Ingeburg Kopp

Ingeburg Kopp

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»Ich fühle bis heute eine Unterlassungsschuld.«

Ingeburgs Vater Fritz Wenzel wird am 3. März 1894 in Rübeland geboren. Die kleine Ortschaft der Stadt Oberharz am Brocken, die im Flussbett der Bode liegt, ist seit Entdeckung der Baumannshöhle im 16. Jahrhundert überregional bekannt. Schon früh sind sich die Rübeländer Einwohner des touristischen Potenzials dieses Naturwunders bewusst und bieten Besuchern organisierte Führungen durch die Tropfsteinhöhle an. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird mit der Hermannshöhle ein weiteres Höhlensystem im gegenüberliegenden Bergmassiv entdeckt, das die Popularität Rübelands festigt.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts sind die meisten männlichen Einwohner im Kalkwerk oder in der Eisenverhüttung beschäftigt, so auch Fritz‘ Vater. Die Familie Wenzel bewohnt ein betriebseigenes Haus im Dorfkern, wo Fritz‘ jüngere Geschwister zur Welt kommen.

Fritz besitzt musikalisches Talent, das er im Geigenspiel und Gesang ausübt, und gewinnt Preise beim Turnen an Geräten und Ringen. Seine schulischen Begabungen kann er aufgrund fehlender Bildungseinrichtungen in der näheren Umgebung nicht weiter ausbauen. Nach Abschluss der achten Klasse erlernt er deshalb den Beruf des Modelleurs im Hüttenbetrieb und fertigt die kunstvollen Verzierungen gusseiserner Öfen an. Weil ihn Gedanken zur Selbständigkeit bewegen, besucht er parallel die Handelsschule und absolviert eine kaufmännische Ausbildung.

Als junge Männer werden Fritz und sein Bruder als Teil des Hannoverschen Jäger-Bataillons Nr. 10 ausgebildet und anschließend als Solda ten im Ersten Weltkrieg eingesetzt. Beide erleiden im Kampf gegen die alliierten Streitkräfte eine Verwundung. Der Bruder verstirbt im Lazarett.

Fritz‘ Verletzungen sind weniger schwer. Die Schusswunde am Fuß wird zwar nur unzureichend versorgt, heilt aber schnell genug aus, um ihn erneut einsatzfähig zu machen. So wird er in den letzten Kriegsjahren nach Hamburg abkommandiert, um gegen die Aktivitäten des Spartakusbundes vorzugehen, einer Vereinigung von radikalen Pazifisten und Sozialisten, die im Umkreis von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg entsteht und den Kern der späteren Kommunistischen Partei (KPD) bildet. Im südlich von Hamburg liegenden Fleestedt lernt Fritz seine spätere Frau Dora kennen und nimmt sie nach der Hochzeit 1920 mit in seine Heimat.

Die politische Instabilität der Weimarer Republik und große soziale Not, geboren aus der Inflation, den Entbehrungen und Verlusten im Ersten Weltkrieg und den harten Bedingungen des Versailler Vertrages, kennzeichnen den Beginn der 1920er Jahre. In Rübeland schließt die Eisenhütte, womit deren gesamte Belegschaft arbeits- und orientierungslos auf der Straße sitzt.

Fritz Wenzel lässt sich von der schwierigen Lage nicht einschüchtern und setzt stattdessen wagemutig ein großes Projekt um: Er kauft das Gelände der ehemaligen Werkskantine und richtet darin ein Restaurant ein, das sich schnell etablieren kann. Das Restaurant liegt unmittelbar neben dem Eingang der Hermannshöhle. Zwischen den beiden Gebäuden des Restaurants befindet sich die große Felsengrotte eines ehemaligen Marmor-Steinbruchs, die Anziehungspunkt der »Höhlen-Schenke« wird. Von nun an stecken Ingeburgs Eltern ihre gesamte Schaffenskraft in deren Erhalt und Ausbau.

Am 4. Dezember 1929 kommt Ingeburg zur Welt. Als Einzelkind wächst das Mädchen eng verbunden sowohl mit sei nen Eltern Fritz und Dora Wenzel als auch mit den Restaurantangestellten auf. Früh lernt sie, mit anzu packen. Zu ihrem Vater pflegt Ingeburg ein besonders herzliches Verhältnis und begleitet ihn bei seinen handwerklichen Tätigkeiten helfend und lernend.

Fritz Wenzel ist ein beliebter Ansprechpartner im Ort und setzt sich engagiert für die Belange der Rübeländer ein. Durch seine Leidenschaft für das Fotografieren dokumentiert er besondere Anlässe für die Dorfchronik oder private Feierlichkeiten der Einwohner. Finanziell lohnend für Rübeland ist der Bau einer künstlichen, leicht zugänglichen Verbindung zur Baumannshöhle, den Fritz Wenzel in seiner Funktion als Gemeinderatsmitglied initiiert, und der die Besucherzahlen deutlich erhöht.

»Wenn jemand in Not war, kam er zu meinem Vater oder meiner Mutter. Bei ihnen konnte man sein Herz ausschütten.«

Foto von Fritz Wenzel und Ingeburg, 1935

Fritz Wenzel und Ingeburg, 1935

Schon 1920 übernimmt Fritz Wenzel das Amt des stellvertretenden Bürgermeisters von Rübeland. Während er mehr als zehn Jahre parteilos bleibt, tritt er in den 1930er Jahren in die NSDAP ein, überzeugt von deren Parteipolitik. Besonders wegen der sozialpolitischen Maßnahmen und außenpolitischen Erfolge erfreut sich das NS-Regime nach seiner Machtübernahme 1933 wachsender Zustimmung in der deutschen Bevölkerung.

Adolf Hitler hat jedoch noch weitaus größere und folgenreichere Pläne, welche die gewaltsame Eroberung von »Lebensraum im Osten« betreffen. Mit dem Überfall auf Polen beginnt das nationalsozialistische Deutschland am 1. September 1939 den Zweiten Weltkrieg und Millionen deutscher Männer werden zum Kriegsdienst eingezogen.

Fritz Wenzel muss aufgrund seiner alten Kriegsverletzung nicht erneut an die Front. Das Geschoss, das ihn während des Ersten Weltkriegs am Fuß traf, ist im Laufe der Jahre hinauf bis in den Oberschenkel gewandert und eine operative Entfernung der Kugel kann die Amputation des Beins nur knapp verhindern. Auf einer Europakarte verfolgt Fritz Wenzel den Verlauf der Kriegsfronten mit kleinen bunten Stecknadeln, die, wie Inge besorgt wahrnimmt, immer näher aufeinander zukommen.

Eindrücklich erinnert sich die damals 13-Jährige an einen Herbsttag des Jahres 1943. Fritz Wenzel nimmt seine Tochter mit auf eine angebliche Waldwanderung in Richtung Baustelle der Rappbode-Talsperre, die südöstlich von Rübeland gelegen ist. Nach einem ausgiebigen Fußmarsch gelangen sie zu einer etwas erhöht gelegenen Lichtung, von der aus sich ein verdeckter Blick auf zahlreiche Baracken und Arbeiter in seltsamer Bekleidung ergibt.

