: Vier bis sechs Meter hohe Mauern aus gelben Klinkersteinen fassen das 66.300 Quadratmeter große Gelände mit vier Gefängnisgebäuden und neun Holzbaracken ein und lassen seinen insgesamt 27.000 Insassen keine Möglichkeit, zu entkommen.

Die Sterberate infolge von chronischer Unterernährung, schlechter Hygiene und Infektionskrankheiten ist hoch. Insgesamt kommen im Speziallager Bautzen über 3.000 Menschen allein aufgrund der katastrophalen Haftbedingungen ums Leben. Man verscharrt sie nackt und anonym in Massengräbern auf dem sogenannten Karnickelberg, einer Anhöhe außerhalb des Lagers.

Das sowjetische Speziallager Nr. 4 ist in der ganzen Zeit seines Bestehens überfüllt. Die ehemaligen Räume der Landesstrafanstalt Bautzen waren für die Unterbringung von 1.350 Gefangenen konzipiert worden, nun sitzen hier durchschnittlich 7.000 Gefangene – Internierte und SMT-Verurteilte – auf engstem Raum ein. 90 bis 95 Prozent der Insassen sind Männer.

Der Höchststand an weiblichen Gefangenen wird im Sommer 1948 mit rund 600 Frauen erreicht. Sie sind immer strikt von den männlichen Gefangenen getrennt und dürfen das Frauengefängnis nur zum Rundgang verlassen, bei dem sie in geregelter Formation auf dem Gelände laufen. Annemarie ist in einem großen Saal mit über 100 Frauen eingesperrt. Es gibt WCs und Waschbecken.

»Aber wir hatten kein Klopapier und darum machten wir aus den Anziehsachen das Futter raus und das wuschen wir uns aus und hängten es an die Betten.«

Annemarie ist froh, dass sie so viele Sachen mitgenommen hat. Andere Gefangene besitzen nur, was sie bei der Verhaftung am Leib trugen. Die Frauen helfen sich gegenseitig aus. Annemarie reißt sich zusammen, um diese Zeit durchzuhalten, immer mit dem Ziel vor Augen, es wieder zurück zu ihrem Kind zu schaffen. Was ihr hilft, ist die Nähe zu ihrer Mutter und Tante.

Als die Frauen am 4. April 1949 vom Hofrundgang wiederkommen, werden Annemarie, ihre Mutter und ihre Tante aufgerufen und einem russischen Offizier vorgeführt. Er teilt ihnen mit, dass Annemaries Strafmaß auf 10 Jahre reduziert wurde. Ihre Mutter und Tante werden am 10. April 1949 entlassen.

»Da fiel mir ein großer Stein vom Herzen.«

Dem sowjetischen Speziallager Bautzen droht unterdessen abermals die totale Überfüllung. Daher verlegt das MWD in drei großen Transporten zwischen Juni 1948 und Mai 1949 insgesamt 3.200 SMT-Verurteilte in das Speziallager Sachsenhausen. Mit diesen Transporten verlassen alle »Kurzstrafer« und zudem fast alle weiblichen Gefangenen das Lager, Annemarie ist auf einem der letzten. Sie werden in Viehwaggons gepfercht. Ein Loch im Boden muss als Abort herhalten.

Für die dreitägige Fahrt erhalten die Frauen eine Brotzuteilung, jedoch kein Wasser. Es ist unglaublich heiß und stickig in dem Waggon. Manchmal hält der Zug an und steht für Stunden. Wird die Tür überraschenderweise geöffnet, müssen alle Gefangenen schnell auf eine Seite herüberrücken. Sind sie dabei nicht schnell genug, so müssen sie Schläge mit dem Knüppel einstecken.

Die Ungewissheit darüber, wohin sie der Transport bringen wird, erhöht die Anspannung. Die Frauen befürchten, in ein Lager nach Sibirien geschafft zu werden. Doch im brandenburgischen Oranienburg hält der Zug. Die Frauen werden auf einen Hänger verfrachtet, den ein Traktor zieht. Mit gespreizten Beinen muss immer eine hinter der nächsten aufsitzen. Auf diese Weise stapeln die Wachposten, die ohnehin mit Maschinenpistolen und furchteinflößenden Wachhunden ausgerüstet sind, ihre Gefangenen so eng, dass niemand einen Fluchtversuch zustande bringt.

Das architektonisch durchgeplante Lagergelände spielt schon im System der nationalsozialistischen Konzentrationslager eine wichtige und herausragende Rolle. Im KZ Sachsenhausen, zu dem mehr als 100 Außenlager gehören, werden über 200.000 Häftlinge aus ca. 40 Nationen inhaftiert, von denen etwa die Hälfte umkommt.

Ab August 1945 wird das Areal als sowjetisches Speziallager Nr. 7 Sachsenhausen genutzt und trägt nach der Auflösung anderer Lager und der Reorganisation des Systems ab Herbst 1948 die Bezeichnung »Speziallager des MWD Nr. 1«. Bis zur Schließung im März 1950 sterben etwa 12.000 der insgesamt 60.000 Gefangenen unter den furchtbaren Haftbedingungen.

Sachsenhausen ist das größte sowjetische Speziallager und sowohl durch die Unterschiedlichkeit der Inhaftierten als auch seine Multifunktionalität gekennzeichnet. Hinter einer Vorzone für die sowjetische Lagerverwaltung gibt es zwei große Häftlingszonen. Zone I ist der Gewahrsam für Zivilinternierte, die auf Grundlage des NKWD/MWD-Befehls Nr. 00315 verhaftet und eingeliefert werden. In Zone II werden ab September 1946 rund 16.000 SMT-Verurteilte inhaftiert. Die Häftlingsbereiche sind streng voneinander getrennt und in jeder der zwei Zonen befindet sich ein nochmals isoliertes Frauenlager.

»In Sachsenhausen war es noch schlimmer. Erst lagen wir auf den blanken Brettern. Dann hatten wir Strohsäcke, aber die Strohhalme konntest du zählen. Und Wanzen hatten wir.«

Wieder einmal ist Annemarie froh über ihren Wintermantel, mit dem sie sich in der Nacht zusätzlich wärmen kann. Der Tag im Frauenbataillon beginnt mit dem morgendlichen Appell. Danach dürfen sich die Frauen in dem abgetrennten Bereich des Speziallagers frei bewegen.

»Da waren wir wenigstens nicht eingesperrt. Aber wie gesagt, mit dem Essen wars auch katastrophal.«

Für eine Woche pro Monat ist Annemarie zum Kartoffelschälen in der Küchenbaracke eingeteilt. Ein Vorteil, denn dabei kann sie heimlich die Schalen essen. Die Essensverpflegung der Gefangenen ist einseitig und völlig unzureichend. Die Frauen nutzen jede Möglichkeit und improvisieren klug, um sich das Überleben zu sichern.

»Die Menschen starben wie die Fliegen, vor allem die Männer.«

Wie für die sowjetischen Speziallager üblich, so wird auch in Sachsenhausen die Lagerselbstverwaltung durch deutsche Gefangene ausgeübt. Die Hierarchie ist militärisch organisiert und lässt Willkür und Korruption Tür und Tor geöffnet.

Schon 1948 wird der Großteil der Inhaftierten aus den Speziallagern entlassen, lediglich die drei Lager Bautzen, Sachsenhausen und Buchenwald sind noch in Betrieb. Am 7. Oktober 1949 erfolgt die Staatsgründung der Deutschen Demokratischen Republik DDR. Ab dem 16. Januar 1950 beginnen die Entlassungen aus Sachsenhausen. Aus der Gruppe der SMT-Verurteilten werden 261 noch in die UdSSR deportiert und 5.151 Personen freigelassen.

Annemarie kommt nicht nach Hause. Sie wird als eine von 4.836 SMT-Verurteilten im Februar 1950 dem DDR-Strafvollzug übergeben. Wieder erfolgt ein Transport in Viehwaggons, der sie gemeinsam mit 1.118 Frauen und 30 Kleinkindern ins sächsische Stollberg bringt. Annemarie erkennt den Ort, der nur etwa 15 Kilometer von Thum entfernt liegt.

In einer ursprünglichen Ritterburg befindet sich die Strafvollzugseinrichtung (StVE) Stollberg (Hoheneck). Das Schloss wird schon seit dem 19. Jahrhundert als Strafanstalt genutzt. 1950 übernimmt das Ministerium des Innern (MdI) der DDR die Einrichtung. Hier liegt der Beginn der späteren zentralen Frauenhaftanstalt der DDR, die es zu zweifelhafter Berühmtheit bringen wird.