Ingeburgs Vater nimmt ihr das Versprechen ab, jedem gegenüber absolutes Stillschweigen zu bewahren, und erklärt ihr dann, dass sie heimlich ein Arbeitslager des KZ Buchenwald beobachten. Unter aufwendigen und riskanten Nachforschungen habe er herausgefunden, dass ein guter Bekannter sich hier in Haft befinden müsse. Während Fritz Wenzel die Szenerie lange durch sein Fernglas betrachtet, hält Ingeburg Wache. Jedes kleine Knacken im Unterholz, vielleicht nur von einem vorbeihuschenden Tier verursacht, lässt ihr Herz vor Aufregung schneller schlagen.

»Ich hatte das Gefühl, plötzlich erwachsen, würdig zu sein, und in etwas, wenn auch für mich Unbegreifliches, eingeweiht zu werden.«

1944 wird Fritz Wenzel in die Niederlande kriegsdienstverpflichtet, wo es seine Aufgabe ist, Befestigungsanlagen und die Einhaltung der nächtlichen Ausgangssperren zu kontrollieren. In seinem kurzen Heimaturlaub unterbreitet er Ingeburgs Mutter aufgebracht, er müsse aus der Partei austreten, da sie ihren Idealen nicht mehr entspreche und er Zeuge moralischer Vergehen von Parteimitgliedern geworden sei.

Dora Wenzel beschwichtigt Fritz, denn durch die im Höhlenrestaurant stattfindenden Parteiversammlungen weiß sie vom harten Vorgehen der NSDAP gegenüber Zweiflern. Aus Angst vor Konsequenzen, die mit KZ-Haft oder sogar der Erschießung geahndet werden, verzichtet Fritz Wenzel auf seine Widerstandshandlung.

Ingeburgs Kindheit und frühe Jugend sind stark vom Krieg geprägt. Nach ihrer Grundschulzeit in Rübeland besucht sie die Oberschule für Mädchen in der Kreisstadt Blankenburg. 1943 wird das Schulgebäude allerdings im Zuge der Ausweitung und Untertageverlagerung der deutschen Rüstungsindustrie beschlagnahmt, woraufhin die Mädchen im wöchentlichen Wechsel mit den Jungen vormittags oder nach mittags in deren Oberschule gehen.

Etwa fünfzehn Kilometer muss Ingeburg für ihren Schulweg zurücklegen. Manchmal geht sie die Strecke zu Fuß, wenn die Züge wegen eines Fliegeralarms ausfallen. Für die Rübeländer sind ihre Höhlen nun Zufluchtsorte, die sie häufig aufsuchen müssen, denn die Bombenangriffe der alliierten Truppen zielen auf die zahlreichen nahegelegenen Außenlager der NS-Organisation Todt ab, in denen die untertägige Rüstungsproduktion vorbereitet wird.

In der Endphase des Zweiten Weltkriegs erreichen große Flüchtlingsströme den Harz, die vor der aus Osten herannahenden Front zurückweichen. Für Ingeburg, die mittlerweile die 9. Klasse besucht, findet der Schulbetrieb Anfang des Jahres 1945 ein Ende. Die Oberschule wird Auffangstätte für eine große Zahl Menschen, die es vor allem mit Hilfe der Hitlerjugend zu versorgen gilt. Die Jungen beschaffen Stroh für die Nachtlager und Lebensmittel, die Mädchen bereiten Speisen und Getränke zu und versorgen Babys und Kinder.

Foto von Ingeburg in der Kleidung des Jungmädelbunds, 1943

Ingeburg in der Kleidung des Jungmädelbunds, 1943

Die Flüchtlinge berichten von schlimmen Erlebnissen auf ihrem Weg, doch die Hitlerjugend glaubt noch unbeirrt an den Sieg der deutschen Wehrmacht. Auch Ingeburg ist wie ihre Klassenkameradinnen ein »Jungmädel« und ihre Erziehung von der nationalsozialistischen Ideologie geprägt.

Erste Bedenken stellen sich ein, als die Gasträume des Höhlenrestaurants von zurückflutenden Wehrmachtstruppen für eine kurze Übernachtung auf dem Fußboden genutzt werden. Die Soldaten ziehen am nächsten Morgen schnellstmöglich weiter, um einer Kriegsgefangenschaft zu entgehen.

»Spätestens jetzt bekam ich Zweifel, ob die Wunderwaffe, die uns zum sogenannten Endsieg führen sollte, nicht zu spät käme.«

In der Nacht zum 18. April 1945 wird Ingeburg von Schüssen aus dem Schlaf gerissen. Granatsplitter treffen ihr Schlafzimmer und ein Geschoss schlägt direkt in das Nachtschränkchen neben ihrem Bett ein. Die Familie flieht vor dem Angriff der US-Armee in die Baumannshöhle, deren Eingang neben ihrer Wohnung liegt und in der sich schon viele Rübeländer eingefunden haben.

Als der Beschuss gegen Mittag stoppt, unternehmen Ingeburg und ihr Vater den Versuch, die Lage von dem am Hang gelegenen alten Eingang der Höhle aus zu überprüfen. Plötzlich schlägt neben Ingeburg eine weitere Kugel ein und Vater und Tochter flüchten zurück in den Schutz der Baumannshöhle.

Die US-amerikanischen Truppen nehmen das ungewöhnlich menschenleere Dorf ein und fordern dessen Einwohner am Nachmittag schließlich auf, ihr Versteck zu verlassen. In den offenen Fenstern ihrer Wohnung hocken bereits GI, die mit schief sitzendem Helm und lässig Kaugummi kauend herausschauen, also geht Ingeburg mit ihren Eltern weiter bis zum Höhlenrestaurant. Mit Schrecken sieht sie am Straßenrand beschädigte Häuser und Fahrzeuge. Auch das Restaurant ist bereits von Soldaten in Beschlag genommen.

Ingeburg übersetzt die Aufforderung eines amerikanischen Offiziers, um Mitternacht Schutz im Felsenkeller zu suchen, da zu diesem Zeitpunkt die deutsche Wehrmacht vom Nachbarort aus angreifen werde, um Rübeland zurückzuerobern. Tatsächlich wird der Ort um null Uhr von deutschen Truppen angegriffen, während die Einwohner unter dem Schutz der US-Armee stehen.

Schon kurze Zeit darauf ziehen die amerikanischen Truppen ab und überlassen Rübeland der britischen Besatzung. Mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht endet der Zweite Weltkrieg am 8. Mai 1945.

Das Höhlenrestaurant bleibt für mehrere Monate Stützpunkt und Verpflegungsstelle des britischen Militärs. Durch ihre Aufgabe als »Dolmetscherin« hat Ingeburg engen Kontakt zu Offizieren und Soldaten, und das Zusammen leben mit den Besatzern wird mehr und mehr zur Normalität. Als ihre Eltern die Silberne Hochzeit begehen, überreicht ihnen der britische Küchenchef zu diesem Anlass sogar eine kulinarische Gabe.

Im August 1945 ändert sich die Lage allerdings umfassend. Es wird bekannt, dass die sowjetische Militäradministration SMAD das Gebiet übernimmt, weil es der sowjetischen Besatzungszone SBZ zugehört. Bei den Vorbereitungen ihres Abzugs legen die britischen Offiziere der Familie Wenzel mehrfach eindringlich nahe, mit ihnen zu kommen.

Mehrere junge Rübeländer ergreifen vor dem Hintergrund der Gerüchte über Zerstörungen, Plünderungen und Vergewaltigungen durch sowjetische Soldaten die Flucht und wandern in die Besatzungszonen der westlichen Alliierten ab. Angesichts ihrer Verwandtschaft im Raum Hamburg und Braunschweig erscheint das Fortgehen der Familie Wenzel ebenfalls nicht abwegig.

»Aber meine Eltern brachten es nicht fertig, einfach wegzugehen. Sie hätten ihr Lebenswerk zurück lassen müssen.«

Für Fritz Wenzel kommt es nicht infrage, sein mühsam aufgebautes Höhlenrestaurant aufzugeben. Zudem ist er der Überzeugung, sich angesichts seiner Parteimitgliedschaft keines Verbrechens schuldig gemacht zu haben. Man entschließt sich, in Rübeland zu bleiben und die Entwicklungen abzuwarten.

Nach Ankunft der sowjetischen Militäradministration kehrt im Dorf zunächst ein vorsichtiger Alltag ein. Bis der Schulbetrieb wieder aufgenommen wird, erhält Ingeburg Unterricht von einem pensionierten Lehrer in Blankenburg. Fritz Wenzel hat am Ortsausgang von Rübeland einen Garten neu angelegt. Er verbringt viel Zeit damit, den kargen Boden in Beete zu verwandeln.

So auch am Mittag des 11. September 1945, als ein Hilfspolizist die Gaststube des Höhlenrestaurants aufsucht. Der junge Mann mit der roten Armbinde trägt eine Namensliste bei sich und beauftragt Ingeburg, umgehend den Vater darüber zu benachrichtigen, dass gegen 14 Uhr mehrere Verhaftungen stattfinden werden. Ingeburg fühlt sich von der Warnung völlig überrumpelt, kann dem Mann aber noch entlocken, dass nicht nur Fritz Wenzels Name auf dem Blatt Papier steht, sondern auch der eines engen Freundes der Familie, der in Rübeland als Schulleiter, Kantor und Leiter mehrerer Chöre beliebt ist. Ingeburg gibt ihrer Mutter Bescheid und eilt zu ihrem Vater, der im Garten gerade das Spinatbeet bestellt.

»Ich werde es nie vergessen. Mein Vater drehte sich zu mir, ganz gelassen, und antwortete freundlich, es könne sich nur um ein Verhör handeln, keinesfalls würde er fliehen oder sich verstecken.«

Welchem Zweck die Befragung dienen soll und wer deren Initiator ist, weiß Fritz Wenzel zu diesem Zeitpunkt vermutlich gar nicht. Dass die sowjetische Geheimpolizei schon seit Kriegsende in der SBZ eine regelrechte Verhaftungswelle ausgelöst hat, die formell der Entnazifizierung der deutschen Bevölkerung dient, ist noch nicht bis nach Rübeland vorgedrungen. Fritz Wenzel trägt seiner Tochter auf, den Familienfreund zu informieren und etwas Brot zu besorgen. Anschließend soll Ingeburg in den Garten zurückkehren und das Spinatbeet fertigstellen.

Mit dieser Anweisung, der sie Folge leistet, verhindert Ingeburgs Vater, dass die 15-Jährige seine Verhaftung mit eigenen Augen sieht. Zeitzeugen berichten, etliche Rübeländer seien mit erhobenen Händen von deutschen Einsatzkräften bis zum Gemeindebüro geführt, dann stehend auf der offenen Ladefläche eines Lkw verfrachtet und anschließend abtransportiert worden. Der Familienfreund soll die Männer veranlasst haben, zum Abschied ihr Harzer Heimatlied zu singen.

»Das war der Beginn des Leidenswegs in die absolute Isolierung, für die meisten jedoch der Weg in den Tod.«

Zunächst ist die Sorge um die Verhafteten nicht übermächtig. Niemand kann sich vorstellen, dass eine solch große Gruppe länger als ein, zwei Tage in Gefangenschaft bleibt. Die Rübeländer werden in die NKWD-Kommandantur in der damaligen Kaiserstraße in Blankenburg gebracht. Das spricht sich schnell herum und Ingeburg kundschaftet die besetzte Villa am Eingang der Stadt aus. Tatsächlich entdeckt sie ihren Vater hinter einem der Kellerfenster.

Von da an bringt sie in einem Essensträger Brot oder gekochte Kartoffeln mit und versucht, versteckt vor den sowjetischen Wach posten, den Behälter vom Fußweg aus mit einem langen Stock bis zum entsprechenden Kellerfenster zu schieben. Zwei oder drei Mal glückt es ihr, nicht nur die Lebensmittel, sondern auch einen beschriebenen Zettel in die Zelle ihres Vaters zu schmuggeln, und sie erhält Antwort.

Foto des Kassibers von Fritz Wenzel an seine Familie, datiert auf den 1. Oktober 1945

Kassiber von Fritz Wenzel an seine Familie, datiert auf den 1. Oktober 1945

Als die Gefangenen ins Stadtgefängnis überführt werden, findet Ingeburg auch diesen neuen Aufenthaltsort schnell heraus. Wie viele andere Angehörige sucht sie wiederholt die Blankenburger Haftanstalt auf und läuft vor dem Gebäude am Tummelplatz so lange auf und ab, bis ihre Geduld belohnt wird und sie ihren Vater sichten kann. Heimliche Botschaften auszutauschen gelingt nun nicht mehr.

Eines Tages sind die Gefangenen verschwunden und ihr Weg verliert sich zunächst für Ingeburg und Dora Wenzel. Fritz Wenzel wird jetzt im »Roten Ochsen« festgehalten.

Das Gefängnis in Halle an der Saale wird von der sowjetischen Besatzungsmacht ab Juli 1945 als Untersuchungsanstalt und Gerichtsgebäude genutzt. Sie setzt ihre Rechtsauffassung mit Hilfe von Militärgerichtsverfahren, den sowjetischen Militärtribunalen (SMT), gegen Tausende Gefangene durch und deportiert die Mehrzahl weiter in Speziallager auf deutschem Boden und in sowjetische Zwangsarbeitslager.

Am 27. Oktober 1945 wird Fritz Wenzel in das sowjetische Speziallager Nr. 1 Mühlberg eingeliefert. Obwohl das Speziallager über zahlreiche Sicherheitsmaßnahmen verfügt, mit denen das NKWD seine Häftlinge vollkommen von der Außenwelt zu isolieren anstrebt, bringt Ingeburgs Vater es ein weiteres Mal zustande, seiner Familie eine Nachricht zukommen zu lassen. Seine Zeilen schreibt er auf den Abriss eines Notenblatts.