In dem alten Gemäuer herrscht eine Durchschnittstemperatur von 14 Grad, die Dächer sind undicht, die hygienischen Bedingungen bedenklich. Das für maximal 600 Häftlinge ausgelegte Zuchthaus ist vielfach überbelegt.

Annemaries Hoffnungen, dass es für sie nun einfacher werde, sie sogar entlassen werden könnte, weil die deutsche Justiz doch Verständnis für ihre missliche Lage haben müsse, zerschlagen sich jäh. Ihr Strafmaß wird erneut auf 25 Jahre hochgesetzt. Hinter den Gefängnismauern holt sie die bittere Realität ein.

»Eine Wachtmeisterin begrüßte uns: Wenn es eine Gerechtigkeit Gottes gäbe, müssten wir alle schon verreckt sein.«

Die Frauen müssen all ihre persönlichen Sachen abgeben und erhalten einheitliche Gefängniskleidung, bestehend aus Holzschuhen und Fußlappen, einer Hose und einer Jacke, zwei Männerhemden und zwei Männerunterhosen sowie einem Kopftuch. Annemarie fühlt sich als Frau entstellt. Neben den Entbehrungen und Erniedrigungen erwartet die Gefangenen ein streng reglementierter Haftalltag, bei dem jeder Verstoß schwer bestraft wird.

Auch die Fotos der Angehörigen nimmt man ihnen weg und händigt sie höchstens zu den Feiertagen aus. Allerdings dürfen sie jeden Monat Post von der Verwandtschaft empfangen – natürlich nur, wenn sie dafür den alten Brief abgeben. Die neue Post wird eingehend geprüft und wenn nötig, zensiert. Annemarie erhält Pakete von ihren Nachbarn und Bekannten in Thum. Von ihrer Mutter verlangt sie nichts, da sie sich in ihrer Schuld fühlt.

Einmal im Monat erhält Annemarie die Besuchserlaubnis. Ihre Mutter, die seit ihrer Entlassung Verena aufopfernd betreut, nimmt das Kind stets mit nach Hoheneck. Doch Annemarie bekommt ihre Tochter nie zu Gesicht, denn das Mädchen muss während der Besuchszeit in der sogenannten Kinderaufbewahrung des Zuchthauses warten. Diese Trennung von der Großmutter, ihrer engsten Bezugsperson, ist für Verena jedes Mal mit enormer Angst und Panik verbunden.

Im Alltag des Strafvollzugs bringt Annemarie die harte Haftarbeit Abwechslung. Als eine von fünf Frauen ist sie dem Kohlenkommando zugeteilt, einer schweren Arbeit, bei der sie Lkw entladen müssen. Doch angesichts der schmutzigen Tätigkeit ist es ihnen gestattet, jeden Tag zu duschen, während andere Arbeitskommandos das nur einmal im Monat dürfen.

»Wir waren froh, als wir arbeiten konnten. In der ganzen Zeit vorher durften wir doch nichts weiter machen.«

Annemarie nimmt bereitwillig die Gelegenheiten für außergewöhnliche Arbeitseinsätze wahr, da sie die Aussicht versprechen, heimlich an Lebensmittel oder andere Dinge zu kommen. Als die Frauen zum Aussortieren der Kleidung eingesetzt werden, welche von den Verstorbenen aus dem Speziallager Sachsenhausen stammt, stopfen sie sich in unbeobachteten Momenten Teile davon unter ihre Uniform. Doch als sie beim Entladen eines Transporters einen Laib Brot unterschlagen, wird das bemerkt und mit dem Ausfall der nächsten Mahlzeit bestraft.

Der Hunger ist ein ständiger Begleiter in Annemaries Haftzeit. Die Verpflegung ist nie ausreichend und oftmals von minderwertiger Qualität.

»Na ja, es gab draußen nichts, da konnten sie uns doch auch nichts weiter geben.«

Die Gefangenschaft in Hoheneck ist von ständigem Frieren und unhygienischen Bedingungen geprägt. Es gibt kein Toilettenpapier, die Plumpsklos werden von zig Frauen gleichzeitig benutzt. Annemarie erkrankt am Unterleib. Die Ärztin – ebenfalls eine Gefangene – versorgt sie, so gut es geht, doch Annemaries Probleme halten an. Geschont behandelt wird sie allerdings nicht, sondern wird lediglich vom Kohlen- ins Holzhackkommando versetzt.

Innerhalb der Gefängnismauern von Hoheneck sitzen die weiblichen Inhaftierten eng aufeinander. Eine Zwangsgemeinschaft, die zu Konflikten führt, die aber auch eine wirkungsvolle Kraft erschaffen kann, deren Zeuge Annemarie wiederholt wird. Sie erlebt einen starken Zusammenhalt unter den Frauen. Man tauscht sich mit Gedanken und Geschichten aus und richtet sich gegenseitig auf, wenn die Gemütsverfassung zu kippen droht. Die Frauen haben eine gemeinsame Losung: »Das sind die Starken im Leben, die unter Tränen lachen und andere fröhlich machen.«

Annemarie Krause Zeichnung

Dieses Porträt von Annemarie fertigt eine Mitgefangene in Hoheneck an. Auf der Rückseite steht handschriftlich: »Immer, wenn mich die große Sehnsucht erfüllt, sehe ich vor mir der Mutter Bild. Ich schaue in ihr liebes Augenpaar. Es ist noch das alte – treu, gütig und wahr. Doch ein fremder Zug hat sich um den Mund gelegt.«

Obwohl es verboten ist, persönliche Gegenstände zu besitzen, beweisen die Häftlinge auch in Hoheneck Improvisationstalent und das Geschick, bestimmte Gegenstände innerhalb des Gefängniskomplexes aufzustöbern. Sie besorgen sich Nadeln aus der gefängniseigenen Schlosserei und ribbeln den Mull ihrer Damenbinden auf, um damit Schlüpfer und Strümpfe zu stricken.

Durch das Zusammenspiel unglücklicher Umstände wird Annemarie im Januar 1953 bei der verbotenen Beschäftigung ertappt. Eine der Wachhabenden entdeckt Annemaries Utensilien. Für den Verstoß gegen die Anstaltsordnung wird die 21-Jährige mit einer zweifachen Paketsperre und 15 Tagen Dunkelarrest im Karzer bestraft.

»Aber ich heulte nicht. Ich hatte wieder eine Kraft gekriegt vom Herrn.«

Zeitzeuginnen berichten von sehr unterschiedlichen Erfahrungen mit dem Wachpersonal der Hohenecker Strafvollzugsanstalt. Während einige Wachtmeisterinnen ihre Machtposition ausnutzen und drakonische Strafen für kleinste Vergehen austeilen, zeigen andere Mitgefühl und schmuggeln heimlich Briefe der Insassinnen nach draußen, wobei sie ihre eigene Freiheit aufs Spiel setzen.

Im Herbst 1953, wenige Monate nach dem großen Volksaufstand in der DDR, erfahren die Inhaftierten aus einer offenbar nicht ausreichend zensierten Tageszeitung von der Freilassung SMT-Verurteilter aus russischer Gefangenschaft. Anhand der veröffentlichten Namen können sie Fälle rekonstruieren, die ihren gleichen oder erkennen sogar Mitverurteilte. Die Neuigkeiten empören die Frauen angesichts ihrer eigenen, scheinbar ausweglosen Situation.

»Wir wollten endlich wissen, was mit uns wird. Es vergingen Wochen, Monate, Jahre. Wir dachten, so traurig, wie es ist, nur durch Krieg kämen wir frei.«

So entscheiden sich die Frauen, die Nahrungsaufnahme zu verweigern. Die politischen Strafgefangenen fordern eine Überprüfung ihrer Urteile durch eine deutsch-sowjetische Kommission. Die Wachhabenden versuchen, dem Aufruhr entgegenzuwirken, indem sie die Frauen voneinander trennen und aus den Gemeinschaftssälen in kleine Räume verlegen. Doch es beteiligen sich über 1.000 der in Hoheneck inhaftierten Frauen an dem mehrtägigen Hungerstreik. Die Anstaltsleitung zeigt sich unnachgiebig und überstellt die Rädelsführerinnen in andere Gefängnisse.

Obgleich es erst nicht danach aussieht, ist der Aufstand dennoch erfolgreich, denn im Januar 1954 beginnt eine große Entlassungsaktion. 680 SMT-verurteilte Hoheneckerinnen kommen durch eine Teilamnestie frei.