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Kassiber von Fritz Wenzel aus dem Speziallager Mühlberg mit dem Wortlaut: »Ich bitte um herzl. Gruß an Dora + Inge + grüße auch Dich herzlich / Fritz / Es geht mir gut! / Wie sieht es zu Haus aus«

Für die Zurückgebliebenen stürzt die bisherige Lebenswelt zusammen. Die sowjetische Militäradministration beschlagnahmt nicht nur alle Konten und das Höhlenrestaurant, das Familie Wenzel beim Fortgang des britischen Militärs nicht aufzugeben bereit war, es bestätigen sich nun auch die vorhergegangenen Gerüchte über Plünderungen und Enteignungen. Russische Lkw ziehen durch Rübeland und Soldaten räumen scheinbar wahllos Wertgegenstände aus den Wohnungen der verhafteten Männer.

Im Haushalt der Familie Wenzel entwenden sie unter anderem das große Wohnzimmerbüfett, alle Möbelstücke mit Spiegeln und Ingeburgs Bett, das goldfarbene Füße und eine ebensolche Umrandung hat. Mit Glück kann sie das große Puppenhaus retten, das ihr Vater einst für sie gebaut hat. Eine befreundete kommunistische Familie holt es noch in der Nacht vor den Beschlagnahmungen ab, um es zu verstecken.

»Alles, was wir besaßen, war verloren. Wir hatten hier nichts mehr zu sagen.«

Mit dem Bild eines gerechten, ehr baren und beliebten Menschen im Kopf, kann Ingeburg nicht fassen, dass es eine Rechtfertigung für Fritz Wenzels Inhaftierung geben soll. Tatsächlich dienen die Festnahmen, denen viele Rübeländer zum Opfer fallen, vor allem der präventiven Festsetzung möglicher Feinde der sowjetischen Besatzungsmacht. Sie gehen auf verschiedene NKWD-Befehle zurück, insbesondere den Befehl Nr. 00315 vom 18. April 1945, der Verhaftungskategorien festlegt.

Dora Wenzel nimmt Verbindung zu verschiedenen einflussreichen Personen auf und bemüht sich, die Freilassung ihres Mannes zu erreichen. Auch der wiedereingesetzte sozialdemokratische Bürgermeister und der Landrat beantragen mit schriftlichen Eingaben bei der sowjetischen Kommandantur die Entlassung der verhafteten Rübeländer. Keine der Initiativen zeigt Erfolg. Ingeburg drängt ihre Mutter, zum Lager Mühlberg fahren zu dürfen, um vor Ort vielleicht etwas erwirken zu können, aber Dora Wenzel verbietet es ihr eindringlich.

»Obwohl ich jetzt weiß, dass ich nichts hätte ausrichten können, fühle ich bis heute ei ne Unterlassungsschuld.«

Die 16-Jährige rückt eng an die Seite ihrer Mutter und versucht sie bestmöglich zu unterstützen, indem sie viele der Aufgaben übernimmt, die ihrem Vater oblagen. In dem zeitweise nicht bewirtschafteten Höhlenrestaurant werden 1946 zwei Klassenräume eingerichtet und Dora Wenzel findet Arbeit in der zugehörigen Schulspeisung, die in der ehemaligen Winterküche des Höhlenrestaurants kocht.

Ingeburg möchte ihre Schulausbildung fortsetzen, doch aufgrund der Inhaftierung ihres Vaters verweigert man ihr die Wiederaufnahme in die Oberschule. Ingeburg ist ratlos, denn sie hegt schon seit vielen Jahren den Wunsch, zu studieren. So entschließt sie sich, zunächst ihren Abschluss der Mittleren Reife auf der Mittelschule in Elbingerode zu machen, und beginnt dann 1946 ein unbezahltes Praktikum im Krankenhaus von Wernigerode, um sich für die Ausbildung als medizinisch-technische Assistentin zu qualifizieren. Weil akuter Personalmangel vorherrscht, erwirbt Ingeburg in ihrem Praxisjahr umfassende Kenntnisse.

Anschließend bewirbt sie sich mit ihrem sehr guten Zeugnis und der wohlwollenden Beurteilung des Wernigeröder Krankenhauses an der Fachschule in Halle. Doch bei einer persönlichen Vorsprache wird ihr deutlich vermittelt, dass sie als Kind eines politischen Häftlings kein Recht auf eine Ausbildung habe.

Eine glückliche Wendung ihrer Misere ergibt sich im Juni 1947. Ingeburg wird von ihrem Freund zu dessen Abiturientenball nach Wernigerode eingeladen und an diesem Abend dem Direktor der Erweiterten Oberschule (EOS) vorgestellt. Der ehemalige Deutschlehrer ist aufgrund des Fachkräftemangels wiedereingesetzt worden und gilt als entnazifiziert. Nach Einsicht in ihre Zeugnisse nimmt er Ingeburg im September 1947 eigenverantwortlich in die Abiturstufe der EOS Wernigerode auf. Mit Fleiß nutzt sie die ihr gebotene Chance und kann gute Leistungen erzielen.

Im August 1948 passiert Unerwartetes. Dora Wenzel begegnet in Rübeland einem der gemeinsam mit ihrem Ehemann verhafteten Männer. Er ist soeben aus dem Speziallager Mühlberg entlassen worden, das sich im Herbst 1948 gerade in der Auflösung befindet. Der Mann verspricht Dora Wenzel, Fritz kehre ebenfalls in Kürze heim.

»Diese Freude, diese Erwartung!«

Doch Fritz Wenzel kann überhaupt nicht nach Hause kommen, weil er bereits am 31. Dezember 1946 im Speziallager Mühlberg verstorben ist. Erst nach mehreren Tagen des hoffnungsvollen Wartens erfahren Ingeburg und Dora Wenzel die schreckliche Wahrheit, als ein anderer ehemaliger Häftling Courage zeigt und ihnen die Todesnachricht überbringt. Die vorhergegangene, irritierende Falschmeldung ist der Schweigepflicht geschuldet, die von den sowjetischen Offizieren bei den Entlassungen aus dem Speziallager verhängt wird und bei den ehemaligen Gefangenen für die Ausbreitung großer Ängstlichkeit und Vorsicht sorgt.

Obwohl ihr Vater also bereits seit anderthalb Jahren tot ist, bereitet seine politische Verfolgung und Inhaftierung durch die sowjetische Besatzungsmacht Ingeburg nach wie vor große Probleme. Um ihre Hochschulreife zu erlangen, muss sie gemeinsam mit ausgewählten Schülern, die dem kommunistischen Regime ein Dorn im Auge sind, zunächst noch eine sogenannte gesellschaftspolitische Prüfung bestehen. Anschließend darf sie als Jahrgangsbeste der Schule sogar die Abschlussrede halten.