Annemarie ist eine der letzten, die ihre Freiheit zurückerlangt. Sie wird am 20. Januar 1954 aufgerufen, bekommt einige ihrer persönlichen Dinge zurück und zehn Mark Fahrtgeld. Ein Wachposten bringt die Gruppe Entlassener zum Bahnhof nach Chemnitz, das jetzt Karl-Marx-Stadt heißt, dann geht er wortlos.

Nach den vergangenen fünfeinhalb Jahren Haft fühlt sich Annemarie völlig hilflos und überfordert von der plötzlichen Eigenverantwortung. Dann fällt ihr ein, dass auf den zwei Fotos ihrer Familie, die sie dabeihat, rückseitig die Telefonnummer des Thumer Fotoateliers steht. In der Bahnhofsgaststätte bittet sie darum, das Geschäft anzurufen, ihre Ankunft ankündigen und an ihre Mutter ausrichten zu lassen.

Mit einem Güterwagen erreicht sie morgens um halb drei den Heimatort. Auf dem Bahnsteig erwartet sie ihre Mutter, hinter der sich ängstlich und reserviert die kleine Verena versteckt, weil sie die verhärmte, fremde Frau, die ihre Mutter sein soll, gar nicht kennt. Auch für die inzwischen 22-Jährige ist die Begegnung ein Schock. Im Alter von nicht mal einem Jahr trennte man sie von ihrer Tochter, nun steht ein sechsjähriges Schulkind vor ihr. Verenas Befangenheit kann Annemarie gut verstehen, doch die Ablehnung schmerzt sie trotzdem sehr.

»Sie wollte nichts von mir wissen. Sie hatte nur meine Mutter gehabt. Es war schon hart.«

Die Annäherung von Mutter und Tochter ist zunächst schwierig. Das ernste Mädchen hat Angst vor den Vätern anderer Kinder und ist auch immer wieder das Opfer von Hänseleien. Es fällt Verena schwer, dass ihr Leben plötzlich umgekrempelt wird. Vor allem, dass sie die immens enge und vertraute Bindung zur Oma, die sie am liebsten immer Mutti nennen will, nun aufgeben und stattdessen von der Fremden erzogen werden soll.

Annemarie Krause mit Verena

Annemarie nach ihrer Entlassung mit Verena, 1954

Annemarie arbeitet nach ihrer Entlassung in einer Schuhfabrik. Sie will so schnell wie möglich für ihre Familie sorgen und die Entbehrungen von Mutter und Tochter wiedergutmachen. Beim Besuch eines Sommerjahrmarkts in Thum lernt Annemarie Karl-Heinz Krause kennen und lieben. 1955 heiratet das Paar. Mit Heinz kann Annemarie vertrauensvoll und offen reden.

Heinz baut ein gutes Verhältnis zu Verena auf. 1955 erwartet Annemarie Zwillinge. In der Nacht zum ersten Weihnachtsfeiertag 1955 setzen ihre Wehen ein, doch es gibt Komplikationen und beide Jungen sterben. Ihre Versuche, weitere Kinder zu bekommen, bleiben leider erfolglos. Annemaries Unterleibserkrankung wird schließlich als Folge einer Tuberkuloseerkrankung, die sich verkapselt hatte, diagnostiziert.

Die körperlichen Probleme sind nicht die einzigen Folgen der traumatischen Hafterlebnisse. Bis heute ist es Annemarie in großen Menschenansammlungen immer wichtig, den Ausgang im Blick zu haben. Auch wird sie von Albträumen geplagt.

Verena wächst unterdessen im Gesellschaftssystem der DDR auf. Über ihren Vater weiß das Mädchen gar nichts, auch wenn ihr stets versichert wird, dass er existiere. Aus Angst vor den möglichen Konsequenzen, sollte Verena in der Öffentlichkeit etwas weitererzählen, schweigt Annemarie zu DDR-Zeiten über die konkreten Geschehnisse. Lediglich von ihrer Großtante erfährt Verena manchmal Bruchstücke.

Verena heiratet in den 1970er Jahren und zieht mit ihrem Mann in die Bundesrepublik. Annemarie und Heinz erhalten von den DDR-Behörden nicht die Genehmigung, der Zeremonie beizuwohnen und haben auch anschließend Schwierigkeiten, eine Besuchserlaubnis zu bekommen. Erneut ist Verena für Annemarie unerreichbar weit weg.

Gleich nach der Grenzöffnung ziehen Annemarie und Heinz zu ihrer Tochter in die Nähe von München. Doch nach zehn Jahren ist die Sehnsucht nach der Heimat zu groß und sie kehren zurück in Annemaries Elternhaus in Thum.

Ihre Jugendliebe Maksim sieht Annemarie nie wieder. Verena, die mittlerweile über ihren Vater in Kenntnis gesetzt wurde, stellt 1999 Nachforschungen beim Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes an. Sie erfährt, dass Maksim am 20. Dezember 1948 zu einer Freiheitsstrafe von 25 Jahren verurteilt wird, die er im Zwangsarbeitslager Ust-Omtschug im Gebiet Magadan verbüßen muss. Nach zehn Jahren wird Maksim am 18. Januar 1958 vorzeitig entlassen und sein Eintrag im Strafregister gelöscht. Mehr ist zunächst nicht herauszufinden.

2004 startet Verena einen weiteren Versuch und bewirbt sich beim Format »Die letzte Hoffnung« des ZDF, der Verenas Suchmeldung in Kooperation mit dem russischen Fernsehsender ORT ausstrahlt. Mit Erfolg. Maksims Familie, die heute in der Nähe von Moskau lebt, meldet sich auf die Suchanzeige.

Verena fliegt in die russische Hauptstadt, um sie kennenzulernen. Nicht nur, weil das Treffen in großem Stil medial verfolgt wird, ist die Zusammenkunft emotional überwältigend. Verena, die ihr ganzes bisheriges Leben Einzelkind war und jahrelang Vater und Mutter vermisst hatte, sieht sich plötzlich elf Halbgeschwistern gegenüber, die sie herzlich empfangen.

Seine spätere Frau, eine Russin, lernt Maksim im Straflager kennen. Nach der Entlassung bekommt das Ehepaar neun Söhne und zwei Töchter. Doch schon 1990 verstirbt Maksim an Blutkrebs. Er war zum Zeitpunkt des Reaktorunfalls von Tschernobyl zufällig am Unglücksort, da er sich auf der Durchreise in seine alte Heimat Moldawien befunden hatte.

Trotz ihrer großen Angst vor engen Räumen fliegt Annemarie 2006 gemeinsam mit Verena und Heinz in die Republik Moldau. Nun lernt auch sie Maksims Familie kennen und besucht das Grab, das sein Abbild ziert. Sie erfährt, dass Maksim ebenfalls nach ihrem Verbleib geforscht hatte. Doch seine Bemühungen hatten zur Folge, dass er beruflich degradiert wurde. Annemarie und Verena halten die Verbindung aufrecht, auch wenn gegenseitige Besuche seit der Corona-Pandemie schwieriger geworden sind.

1991 wird Annemarie durch die Oberste Militärstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation in Moskau rehabilitiert. Sie ist bis 2013 aktiv im Hohenecker Frauenkreis, wird 2014 Mitglied der Chemnitzer Bezirksgruppe der VOS und besucht regelmäßig das Bautzen-Forum. Mit etlichen Zeitzeugeninterviews unterstützt sie Einrichtungen wie den Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis e.V.

Annemarie und Heinz leben heute noch in Thum. 2021 feierten sie gemeinsam ihren 90. Geburtstag. Die Erinnerung an Verenas Vater, an Annemaries Jugendliebe, begleitet sie stets.

»Ich war eben jung und dumm und unerfahren. Ich war glücklich, war verliebt, die Welt war offen und der Krieg vorbei. Dafür verbrachte ich die ganze Jugend im Gefängnis.«

»Ich war doch viel zu jung – und so was zu verurteilen, 25 Jahre!«

Annemarie Erika Weiser erblickt am 15. November 1931 in der kleinen erzgebirgischen Stadt Thum das Licht der Welt. Ihre Mutter Anna Weiser hat sich noch vor der Geburt vom Kindsvater scheiden lassen und zieht das Mädchen allein auf. Unter der liebevollen Fürsorge und mit einer engen Bindung zu ihrer Mutter und ihren Großeltern verbringt Annemarie eine gute Kindheit.