»Aber ich bekam keinen Studienplatz. Jetzt ging das wieder los. Die gleichen Argumente ließen nicht einmal eine Bewerbung zu einem Studium zu.«

Trotz ihrer sehr guten Noten in den Wunschfächern Mathematik und Physik erhält Ingeburg keine Möglichkeit, zu studieren. Sie muss ihre Zukunftspläne komplett umstellen. In der Hoffnung, ihre Mutter könne perspektivisch das beschlagnahmte Höhlenrestaurant zurückerhalten, entschließt sie sich zu einer Ausbildung als Hotelkauffrau. Ingeburgs zugewiesene Ausbildungsstätte wird ausgerechnet das Hotel »Heinrich Heine« in Schierke, wo ausschließlich Regierungsvertreter der neugegründeten DDR ein- und aus gehen. Nicht zuletzt dank ihrer umfangreichen Vorkenntnisse im gastronomischen Bereich macht sie den Abschluss der Berufsausbildung mit Auszeichnung.

Das Höhlenrestaurant ist unterdessen als Betrieb der Handelsorganisation (HO) verstaatlicht worden. Ihre Mutter arbeitet dort als Küchenleiterin und Ingeburg gelingt es, die Betriebsleitung zu übernehmen. Doch das Arbeitsumfeld, das nun planwirtschaftlichen Vorgaben folgt, hat sich verändert. Nach einem schweren Unfall bei den Rübeländer Höhlenfestspielen entschließt sich Ingeburg, aus dem Höhlenrestaurant auszuscheiden. Weil zu diesem Zeitpunkt auch ihre Mutter in Rente gegangen ist, fällt es Ingeburg etwas leichter, das Höhlenrestaurant 1961 für immer zu verlassen.

Sie orientiert sich beruflich neu und nimmt in Elbingerode eine Stelle als Lohnbuchhalterin im Konsum an. Zweimal noch versucht sie, einen Studienplatz im Lehrerseminar zu bekommen, wofür sie ein Praktikum im Kindergarten absolviert. Trotzdem wird sie wieder mit der Begründung vertröstet, alle Plätze seien bereits besetzt.

Zu dieser Zeit ist Ingeburg bereits seit fünf Jahren verheiratet. Ihr Mann Wolfgang Reichel ist Geologe, der 1951 von Dresden nach Rübeland zieht, um im Auftrag der DDR-Regierung und der Bergakademie Freiberg eine geheime Untersuchung in der nahegelegenen Schwefelkiesgrube durchzuführen. Als erstes Paar heiraten die begeisterten Höhlenforscher 1956 an dem Tropfsteingebilde der »Kanzel« in der Hermannshöhle.

Wolfgang und Ingeburg Reichel unternehmen mehrere Forschungsreisen ins sogenannte nichtsozialistische Ausland und pflegen ein Netzwerk mit den dortigen Höhlenkundlern. Ingeburg bringt 1959 ihren ersten Sohn Ingolf zur Welt und nimmt 1962 die vierjährige Annelie in die Familie als Pflegekind auf, das sie 1964 adoptieren darf. Beide Kinder besuchen den Kindergarten in der Nähe von Ingeburgs Arbeitsstelle in Elbingerode.

Eines Morgens im Jahr 1962 fährt der Rübeländer Ortspolizist mit in dem Bus, der sie und die Kinder in die etwa sechs Kilometer entfernte Stadt bringt. Ingeburg wundert sich, dass der Mann sie nicht aus den Augen lässt. Kurz darauf wird sie direkt an ihrem Schreibtisch verhaftet.

Während zwei MfS-Beamte Ingeburg nach Wernigerode befördern, um sie dort einem stundenlangen Verhör zu unterziehen, stellen andere die Wohnung der Familie Reichel auf den Kopf. Alle Schränke werden durchwühlt und die Inhalte der Schubkästen auf dem Fußboden ausgeleert. Man konfisziert Dokumente, umfangreiche Adresskarteien und Fotos, darunter auch alte Aufnahmen von Ingeburgs mittlerweile verstorbenen Mutter. Nichts davon wird sie wieder zurückerhalten. Erst gegen Mitternacht entlässt man Ingeburg ergebnislos.

Ob ihre Kontakte zur Westverwandtschaft oder zu den internationalen Höhlenforschern ein Problem für die Staatssicherheit darstellen, bleibt rätselhaft, und auch der Inhalt der Vernehmung lässt keine Rückschlüsse darauf zu. Umso schwerer wiegt die Peinlichkeit ihrer Festnahme vor den Augen der Kollegen. Für Ingeburg ist es schwierig, jemanden davon zu überzeugen, dass sie nichts verbrochen hat.

»Dann meinten sie: ›Umsonst wird doch hier keiner abgeholt!‹«

Ein Anruf bringt erneute Wendung in ihr Leben. Das Reisebüro in Wernigerode, mit welchem Ingeburg oft zu tun hatte, wenn deren Reisegruppen bei Harz-Rundfahrten im Höhlenrestaurant einkehrten, fragt an, ob sie spontan als Ersatz für einen kranken Reiseleiter einspringen könne. Nachdem sie dort einige Male ausgeholfen hat, entscheidet sie sich dafür, ihre Stelle aufzugeben und gänzlich für das Reisebüro zu arbeiten.

Ingeburg hat Freude an der Arbeit, denn sie organisiert, kalkuliert und begleitet die verschiedensten Fahrten und kann sich umfangreich weiterbilden. Obwohl mehrere Mitarbeiter treue Parteigenossen der SED sind, räumt man ihr viele Freiheiten und eine gute Stellung innerhalb des Büros ein. Absolut konträr zu den Repressionen, die Ingeburg auf ihrem Bildungsweg erleiden musste, erteilt man vorzugsweise ihr ausgewählte Aufträge, bei denen sie sowohl Gäste aus den kapitalistischen Ländern als auch Regierungsvertreter der sozialistischen Staaten zu markanten Stätten der DDR begleitet. Dabei genießt sie nicht selten den gleichen Luxus wie die prominenten Reisegäste.

Ihre vielseitigen Erfahrungen und ihr guter Leumund im Dorf bieten Ingeburg die Möglichkeit, beruflich auf verschiedenen Gebieten auszuhelfen. Zwischenzeitlich übernimmt sie auch die Position der Sprechstundenhilfe bei der Ärztin in Rübeland.

Nach der Geburt ihres zweiten Sohnes Peter fällt Ingeburg allerdings in eine tiefe Krise. Ihre Ehe scheitert, und während Wolfgang Reichel sich beruflich oft im Ausland aufhält, wird Ingeburg schwer krank und steht vor einer heiklen Operation, deren Missglücken sie fürchtet. In dieser Situation ist Ingeburgs Schwiegermutter in Dresden ihr eine große Stütze und verweist sie an den in ihrer Nähe befindlichen Heil- und Chiropraktiker Konrad Kopp.

Tatsächlich verhilft ihr der deutlich ältere Witwer nicht nur, ohne medizinischen Eingriff vollständig zu genesen, sondern wird später auch der neue Mann an ihrer Seite. 1969 zieht Ingeburg von Rübeland nach Dresden und heiratet Konrad Kopp drei Jahre später. Zwei Jahrzehnte lang arbeitet sie mit in der Naturheilpraxis ihres Mannes. Die Überwachung durch das MfS lockert sich jedoch durch den Ortswechsel nicht, im Gegenteil.