Als im September 1939 der Zweite Weltkrieg beginnt, ist Annemarie noch keine acht Jahre alt. In ihrer Umgebung werden viele Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene untergebracht und vor allem in der landwirtschaftlichen Versorgung eingesetzt. Der Erzgebirgsraum bleibt lange von den Kampfhandlungen verschont, doch am 11. September 1944 wird Annemarie Zeuge der Luftschlacht über dem Erzgebirge, bei der 53 Amerikaner und 21 Deutsche ums Leben kommen. Gemeinsam mit ihrer Großmutter steht sie vor dem Haus und kann den Luftkampf beobachten.

Ein weiteres Mal noch ist der Krieg ganz nah: Bei einem Luftangriff in der Nacht vom 14. zum 15. Februar 1945 wird die Thumer Stadtkirche St. Anna bis auf die Umfassungsmauern zerstört und ihre Innenausstattung vernichtet. Mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht ist der Zweite Weltkrieg am 8. Mai 1945 schließlich offiziell beendet.

Gemäß den Beschlüssen der Konferenz von Jalta verlassen die amerikanischen Truppen Anfang Juli 1945 die von ihnen zuvor besetzten Gebiete östlich der Elbe, während die Rote Armee einrückt. Die SMAD errichtet Militärkommandanturen und organisiert fortan alle Bereiche des politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Lebens. Das notwendige deutsche Verwaltungspersonal rekrutiert sie aus kommunistischen Kadern.

Annemarie ist mittlerweile 13 Jahre alt und erkundet gemeinsam mit ihren Freunden die Gegend. Dabei nähern sie sich auch immer wieder neugierig der sowjetischen Kommandantur, die in Thum eingerichtet wurde. Der Krieg ist vorbei und die jungen Leute sehnen sich nach Unterhaltung und Abwechslung, daher suchen sie interessiert den Kontakt zu den stationierten Soldaten, die aus ihrer Perspektive die große Welt in den kleinen Ort bringen.

Einer der sowjetischen Besatzungssoldaten fällt Annemarie besonders ins Auge. Maksim Milika ist ein stattlicher, sportlicher Sergeant, der bei der Thumer Bevölkerung durch seine fröhliche und hilfsbereite Art bekannt ist. Der gebürtige Moldawier stammt aus einer deutschsprachigen Familie und kann sich problemlos verständigen.

Annemarie verliebt sich in den sechs Jahre älteren Maksim, der ihre romantischen Gefühle erwidert. Sie hat absolut keine Vorbehalte oder Berührungsängste, was seine Position als Soldat der Roten Armee – der ostdeutschen Besatzungsmacht – angeht.

Annemarie Krause Portraits Maksim

Porträtfotos von Maksim aus dem Jahr 1946

Nach einer Weile treffen sich Maksim und Annemarie zu zweit und gehen eine Liebesbeziehung ein. Doch sie halten ihre Verbindung geheim. Annemarie verschweigt ihren Freund vor der Familie zunächst gänzlich. Damit niemand in der Öffentlichkeit des Ortes bemerkt, dass sie einen Militärangehörigen trifft, trägt Maksim bei ihren Treffen im Stadtpark oder im Wald immer Zivilkleidung.

»Es war ja verboten. Wir mussten uns immer heimlich treffen.«

In den westlichen Besatzungszonen gilt seit Frühjahr 1945 ein striktes sogenanntes Fraternisierungsverbot, das die Militärverwaltung der amerikanischen Besatzungstruppen in Deutschland im Oktober 1945 aufhebt. In der SBZ wiederum existieren zunächst keine Regelungen über den Umgang der sowjetischen Soldaten mit deutschen Frauen. Die Mitarbeiter des SMAD vermeiden normalerweise die öffentliche Verbrüderung mit dem »Feind«. Eine gezielte Abschottung der sowjetischen Truppen von der deutschen Bevölkerung erfolgt aber erst nach und nach.

Maksims Kommandeur hat Verständnis für das junge Liebespaar und stellt großzügige Urlaubs- oder Besuchserlaubnisse aus. So können sie sich in der Öffentlichkeit zusammen frei bewegen und gehen sogar tanzen. Doch 1946 wird die Kommandantur in Thum aufgelöst und Maksim ins 13 Kilometer südlich entfernte Annaberg-Buchholz versetzt, später in die über 30 Kilometer nördlich liegende Kommandantur in Flöha. Trotzdem trifft sich das Paar regelmäßig.

Nach einem Jahr wird Annemarie schwanger. Die 15-Jährige macht sich keine Gedanken und schwebt im siebten Himmel vor Glück. Als sie sich ihrer Familie offenbart, ist die jedoch zunächst bestürzt, denn man hat schlechte Erfahrungen mit sowjetischen Militärangehörigen gemacht. Annemaries Onkel war kurz nach Kriegsende vom NKWD/MWD verhaftet worden und kam im sowjetischen Speziallager Nr. 1 Mühlberg ums Leben.

Am 6. Oktober 1947 bringt Annemarie ihre Tochter Verena zur Welt. Maksim ist begeistert von dem Baby. Nun macht auch Annemaries Familie ihren Frieden mit Maksim und steht bedingungslos hinter der jungen Familie. Er darf regelmäßig zu Besuch kommen und auch im Haus übernachten.

»Meine Großmutter sagte immer: ›Ob weiß, gelb, rot oder schwarz – es sind alles Menschen. Und jeder Mensch hat einen guten Kern in sich.‹«

In der Nachbarschaft fällt die Toleranz gegenüber der außergewöhnlichen und darüber hinaus unehelichen Verbindung jedoch deutlich geringer aus. Frauen, die sich mit Besatzungssoldaten einlassen, werden von der deutschen Nachkriegsgesellschaft häufig vorurteilsbehaftet moralisch verurteilt und solche Beziehungen oft als Verrat am deutschen Kollektiv betrachtet.

Dabei sind Besatzungskinder durchaus keine Seltenheit. Wissenschaftliche Berechnungen gehen von mindestens 400.000 Besatzungskindern im Westen und im Osten aus, gezeugt innerhalb von Liebesbeziehungen oder – weitaus mehr – aufgrund von Vergewaltigungen.

Maksim hat die aufrichtige und ernste Absicht, für Annemarie und Verena zu sorgen und mit ihnen ein neues Leben in Deutschland zu beginnen und bittet deshalb um seine Entlassung aus dem Armeedienst. Aber schon am Tag der Taufe beginnen die Probleme, denn er erhält keinen Urlaub, um der Zeremonie beiwohnen zu dürfen. Auch sein Entlassungsgesuch wird monatelang hinausgezögert.

Der Umgang mit den deutsch-sowjetischen Beziehungen hat sich verändert. Seit 1947 sind den Angehörigen der Roten Armee alle privaten Kontakte mit deutschen Frauen untersagt. Wird ein solcher Umgang bekannt, so holt die Militärpolizei den betreffenden Soldaten ab, zwingt ihn, die Beziehung zu beenden und schickt ihn in ein Arbeitslager.

Maksim steht in der Kommandantur unter erhöhter Beobachtung. Dennoch stiehlt er sich oft davon, um seine Freundin und das gemeinsame Kind zu besuchen. Auch Annemarie fährt regelmäßig mit dem Zug nach Flöha. Im Haus einer deutschen Familie, bei der Annemarie als Haushaltshilfe arbeitet, dürfen sie sich treffen. So schaffen sie es, sich etwa drei- bis viermal im Monat zu sehen.

Annemarie Krause Abbildung 2

v.l.n.r. Annemarie, Maksim mit Verena, Anna Weiser, Annemaries Tante und im Vordergrund Annemaries Großmutter, 1948 / Annemarie mit der sieben Wochen alten Verena, 1947

Eines Abends im September 1948 steht Maksim unangemeldet vor Annemaries Tür. Er erklärt, dass ihn sein Vorgesetzter wenige Stunden zuvor vor der drohenden Abschiebung in die Heimat gewarnt hat und ihnen nun der offizielle Weg, gemeinsam als Familie zu leben, versperrt bleibt. Maksim ist desertiert und sieht nur die Flucht in eine westliche Besatzungszone als Ausweg.

Die 16-jährige Annemarie ist im Zwiespalt: Sie will ihre Heimat nicht verlassen, aber auch nicht ohne Maksim leben. Also vertraut sich das Paar der Familie an. Gemeinsam plant man, die Flucht mithilfe einer Cousine umzusetzen, die in der Zonengrenze bei Magdeburg lebt. Die knapp einjährige Verena soll vorübergehend bei ihrer Großmutter bleiben und beide später nachkommen. Maksim wird über Nacht bei Annemaries Tante im Nachbarort Gelenau versteckt.

Als Annemarie am Abend heimkommt, wimmelt es in der Straße von sowjetischen Soldaten und Militärfahrzeugen. An ein Weglaufen ist nicht zu denken. Weil die Soldaten den gesuchten Maksim nicht antreffen, nehmen sie an seiner Stelle Annemarie mit.

Die Soldaten bringen Annemarie nach Chemnitz, wo sie mehrere Tage im deutschen Polizeigefängnis verbringt. Deutsche und sowjetische Behörden arbeiten Hand in Hand. Immer wieder führt ein Polizeibeamter sie auf den Kaßberg in eine Villa, die von der politischen Geheimpolizei der Sowjetunion genutzt wird, dem MWD. Dort unterzieht man sie etlichen Vernehmungen, um den Aufenthaltsort des fahnenflüchtigen Maksim herauszufinden, doch Annemarie schweigt. Dann wird sie überraschend wieder entlassen.

Allerdings verfolgen Soldaten Annemarie auf Schritt und Tritt, weil sie davon ausgehen, das Liebespaar würde einander früher oder später aufsuchen, und Maksim bei dieser Gelegenheit fassen wollen. Weil dieser nicht auftaucht, marschieren am 5. Oktober 1948 sowjetische Offiziere in Annemaries Elternhaus und nehmen die 16-Jährige erneut fest. Die Dolmetscherin rät ihr, ausreichend Kleidung einzupacken.

Wieder wird Annemarie zuerst auf das Chemnitzer Polizeipräsidium gebracht. Anschließend überführt eine Polizistin sie in das sogenannte Russengefängnis: die Untersuchungshaftanstalt am östlichen Rand des bürgerlich geprägten Chemnitzer Kaßbergs.

Die Gefangenenanstalt geht auf einen im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts errichteten Justizkomplex zurück, zu dem Gebäude der Staatsanwaltschaft sowie des Land- und Amtsgerichts gehören. Von 1933 bis 1945 dient das Untersuchungs- und Strafgefängnis den Nationalsozialisten zur Inhaftierung zahlloser Menschen, darunter vor allem politische Häftlinge. Im Mai 1945 übernimmt der sowjetische Sicherheitsapparat das Kaßberg-Gefängnis und nutzt es als Untersuchungshaftstätte für NS-Verbrecher und viele junge Menschen, die hier aufgrund von Denunziationen, politischer Willkür oder aus Protest gegen das kommunistische System interniert werden.

Ein in der Nähe der Haftanstalt tagendes Sowjetisches Militärtribunal (SMT) verurteilt Inhaftierte in rechtsstaatswidrigen Schnellverfahren zu drakonischen Haftstrafen oder gar zum Tode. Die Betroffenen werden anschließend in ein sowjetisches Speziallager oder zur Vollstreckung des Todesurteils in das Moskauer Butyrka-Gefängnis verbracht. Die SMT fällen von 1945 bis 1955 Urteile über ca. 40.000 verhaftete Deutsche.

Die Haftzeit auf dem Kaßberg verlangt Annemarie viel ab. Der Tag nach ihrer Verhaftung ist Verenas erster Geburtstag. Doch Annemarie kann ihn nicht mit ihrer Tochter feiern. Sie sitzt in einer schmutzigen und von Ungeziefer befallenen Einzelzelle. Die schlechten hygienischen Bedingungen und der psychische Druck der ständigen nächtlichen Verhöre bringen die verängstigte junge Frau an ihre emotionalen Grenzen. Immer wieder lässt sie sich alles durch den Kopf gehen, was sie bisher in ihrem Leben erlebt hat.

»Der Kaßberg war mit das Schlimmste. Ich hab nur geweint, geweint«

Weil das Fenster mit Brettern verkleidet ist, kann sie ihre Umgebung kaum erkennen. Am Läuten der Glocken der benachbarten Kirche und einer Schule versucht sich, sich zumindest zeitlich zu orientieren. Immer wieder vernimmt sie Klopfzeichen, die aus anderen Zellen zu kommen scheinen. Annemarie versteht, dass sich die Häftlinge auf diese Weise miteinander austauschen, erkennt aber zunächst nicht, welches System dahintersteckt.

Angst, Verzweiflung und die Unsicherheit über ihr Schicksal lähmen sie. Hinzu kommen die körperlichen Beschwerden. Annemarie leidet unter heftigen Zahnschmerzen. Sie trägt drei Monate lang dieselbe Kleidung. Nur einmal wird ihr erlaubt, duschen zu gehen, doch für die ersehnte Körperpflege wird sie in einen finsteren Kellerraum gebracht, der ihr unheimlich ist. Dann bekommt sie ihre Monatsblutung und ist froh, Taschentücher eingepackt zu haben.

Ein Mann, der ebenfalls Häftling im Kaßberg-Gefängnis und für das Austragen des Essens in ihrem Zellentrakt verantwortlich ist, tauscht sich manchmal mit Annemarie aus. Als sich die junge Frau, die sonst mit niemandem reden kann, dem Kalfaktor schließlich anvertraut, rät er, ihr Schweigen zu brechen und in der nächsten Vernehmung einfach die Wahrheit zu sagen.

Gutgläubig und am Ende ihrer Willenskraft gesteht Annemarie den Ermittlern ihre Fluchtpläne. Mit schwerwiegenden Konsequenzen: Im November 1948 werden ihre Mutter Anna Weiser und ihre Tante Helene ebenfalls verhaftet. Annemarie hatte Verena in deren vertrauensvoller Obhut sicher gewusst, nun wird das Kind bei einer anderen Tante in Thum aufgenommen.

Am 20. Dezember 1948 werden die drei Frauen vor ein Sowjetisches Militärtribunal gestellt. Das Gericht klagt die drei Frauen des Versteckens eines Deserteurs der Roten Armee an und verurteilt sie wegen Beihilfe zur Fahnenflucht zu je 25 Jahren Strafarbeitslager.

»Sie lachten und sagten, da wäre nachher die Tochter am Ende schon verheiratet.«

Annemarie ist erschüttert. Sie kann nicht fassen, dass ihr jugendlicher Leichtsinn solch folgenschwere Konsequenzen hat. Bevor sie ihre Strafe antritt, überbringt ihr der Kalfaktor eine wichtige Botschaft. Er hat herausgefunden, dass Maksim ebenfalls in dieser Haftanstalt einsitzt. Annemarie hatte bis zu diesem Zeitpunkt keine Kenntnis darüber, ob Maksim die Flucht gelungen war. Sie erfährt, was geschehen ist:

Ein Suchtrupp durchkämmt die Wohnung ihrer Tante in Gelenau, während Maksim sich in einem Nebenraum versteckt. Als die Soldaten gehen und Maksim erfährt, dass Annemarie verhaftet worden ist, wird ihm die Situation zu gefährlich und er entschließt sich dazu, allein den Weg in die Westzone anzutreten – in der Hoffnung, Annemarie und Verena könnten später einmal nachkommen.

Die Familie in Thum, bei der sich das Paar regelmäßig treffen durfte, hilft Maksim mit Kleidung, Geld und Lebensmitteln aus. Doch im Zug nach Magdeburg wird der Fahnenflüchtige am 7. Oktober 1948, zwei Tage nach Annemaries Verhaftung, aufgegriffen. Nun wartet er ebenfalls im Kaßberg-Gefängnis auf seine Verurteilung.

Annemarie wird die Bitte auf ein letztes Wiedersehen gewährt. Man führt sie in ein Vernehmungszimmer, in dem Maksim sitzt, kahlgeschoren und tief traurig. Er spricht kein Wort, und auch Annemarie schafft es nicht, Worte des Abschieds über die Lippen zu bringen, stattdessen bricht sie in Tränen aus. Die 17-Jährige weiß nicht, das dies die letzte Begegnung mit ihrer Jugendliebe sein wird. Doch die Hilflosigkeit der Situation und die verpasste Chance auf ein letztes Gespräch prägen sich tief in ihr Gedächtnis ein.

»Da komme ich heute noch nicht drüber hinweg.«

Nach ihrer Verurteilung bleibt Annemarie noch bis zum Januar 1949 im Kaßberg-Gefängnis. In diesen letzten Tagen wird ihr eine Zellengenossin zugeteilt. Die Mitgefangene überredet sie anlässlich des ersten Weihnachtsfeiertags 1948, den Wachposten um ein Buch zu bitten. Als Annemarie das tut, bestraft der Wachhabende sie damit, das Hafthaus zu putzen.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entsteht auf dem sowjetisch besetzten Territorium ein System von Speziallagern des NKWD/MWD, oft in Nachnutzung der Anlagen ehemaliger Konzentrations- oder NS-Kriegsgefangenenlager. Bis 1950 werden hier 122.671 Deutsche gefangen gehalten, von denen – insgesamt betrachtet – etwa ein Drittel die menschenunwürdigen Bedingungen der Haft nicht überlebt.