»›Verdächtig‹ waren wir vermutlich, weil in unserer Naturheilpraxis auch Ärzte, Musiker und andere Persönlichkeiten behandelt wurden.«

Wie Ingeburg erst sehr viel später erfährt, ist einer der langjährigen Patienten ihres Mannes hauptamtlicher Stasi-Mitarbeiter. Die Methoden der Staatssicherheit machen auch vor der Folgegeneration nicht Halt. 1982 wollen MfS-Beamte Ingeburgs minderjährigen Sohn zu einer Mitarbeit überreden, doch er weigert sich ausdrücklich.

In der Konsequenz beantragt das Ehepaar Kopp 1985 die Ausreise aus der DDR. Es ist eine Entscheidung, welche – wie die ihrer Eltern damals – die Aufgabe von Haus und Lebenswerk bedeutet. Unter den schwierigen Bedingungen der Materialknappheit des sozialistischen Staates haben Konrad und Ingeburg Kopp ein Wohnhaus saniert. Nun verkaufen sie das Haus mit der Naturheilpraxis für einen Bruchteil seines Wertes und geben viele Gegenstände weg, um sich auf den Umzug in die Bundesrepublik vorzubereiten.

Drei Jahre lang sitzen sie auf gepackten Koffern, und obwohl sie zum Zeitpunkt der Antragstellung bereits den Rentenstatus hatten, wird ihr Fortgang erst 1988 genehmigt. Ingeburg und ihr Mann siedeln nach Rosenheim über und beginnen bei null.

»Der Mauerfall kam für mich überraschend und brachte mir – endlich! – die Befreiung aus dem großen Gefängnis DDR. So war mein Gefühl.«

Nach dem Zusammenbruch der DDR und der deutschen Wiedervereinigung wird das Höhlenrestaurant erst 1997 an Ingeburg rückübertragen und bleibt trotzdem in gewissem Sinne verloren, da mehrere Gebäudeteile abgerissen werden und das Restaurant heute nicht mehr wie in seinem ursprünglichen Zustand genutzt wird.

Mit 63 Jahren legt Ingeburg die Prüfung zur Heilpraktikerin ab und arbeitet danach in einer prominenten Praxis in München. Die Richtung, die ihr berufliches Leben mit vielen Anstrengungen genommen hat, ist für sie bis heute nur schwer zu akzeptieren und die überwiegende Ausführung von angelernten Tätigkeiten wirkt sich negativ auf ihre Rente aus. In einem Arbeitsgerichtsprozess, bei welchem sie Fehler korrigieren lassen möchte, wird Ingeburg von einer der beiden Schöffinnen gesagt, sie brauche sich nicht beschweren, sondern hätte eben studieren müssen, dann wäre auch ihre Rente besser.

Nach dem Tod ihres Mannes Konrad Kopp kehrt Ingeburg im Jahr 2000 wieder zurück nach Dresden, um am Aufwachsen ihrer Enkel teilzuhaben. Bei den Kindern ist ihr 1945 gerettetes Puppenhaus sehr beliebt. Ingeburg schließt sich der Initiativgruppe Lager Mühlberg e.V. (ILM) an und erfährt von deren Mitgliedern große Unterstützung bei der Aufarbeitung der Gefangenschaft Fritz Wenzels. Durch die nun zur Verfügung stehenden Akten aus Moskau und die Todeslisten der Speziallager wird der Weg ihres Vaters über verschiedene Haftanstalten nachvollziehbar und sein Sterbedatum bestätigt.

Schon seit 1990 nimmt Ingeburg an den jährlichen Gedenktreffen auf dem ehemaligen Lagergelände teil. Ihre Dankbarkeit für die Arbeit der ILM drückt sie mit ihrem Engagement aus, das sie bei den zahlreichen Aktivitäten der Initiativgruppe einbringt.

Ein besonderes Ereignis ist für sie die Enthüllung der Namenstafeln vor dem 2004 errichteten Hochkreuz. Die Namenstafeln ermöglichen es Ingeburg immer wieder, eine Rose als Zeichen der Verbindung und Erinnerung darauf ablegen zu können, um damit ihres Vaters und der Rübeländer Männer, die im Lager den Tod fanden, ehrend zu gedenken und selbst Trost zu finden.

Bis heute haben sich viele Freundschaften mit Mitgliedern der Initiativgruppe ergeben, unter denen Überlebende des sowjetischen Speziallagers Nr. 1 Mühlberg sind. Ihre Hoffnung, bei Begegnungen mit anderen ehemaligen Häftlingen Details zum Schicksal ihres Vaters zu erfahren, ist noch offen und wird vielleicht nicht mehr erfüllt werden.

»Aber ich stelle mir vor und fühle auch, dass jeder ehemalige Häftling, mit dem ich Kontakt haben darf, mir etwas von meinem Vater überbringt, mich mit meinem Vater verbindet.«

»Ich fühle bis heute eine Unterlassungsschuld.«

Ingeburgs Vater Fritz Wenzel wird am 3. März 1894 in Rübeland geboren. Die kleine Ortschaft der Stadt Oberharz am Brocken, die im Flussbett der Bode liegt, ist seit Entdeckung der Baumannshöhle im 16. Jahrhundert überregional bekannt. Schon früh sind sich die Rübeländer Einwohner des touristischen Potenzials dieses Naturwunders bewusst und bieten Besuchern organisierte Führungen durch die Tropfsteinhöhle an. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird mit der Hermannshöhle ein weiteres Höhlensystem im gegenüberliegenden Bergmassiv entdeckt, das die Popularität Rübelands festigt.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts sind die meisten männlichen Einwohner im Kalkwerk oder in der Eisenverhüttung beschäftigt, so auch Fritz‘ Vater. Die Familie Wenzel bewohnt ein betriebseigenes Haus im Dorfkern, wo Fritz‘ jüngere Geschwister zur Welt kommen.

Fritz besitzt musikalisches Talent, das er im Geigenspiel und Gesang ausübt, und gewinnt Preise beim Turnen an Geräten und Ringen. Seine schulischen Begabungen kann er aufgrund fehlender Bildungseinrichtungen in der näheren Umgebung nicht weiter ausbauen. Nach Abschluss der achten Klasse erlernt er deshalb den Beruf des Modelleurs im Hüttenbetrieb und fertigt die kunstvollen Verzierungen gusseiserner Öfen an. Weil ihn Gedanken zur Selbständigkeit bewegen, besucht er parallel die Handelsschule und absolviert eine kaufmännische Ausbildung.

Als junge Männer werden Fritz und sein Bruder als Teil des Hannoverschen Jäger-Bataillons Nr. 10 ausgebildet und anschließend als Solda ten im Ersten Weltkrieg eingesetzt. Beide erleiden im Kampf gegen die alliierten Streitkräfte eine Verwundung. Der Bruder verstirbt im Lazarett.