Im Januar 1949 werden Annemarie, ihre Mutter und deren Schwester in das sowjetische Speziallager Nr. 4 Bautzen eingeliefert. Das Lager wird im Mai 1945 eingerichtet und schnell unter dem Beinamen »Gelbes Elend« bekannt: Vier bis sechs Meter hohe Mauern aus gelben Klinkersteinen fassen das 66.300 Quadratmeter große Gelände mit vier Gefängnisgebäuden und neun Holzbaracken ein und lassen seinen insgesamt 27.000 Insassen keine Möglichkeit, zu entkommen.

Die Sterberate infolge von chronischer Unterernährung, schlechter Hygiene und Infektionskrankheiten ist hoch. Insgesamt kommen im Speziallager Bautzen über 3.000 Menschen allein aufgrund der katastrophalen Haftbedingungen ums Leben. Man verscharrt sie nackt und anonym in Massengräbern auf dem sogenannten Karnickelberg, einer Anhöhe außerhalb des Lagers.

Das sowjetische Speziallager Nr. 4 ist in der ganzen Zeit seines Bestehens überfüllt. Die ehemaligen Räume der Landesstrafanstalt Bautzen waren für die Unterbringung von 1.350 Gefangenen konzipiert worden, nun sitzen hier durchschnittlich 7.000 Gefangene – Internierte und SMT-Verurteilte – auf engstem Raum ein. 90 bis 95 Prozent der Insassen sind Männer.

Der Höchststand an weiblichen Gefangenen wird im Sommer 1948 mit rund 600 Frauen erreicht. Sie sind immer strikt von den männlichen Gefangenen getrennt und dürfen das Frauengefängnis nur zum Rundgang verlassen, bei dem sie in geregelter Formation auf dem Gelände laufen. Annemarie ist in einem großen Saal mit über 100 Frauen eingesperrt. Es gibt WCs und Waschbecken.

»Aber wir hatten kein Klopapier und darum machten wir aus den Anziehsachen das Futter raus und das wuschen wir uns aus und hängten es an die Betten.«

Annemarie ist froh, dass sie so viele Sachen mitgenommen hat. Andere Gefangene besitzen nur, was sie bei der Verhaftung am Leib trugen. Die Frauen helfen sich gegenseitig aus. Annemarie reißt sich zusammen, um diese Zeit durchzuhalten, immer mit dem Ziel vor Augen, es wieder zurück zu ihrem Kind zu schaffen. Was ihr hilft, ist die Nähe zu ihrer Mutter und Tante.

Als die Frauen am 4. April 1949 vom Hofrundgang wiederkommen, werden Annemarie, ihre Mutter und ihre Tante aufgerufen und einem russischen Offizier vorgeführt. Er teilt ihnen mit, dass Annemaries Strafmaß auf 10 Jahre reduziert wurde. Ihre Mutter und Tante werden am 10. April 1949 entlassen.

»Da fiel mir ein großer Stein vom Herzen.«

Dem sowjetischen Speziallager Bautzen droht unterdessen abermals die totale Überfüllung. Daher verlegt das MWD in drei großen Transporten zwischen Juni 1948 und Mai 1949 insgesamt 3.200 SMT-Verurteilte in das Speziallager Sachsenhausen. Mit diesen Transporten verlassen alle »Kurzstrafer« und zudem fast alle weiblichen Gefangenen das Lager, Annemarie ist auf einem der letzten. Sie werden in Viehwaggons gepfercht. Ein Loch im Boden muss als Abort herhalten.

Für die dreitägige Fahrt erhalten die Frauen eine Brotzuteilung, jedoch kein Wasser. Es ist unglaublich heiß und stickig in dem Waggon. Manchmal hält der Zug an und steht für Stunden. Wird die Tür überraschenderweise geöffnet, müssen alle Gefangenen schnell auf eine Seite herüberrücken. Sind sie dabei nicht schnell genug, so müssen sie Schläge mit dem Knüppel einstecken.

Die Ungewissheit darüber, wohin sie der Transport bringen wird, erhöht die Anspannung. Die Frauen befürchten, in ein Lager nach Sibirien geschafft zu werden. Doch im brandenburgischen Oranienburg hält der Zug. Die Frauen werden auf einen Hänger verfrachtet, den ein Traktor zieht. Mit gespreizten Beinen muss immer eine hinter der nächsten aufsitzen. Auf diese Weise stapeln die Wachposten, die ohnehin mit Maschinenpistolen und furchteinflößenden Wachhunden ausgerüstet sind, ihre Gefangenen so eng, dass niemand einen Fluchtversuch zustande bringt.

Das architektonisch durchgeplante Lagergelände spielt schon im System der nationalsozialistischen Konzentrationslager eine wichtige und herausragende Rolle. Im KZ Sachsenhausen, zu dem mehr als 100 Außenlager gehören, werden über 200.000 Häftlinge aus ca. 40 Nationen inhaftiert, von denen etwa die Hälfte umkommt.

Ab August 1945 wird das Areal als sowjetisches Speziallager Nr. 7 Sachsenhausen genutzt und trägt nach der Auflösung anderer Lager und der Reorganisation des Systems ab Herbst 1948 die Bezeichnung »Speziallager des MWD Nr. 1«. Bis zur Schließung im März 1950 sterben etwa 12.000 der insgesamt 60.000 Gefangenen unter den furchtbaren Haftbedingungen.

Sachsenhausen ist das größte sowjetische Speziallager und sowohl durch die Unterschiedlichkeit der Inhaftierten als auch seine Multifunktionalität gekennzeichnet. Hinter einer Vorzone für die sowjetische Lagerverwaltung gibt es zwei große Häftlingszonen. Zone I ist der Gewahrsam für Zivilinternierte, die auf Grundlage des NKWD/MWD-Befehls Nr. 00315 verhaftet und eingeliefert werden. In Zone II werden ab September 1946 rund 16.000 SMT-Verurteilte inhaftiert. Die Häftlingsbereiche sind streng voneinander getrennt und in jeder der zwei Zonen befindet sich ein nochmals isoliertes Frauenlager.

»In Sachsenhausen war es noch schlimmer. Erst lagen wir auf den blanken Brettern. Dann hatten wir Strohsäcke, aber die Strohhalme konntest du zählen. Und Wanzen hatten wir.«

Wieder einmal ist Annemarie froh über ihren Wintermantel, mit dem sie sich in der Nacht zusätzlich wärmen kann. Der Tag im Frauenbataillon beginnt mit dem morgendlichen Appell. Danach dürfen sich die Frauen in dem abgetrennten Bereich des Speziallagers frei bewegen.

»Da waren wir wenigstens nicht eingesperrt. Aber wie gesagt, mit dem Essen wars auch katastrophal.«

Für eine Woche pro Monat ist Annemarie zum Kartoffelschälen in der Küchenbaracke eingeteilt. Ein Vorteil, denn dabei kann sie heimlich die Schalen essen. Die Essensverpflegung der Gefangenen ist einseitig und völlig unzureichend. Die Frauen nutzen jede Möglichkeit und improvisieren klug, um sich das Überleben zu sichern.

»Die Menschen starben wie die Fliegen, vor allem die Männer.«

Wie für die sowjetischen Speziallager üblich, so wird auch in Sachsenhausen die Lagerselbstverwaltung durch deutsche Gefangene ausgeübt. Die Hierarchie ist militärisch organisiert und lässt Willkür und Korruption Tür und Tor geöffnet.

Schon 1948 wird der Großteil der Inhaftierten aus den Speziallagern entlassen, lediglich die drei Lager Bautzen, Sachsenhausen und Buchenwald sind noch in Betrieb. Am 7. Oktober 1949 erfolgt die Staatsgründung der Deutschen Demokratischen Republik DDR. Ab dem 16. Januar 1950 beginnen die Entlassungen aus Sachsenhausen. Aus der Gruppe der SMT-Verurteilten werden 261 noch in die UdSSR deportiert und 5.151 Personen freigelassen.