Fritz‘ Verletzungen sind weniger schwer. Die Schusswunde am Fuß wird zwar nur unzureichend versorgt, heilt aber schnell genug aus, um ihn erneut einsatzfähig zu machen. So wird er in den letzten Kriegsjahren nach Hamburg abkommandiert, um gegen die Aktivitäten des Spartakusbundes vorzugehen, einer Vereinigung von radikalen Pazifisten und Sozialisten, die im Umkreis von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg entsteht und den Kern der späteren Kommunistischen Partei (KPD) bildet. Im südlich von Hamburg liegenden Fleestedt lernt Fritz seine spätere Frau Dora kennen und nimmt sie nach der Hochzeit 1920 mit in seine Heimat.

Die politische Instabilität der Weimarer Republik und große soziale Not, geboren aus der Inflation, den Entbehrungen und Verlusten im Ersten Weltkrieg und den harten Bedingungen des Versailler Vertrages, kennzeichnen den Beginn der 1920er Jahre. In Rübeland schließt die Eisenhütte, womit deren gesamte Belegschaft arbeits- und orientierungslos auf der Straße sitzt.

Fritz Wenzel lässt sich von der schwierigen Lage nicht einschüchtern und setzt stattdessen wagemutig ein großes Projekt um: Er kauft das Gelände der ehemaligen Werkskantine und richtet darin ein Restaurant ein, das sich schnell etablieren kann. Das Restaurant liegt unmittelbar neben dem Eingang der Hermannshöhle. Zwischen den beiden Gebäuden des Restaurants befindet sich die große Felsengrotte eines ehemaligen Marmor-Steinbruchs, die Anziehungspunkt der »Höhlen-Schenke« wird. Von nun an stecken Ingeburgs Eltern ihre gesamte Schaffenskraft in deren Erhalt und Ausbau.

Am 4. Dezember 1929 kommt Ingeburg zur Welt. Als Einzelkind wächst das Mädchen eng verbunden sowohl mit sei nen Eltern Fritz und Dora Wenzel als auch mit den Restaurantangestellten auf. Früh lernt sie, mit anzu packen. Zu ihrem Vater pflegt Ingeburg ein besonders herzliches Verhältnis und begleitet ihn bei seinen handwerklichen Tätigkeiten helfend und lernend.

Fritz Wenzel ist ein beliebter Ansprechpartner im Ort und setzt sich engagiert für die Belange der Rübeländer ein. Durch seine Leidenschaft für das Fotografieren dokumentiert er besondere Anlässe für die Dorfchronik oder private Feierlichkeiten der Einwohner. Finanziell lohnend für Rübeland ist der Bau einer künstlichen, leicht zugänglichen Verbindung zur Baumannshöhle, den Fritz Wenzel in seiner Funktion als Gemeinderatsmitglied initiiert, und der die Besucherzahlen deutlich erhöht.

»Wenn jemand in Not war, kam er zu meinem Vater oder meiner Mutter. Bei ihnen konnte man sein Herz ausschütten.«

Foto von Fritz Wenzel und Ingeburg, 1935

Fritz Wenzel und Ingeburg, 1935

Schon 1920 übernimmt Fritz Wenzel das Amt des stellvertretenden Bürgermeisters von Rübeland. Während er mehr als zehn Jahre parteilos bleibt, tritt er in den 1930er Jahren in die NSDAP ein, überzeugt von deren Parteipolitik. Besonders wegen der sozialpolitischen Maßnahmen und außenpolitischen Erfolge erfreut sich das NS-Regime nach seiner Machtübernahme 1933 wachsender Zustimmung in der deutschen Bevölkerung.

Adolf Hitler hat jedoch noch weitaus größere und folgenreichere Pläne, welche die gewaltsame Eroberung von »Lebensraum im Osten« betreffen. Mit dem Überfall auf Polen beginnt das nationalsozialistische Deutschland am 1. September 1939 den Zweiten Weltkrieg und Millionen deutscher Männer werden zum Kriegsdienst eingezogen.

Fritz Wenzel muss aufgrund seiner alten Kriegsverletzung nicht erneut an die Front. Das Geschoss, das ihn während des Ersten Weltkriegs am Fuß traf, ist im Laufe der Jahre hinauf bis in den Oberschenkel gewandert und eine operative Entfernung der Kugel kann die Amputation des Beins nur knapp verhindern. Auf einer Europakarte verfolgt Fritz Wenzel den Verlauf der Kriegsfronten mit kleinen bunten Stecknadeln, die, wie Inge besorgt wahrnimmt, immer näher aufeinander zukommen.

Eindrücklich erinnert sich die damals 13-Jährige an einen Herbsttag des Jahres 1943. Fritz Wenzel nimmt seine Tochter mit auf eine angebliche Waldwanderung in Richtung Baustelle der Rappbode-Talsperre, die südöstlich von Rübeland gelegen ist. Nach einem ausgiebigen Fußmarsch gelangen sie zu einer etwas erhöht gelegenen Lichtung, von der aus sich ein verdeckter Blick auf zahlreiche Baracken und Arbeiter in seltsamer Bekleidung ergibt.

Ingeburgs Vater nimmt ihr das Versprechen ab, jedem gegenüber absolutes Stillschweigen zu bewahren, und erklärt ihr dann, dass sie heimlich ein Arbeitslager des KZ Buchenwald beobachten. Unter aufwendigen und riskanten Nachforschungen habe er herausgefunden, dass ein guter Bekannter sich hier in Haft befinden müsse. Während Fritz Wenzel die Szenerie lange durch sein Fernglas betrachtet, hält Ingeburg Wache. Jedes kleine Knacken im Unterholz, vielleicht nur von einem vorbeihuschenden Tier verursacht, lässt ihr Herz vor Aufregung schneller schlagen.

»Ich hatte das Gefühl, plötzlich erwachsen, würdig zu sein, und in etwas, wenn auch für mich Unbegreifliches, eingeweiht zu werden.«

1944 wird Fritz Wenzel in die Niederlande kriegsdienstverpflichtet, wo es seine Aufgabe ist, Befestigungsanlagen und die Einhaltung der nächtlichen Ausgangssperren zu kontrollieren. In seinem kurzen Heimaturlaub unterbreitet er Ingeburgs Mutter aufgebracht, er müsse aus der Partei austreten, da sie ihren Idealen nicht mehr entspreche und er Zeuge moralischer Vergehen von Parteimitgliedern geworden sei.

Dora Wenzel beschwichtigt Fritz, denn durch die im Höhlenrestaurant stattfindenden Parteiversammlungen weiß sie vom harten Vorgehen der NSDAP gegenüber Zweiflern. Aus Angst vor Konsequenzen, die mit KZ-Haft oder sogar der Erschießung geahndet werden, verzichtet Fritz Wenzel auf seine Widerstandshandlung.

Ingeburgs Kindheit und frühe Jugend sind stark vom Krieg geprägt. Nach ihrer Grundschulzeit in Rübeland besucht sie die Oberschule für Mädchen in der Kreisstadt Blankenburg. 1943 wird das Schulgebäude allerdings im Zuge der Ausweitung und Untertageverlagerung der deutschen Rüstungsindustrie beschlagnahmt, woraufhin die Mädchen im wöchentlichen Wechsel mit den Jungen vormittags oder nach mittags in deren Oberschule gehen.