Annemarie kommt nicht nach Hause. Sie wird als eine von 4.836 SMT-Verurteilten im Februar 1950 dem DDR-Strafvollzug übergeben. Wieder erfolgt ein Transport in Viehwaggons, der sie gemeinsam mit 1.118 Frauen und 30 Kleinkindern ins sächsische Stollberg bringt. Annemarie erkennt den Ort, der nur etwa 15 Kilometer von Thum entfernt liegt.

In einer ursprünglichen Ritterburg befindet sich die Strafvollzugseinrichtung (StVE) Stollberg (Hoheneck). Das Schloss wird schon seit dem 19. Jahrhundert als Strafanstalt genutzt. 1950 übernimmt das Ministerium des Innern (MdI) der DDR die Einrichtung. Hier liegt der Beginn der späteren zentralen Frauenhaftanstalt der DDR, die es zu zweifelhafter Berühmtheit bringen wird.

In dem alten Gemäuer herrscht eine Durchschnittstemperatur von 14 Grad, die Dächer sind undicht, die hygienischen Bedingungen bedenklich. Das für maximal 600 Häftlinge ausgelegte Zuchthaus ist vielfach überbelegt.

Annemaries Hoffnungen, dass es für sie nun einfacher werde, sie sogar entlassen werden könnte, weil die deutsche Justiz doch Verständnis für ihre missliche Lage haben müsse, zerschlagen sich jäh. Ihr Strafmaß wird erneut auf 25 Jahre hochgesetzt. Hinter den Gefängnismauern holt sie die bittere Realität ein.

»Eine Wachtmeisterin begrüßte uns: Wenn es eine Gerechtigkeit Gottes gäbe, müssten wir alle schon verreckt sein.«

Die Frauen müssen all ihre persönlichen Sachen abgeben und erhalten einheitliche Gefängniskleidung, bestehend aus Holzschuhen und Fußlappen, einer Hose und einer Jacke, zwei Männerhemden und zwei Männerunterhosen sowie einem Kopftuch. Annemarie fühlt sich als Frau entstellt. Neben den Entbehrungen und Erniedrigungen erwartet die Gefangenen ein streng reglementierter Haftalltag, bei dem jeder Verstoß schwer bestraft wird.

Auch die Fotos der Angehörigen nimmt man ihnen weg und händigt sie höchstens zu den Feiertagen aus. Allerdings dürfen sie jeden Monat Post von der Verwandtschaft empfangen – natürlich nur, wenn sie dafür den alten Brief abgeben. Die neue Post wird eingehend geprüft und wenn nötig, zensiert. Annemarie erhält Pakete von ihren Nachbarn und Bekannten in Thum. Von ihrer Mutter verlangt sie nichts, da sie sich in ihrer Schuld fühlt.

Einmal im Monat erhält Annemarie die Besuchserlaubnis. Ihre Mutter, die seit ihrer Entlassung Verena aufopfernd betreut, nimmt das Kind stets mit nach Hoheneck. Doch Annemarie bekommt ihre Tochter nie zu Gesicht, denn das Mädchen muss während der Besuchszeit in der sogenannten Kinderaufbewahrung des Zuchthauses warten. Diese Trennung von der Großmutter, ihrer engsten Bezugsperson, ist für Verena jedes Mal mit enormer Angst und Panik verbunden.

Im Alltag des Strafvollzugs bringt Annemarie die harte Haftarbeit Abwechslung. Als eine von fünf Frauen ist sie dem Kohlenkommando zugeteilt, einer schweren Arbeit, bei der sie Lkw entladen müssen. Doch angesichts der schmutzigen Tätigkeit ist es ihnen gestattet, jeden Tag zu duschen, während andere Arbeitskommandos das nur einmal im Monat dürfen.

»Wir waren froh, als wir arbeiten konnten. In der ganzen Zeit vorher durften wir doch nichts weiter machen.«

Annemarie nimmt bereitwillig die Gelegenheiten für außergewöhnliche Arbeitseinsätze wahr, da sie die Aussicht versprechen, heimlich an Lebensmittel oder andere Dinge zu kommen. Als die Frauen zum Aussortieren der Kleidung eingesetzt werden, welche von den Verstorbenen aus dem Speziallager Sachsenhausen stammt, stopfen sie sich in unbeobachteten Momenten Teile davon unter ihre Uniform. Doch als sie beim Entladen eines Transporters einen Laib Brot unterschlagen, wird das bemerkt und mit dem Ausfall der nächsten Mahlzeit bestraft.

Der Hunger ist ein ständiger Begleiter in Annemaries Haftzeit. Die Verpflegung ist nie ausreichend und oftmals von minderwertiger Qualität.

»Na ja, es gab draußen nichts, da konnten sie uns doch auch nichts weiter geben.«

Die Gefangenschaft in Hoheneck ist von ständigem Frieren und unhygienischen Bedingungen geprägt. Es gibt kein Toilettenpapier, die Plumpsklos werden von zig Frauen gleichzeitig benutzt. Annemarie erkrankt am Unterleib. Die Ärztin – ebenfalls eine Gefangene – versorgt sie, so gut es geht, doch Annemaries Probleme halten an. Geschont behandelt wird sie allerdings nicht, sondern wird lediglich vom Kohlen- ins Holzhackkommando versetzt.

Innerhalb der Gefängnismauern von Hoheneck sitzen die weiblichen Inhaftierten eng aufeinander. Eine Zwangsgemeinschaft, die zu Konflikten führt, die aber auch eine wirkungsvolle Kraft erschaffen kann, deren Zeuge Annemarie wiederholt wird. Sie erlebt einen starken Zusammenhalt unter den Frauen. Man tauscht sich mit Gedanken und Geschichten aus und richtet sich gegenseitig auf, wenn die Gemütsverfassung zu kippen droht. Die Frauen haben eine gemeinsame Losung: »Das sind die Starken im Leben, die unter Tränen lachen und andere fröhlich machen.«

Annemarie Krause Zeichnung

Dieses Porträt von Annemarie fertigt eine Mitgefangene in Hoheneck an. Auf der Rückseite steht handschriftlich: »Immer, wenn mich die große Sehnsucht erfüllt, sehe ich vor mir der Mutter Bild. Ich schaue in ihr liebes Augenpaar. Es ist noch das alte – treu, gütig und wahr. Doch ein fremder Zug hat sich um den Mund gelegt.«

Obwohl es verboten ist, persönliche Gegenstände zu besitzen, beweisen die Häftlinge auch in Hoheneck Improvisationstalent und das Geschick, bestimmte Gegenstände innerhalb des Gefängniskomplexes aufzustöbern. Sie besorgen sich Nadeln aus der gefängniseigenen Schlosserei und ribbeln den Mull ihrer Damenbinden auf, um damit Schlüpfer und Strümpfe zu stricken.

Durch das Zusammenspiel unglücklicher Umstände wird Annemarie im Januar 1953 bei der verbotenen Beschäftigung ertappt. Eine der Wachhabenden entdeckt Annemaries Utensilien. Für den Verstoß gegen die Anstaltsordnung wird die 21-Jährige mit einer zweifachen Paketsperre und 15 Tagen Dunkelarrest im Karzer bestraft.

»Aber ich heulte nicht. Ich hatte wieder eine Kraft gekriegt vom Herrn.«

Zeitzeuginnen berichten von sehr unterschiedlichen Erfahrungen mit dem Wachpersonal der Hohenecker Strafvollzugsanstalt. Während einige Wachtmeisterinnen ihre Machtposition ausnutzen und drakonische Strafen für kleinste Vergehen austeilen, zeigen andere Mitgefühl und schmuggeln heimlich Briefe der Insassinnen nach draußen, wobei sie ihre eigene Freiheit aufs Spiel setzen.

Im Herbst 1953, wenige Monate nach dem großen Volksaufstand in der DDR, erfahren die Inhaftierten aus einer offenbar nicht ausreichend zensierten Tageszeitung von der Freilassung SMT-Verurteilter aus russischer Gefangenschaft. Anhand der veröffentlichten Namen können sie Fälle rekonstruieren, die ihren gleichen oder erkennen sogar Mitverurteilte. Die Neuigkeiten empören die Frauen angesichts ihrer eigenen, scheinbar ausweglosen Situation.

»Wir wollten endlich wissen, was mit uns wird. Es vergingen Wochen, Monate, Jahre. Wir dachten, so traurig, wie es ist, nur durch Krieg kämen wir frei.«

So entscheiden sich die Frauen, die Nahrungsaufnahme zu verweigern. Die politischen Strafgefangenen fordern eine Überprüfung ihrer Urteile durch eine deutsch-sowjetische Kommission. Die Wachhabenden versuchen, dem Aufruhr entgegenzuwirken, indem sie die Frauen voneinander trennen und aus den Gemeinschaftssälen in kleine Räume verlegen. Doch es beteiligen sich über 1.000 der in Hoheneck inhaftierten Frauen an dem mehrtägigen Hungerstreik. Die Anstaltsleitung zeigt sich unnachgiebig und überstellt die Rädelsführerinnen in andere Gefängnisse.

Obgleich es erst nicht danach aussieht, ist der Aufstand dennoch erfolgreich, denn im Januar 1954 beginnt eine große Entlassungsaktion. 680 SMT-verurteilte Hoheneckerinnen kommen durch eine Teilamnestie frei.

Annemarie ist eine der letzten, die ihre Freiheit zurückerlangt. Sie wird am 20. Januar 1954 aufgerufen, bekommt einige ihrer persönlichen Dinge zurück und zehn Mark Fahrtgeld. Ein Wachposten bringt die Gruppe Entlassener zum Bahnhof nach Chemnitz, das jetzt Karl-Marx-Stadt heißt, dann geht er wortlos.

Nach den vergangenen fünfeinhalb Jahren Haft fühlt sich Annemarie völlig hilflos und überfordert von der plötzlichen Eigenverantwortung. Dann fällt ihr ein, dass auf den zwei Fotos ihrer Familie, die sie dabeihat, rückseitig die Telefonnummer des Thumer Fotoateliers steht. In der Bahnhofsgaststätte bittet sie darum, das Geschäft anzurufen, ihre Ankunft ankündigen und an ihre Mutter ausrichten zu lassen.

Mit einem Güterwagen erreicht sie morgens um halb drei den Heimatort. Auf dem Bahnsteig erwartet sie ihre Mutter, hinter der sich ängstlich und reserviert die kleine Verena versteckt, weil sie die verhärmte, fremde Frau, die ihre Mutter sein soll, gar nicht kennt. Auch für die inzwischen 22-Jährige ist die Begegnung ein Schock. Im Alter von nicht mal einem Jahr trennte man sie von ihrer Tochter, nun steht ein sechsjähriges Schulkind vor ihr. Verenas Befangenheit kann Annemarie gut verstehen, doch die Ablehnung schmerzt sie trotzdem sehr.

»Sie wollte nichts von mir wissen. Sie hatte nur meine Mutter gehabt. Es war schon hart.«

Die Annäherung von Mutter und Tochter ist zunächst schwierig. Das ernste Mädchen hat Angst vor den Vätern anderer Kinder und ist auch immer wieder das Opfer von Hänseleien. Es fällt Verena schwer, dass ihr Leben plötzlich umgekrempelt wird. Vor allem, dass sie die immens enge und vertraute Bindung zur Oma, die sie am liebsten immer Mutti nennen will, nun aufgeben und stattdessen von der Fremden erzogen werden soll.

Annemarie Krause mit Verena

Annemarie nach ihrer Entlassung mit Verena, 1954

Annemarie arbeitet nach ihrer Entlassung in einer Schuhfabrik. Sie will so schnell wie möglich für ihre Familie sorgen und die Entbehrungen von Mutter und Tochter wiedergutmachen. Beim Besuch eines Sommerjahrmarkts in Thum lernt Annemarie Karl-Heinz Krause kennen und lieben. 1955 heiratet das Paar. Mit Heinz kann Annemarie vertrauensvoll und offen reden.

Heinz baut ein gutes Verhältnis zu Verena auf. 1955 erwartet Annemarie Zwillinge. In der Nacht zum ersten Weihnachtsfeiertag 1955 setzen ihre Wehen ein, doch es gibt Komplikationen und beide Jungen sterben. Ihre Versuche, weitere Kinder zu bekommen, bleiben leider erfolglos. Annemaries Unterleibserkrankung wird schließlich als Folge einer Tuberkuloseerkrankung, die sich verkapselt hatte, diagnostiziert.

Die körperlichen Probleme sind nicht die einzigen Folgen der traumatischen Hafterlebnisse. Bis heute ist es Annemarie in großen Menschenansammlungen immer wichtig, den Ausgang im Blick zu haben. Auch wird sie von Albträumen geplagt.

Verena wächst unterdessen im Gesellschaftssystem der DDR auf. Über ihren Vater weiß das Mädchen gar nichts, auch wenn ihr stets versichert wird, dass er existiere. Aus Angst vor den möglichen Konsequenzen, sollte Verena in der Öffentlichkeit etwas weitererzählen, schweigt Annemarie zu DDR-Zeiten über die konkreten Geschehnisse. Lediglich von ihrer Großtante erfährt Verena manchmal Bruchstücke.

Verena heiratet in den 1970er Jahren und zieht mit ihrem Mann in die Bundesrepublik. Annemarie und Heinz erhalten von den DDR-Behörden nicht die Genehmigung, der Zeremonie beizuwohnen und haben auch anschließend Schwierigkeiten, eine Besuchserlaubnis zu bekommen. Erneut ist Verena für Annemarie unerreichbar weit weg.

Gleich nach der Grenzöffnung ziehen Annemarie und Heinz zu ihrer Tochter in die Nähe von München. Doch nach zehn Jahren ist die Sehnsucht nach der Heimat zu groß und sie kehren zurück in Annemaries Elternhaus in Thum.

Ihre Jugendliebe Maksim sieht Annemarie nie wieder. Verena, die mittlerweile über ihren Vater in Kenntnis gesetzt wurde, stellt 1999 Nachforschungen beim Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes an. Sie erfährt, dass Maksim am 20. Dezember 1948 zu einer Freiheitsstrafe von 25 Jahren verurteilt wird, die er im Zwangsarbeitslager Ust-Omtschug im Gebiet Magadan verbüßen muss. Nach zehn Jahren wird Maksim am 18. Januar 1958 vorzeitig entlassen und sein Eintrag im Strafregister gelöscht. Mehr ist zunächst nicht herauszufinden.

2004 startet Verena einen weiteren Versuch und bewirbt sich beim Format »Die letzte Hoffnung« des ZDF, der Verenas Suchmeldung in Kooperation mit dem russischen Fernsehsender ORT ausstrahlt. Mit Erfolg. Maksims Familie, die heute in der Nähe von Moskau lebt, meldet sich auf die Suchanzeige.

Verena fliegt in die russische Hauptstadt, um sie kennenzulernen. Nicht nur, weil das Treffen in großem Stil medial verfolgt wird, ist die Zusammenkunft emotional überwältigend. Verena, die ihr ganzes bisheriges Leben Einzelkind war und jahrelang Vater und Mutter vermisst hatte, sieht sich plötzlich elf Halbgeschwistern gegenüber, die sie herzlich empfangen.

Seine spätere Frau, eine Russin, lernt Maksim im Straflager kennen. Nach der Entlassung bekommt das Ehepaar neun Söhne und zwei Töchter. Doch schon 1990 verstirbt Maksim an Blutkrebs. Er war zum Zeitpunkt des Reaktorunfalls von Tschernobyl zufällig am Unglücksort, da er sich auf der Durchreise in seine alte Heimat Moldawien befunden hatte.

Trotz ihrer großen Angst vor engen Räumen fliegt Annemarie 2006 gemeinsam mit Verena und Heinz in die Republik Moldau. Nun lernt auch sie Maksims Familie kennen und besucht das Grab, das sein Abbild ziert. Sie erfährt, dass Maksim ebenfalls nach ihrem Verbleib geforscht hatte. Doch seine Bemühungen hatten zur Folge, dass er beruflich degradiert wurde. Annemarie und Verena halten die Verbindung aufrecht, auch wenn gegenseitige Besuche seit der Corona-Pandemie schwieriger geworden sind.

1991 wird Annemarie durch die Oberste Militärstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation in Moskau rehabilitiert. Sie ist bis 2013 aktiv im Hohenecker Frauenkreis, wird 2014 Mitglied der Chemnitzer Bezirksgruppe der VOS und besucht regelmäßig das Bautzen-Forum. Mit etlichen Zeitzeugeninterviews unterstützt sie Einrichtungen wie den Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis e.V.

Annemarie und Heinz leben heute noch in Thum. 2021 feierten sie gemeinsam ihren 90. Geburtstag. Die Erinnerung an Verenas Vater, an Annemaries Jugendliebe, begleitet sie stets.

»Ich war eben jung und dumm und unerfahren. Ich war glücklich, war verliebt, die Welt war offen und der Krieg vorbei. Dafür verbrachte ich die ganze Jugend im Gefängnis.«