Etwa fünfzehn Kilometer muss Ingeburg für ihren Schulweg zurücklegen. Manchmal geht sie die Strecke zu Fuß, wenn die Züge wegen eines Fliegeralarms ausfallen. Für die Rübeländer sind ihre Höhlen nun Zufluchtsorte, die sie häufig aufsuchen müssen, denn die Bombenangriffe der alliierten Truppen zielen auf die zahlreichen nahegelegenen Außenlager der NS-Organisation Todt ab, in denen die untertägige Rüstungsproduktion vorbereitet wird.

In der Endphase des Zweiten Weltkriegs erreichen große Flüchtlingsströme den Harz, die vor der aus Osten herannahenden Front zurückweichen. Für Ingeburg, die mittlerweile die 9. Klasse besucht, findet der Schulbetrieb Anfang des Jahres 1945 ein Ende. Die Oberschule wird Auffangstätte für eine große Zahl Menschen, die es vor allem mit Hilfe der Hitlerjugend zu versorgen gilt. Die Jungen beschaffen Stroh für die Nachtlager und Lebensmittel, die Mädchen bereiten Speisen und Getränke zu und versorgen Babys und Kinder.

Foto von Ingeburg in der Kleidung des Jungmädelbunds, 1943

Ingeburg in der Kleidung des Jungmädelbunds, 1943

Die Flüchtlinge berichten von schlimmen Erlebnissen auf ihrem Weg, doch die Hitlerjugend glaubt noch unbeirrt an den Sieg der deutschen Wehrmacht. Auch Ingeburg ist wie ihre Klassenkameradinnen ein »Jungmädel« und ihre Erziehung von der nationalsozialistischen Ideologie geprägt.

Erste Bedenken stellen sich ein, als die Gasträume des Höhlenrestaurants von zurückflutenden Wehrmachtstruppen für eine kurze Übernachtung auf dem Fußboden genutzt werden. Die Soldaten ziehen am nächsten Morgen schnellstmöglich weiter, um einer Kriegsgefangenschaft zu entgehen.

»Spätestens jetzt bekam ich Zweifel, ob die Wunderwaffe, die uns zum sogenannten Endsieg führen sollte, nicht zu spät käme.«

In der Nacht zum 18. April 1945 wird Ingeburg von Schüssen aus dem Schlaf gerissen. Granatsplitter treffen ihr Schlafzimmer und ein Geschoss schlägt direkt in das Nachtschränkchen neben ihrem Bett ein. Die Familie flieht vor dem Angriff der US-Armee in die Baumannshöhle, deren Eingang neben ihrer Wohnung liegt und in der sich schon viele Rübeländer eingefunden haben.

Als der Beschuss gegen Mittag stoppt, unternehmen Ingeburg und ihr Vater den Versuch, die Lage von dem am Hang gelegenen alten Eingang der Höhle aus zu überprüfen. Plötzlich schlägt neben Ingeburg eine weitere Kugel ein und Vater und Tochter flüchten zurück in den Schutz der Baumannshöhle.

Die US-amerikanischen Truppen nehmen das ungewöhnlich menschenleere Dorf ein und fordern dessen Einwohner am Nachmittag schließlich auf, ihr Versteck zu verlassen. In den offenen Fenstern ihrer Wohnung hocken bereits GI, die mit schief sitzendem Helm und lässig Kaugummi kauend herausschauen, also geht Ingeburg mit ihren Eltern weiter bis zum Höhlenrestaurant. Mit Schrecken sieht sie am Straßenrand beschädigte Häuser und Fahrzeuge. Auch das Restaurant ist bereits von Soldaten in Beschlag genommen.

Ingeburg übersetzt die Aufforderung eines amerikanischen Offiziers, um Mitternacht Schutz im Felsenkeller zu suchen, da zu diesem Zeitpunkt die deutsche Wehrmacht vom Nachbarort aus angreifen werde, um Rübeland zurückzuerobern. Tatsächlich wird der Ort um null Uhr von deutschen Truppen angegriffen, während die Einwohner unter dem Schutz der US-Armee stehen.

Schon kurze Zeit darauf ziehen die amerikanischen Truppen ab und überlassen Rübeland der britischen Besatzung. Mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht endet der Zweite Weltkrieg am 8. Mai 1945.

Das Höhlenrestaurant bleibt für mehrere Monate Stützpunkt und Verpflegungsstelle des britischen Militärs. Durch ihre Aufgabe als »Dolmetscherin« hat Ingeburg engen Kontakt zu Offizieren und Soldaten, und das Zusammen leben mit den Besatzern wird mehr und mehr zur Normalität. Als ihre Eltern die Silberne Hochzeit begehen, überreicht ihnen der britische Küchenchef zu diesem Anlass sogar eine kulinarische Gabe.

Im August 1945 ändert sich die Lage allerdings umfassend. Es wird bekannt, dass die sowjetische Militäradministration SMAD das Gebiet übernimmt, weil es der sowjetischen Besatzungszone SBZ zugehört. Bei den Vorbereitungen ihres Abzugs legen die britischen Offiziere der Familie Wenzel mehrfach eindringlich nahe, mit ihnen zu kommen.

Mehrere junge Rübeländer ergreifen vor dem Hintergrund der Gerüchte über Zerstörungen, Plünderungen und Vergewaltigungen durch sowjetische Soldaten die Flucht und wandern in die Besatzungszonen der westlichen Alliierten ab. Angesichts ihrer Verwandtschaft im Raum Hamburg und Braunschweig erscheint das Fortgehen der Familie Wenzel ebenfalls nicht abwegig.

»Aber meine Eltern brachten es nicht fertig, einfach wegzugehen. Sie hätten ihr Lebenswerk zurück lassen müssen.«

Für Fritz Wenzel kommt es nicht infrage, sein mühsam aufgebautes Höhlenrestaurant aufzugeben. Zudem ist er der Überzeugung, sich angesichts seiner Parteimitgliedschaft keines Verbrechens schuldig gemacht zu haben. Man entschließt sich, in Rübeland zu bleiben und die Entwicklungen abzuwarten.

Nach Ankunft der sowjetischen Militäradministration kehrt im Dorf zunächst ein vorsichtiger Alltag ein. Bis der Schulbetrieb wieder aufgenommen wird, erhält Ingeburg Unterricht von einem pensionierten Lehrer in Blankenburg. Fritz Wenzel hat am Ortsausgang von Rübeland einen Garten neu angelegt. Er verbringt viel Zeit damit, den kargen Boden in Beete zu verwandeln.

So auch am Mittag des 11. September 1945, als ein Hilfspolizist die Gaststube des Höhlenrestaurants aufsucht. Der junge Mann mit der roten Armbinde trägt eine Namensliste bei sich und beauftragt Ingeburg, umgehend den Vater darüber zu benachrichtigen, dass gegen 14 Uhr mehrere Verhaftungen stattfinden werden. Ingeburg fühlt sich von der Warnung völlig überrumpelt, kann dem Mann aber noch entlocken, dass nicht nur Fritz Wenzels Name auf dem Blatt Papier steht, sondern auch der eines engen Freundes der Familie, der in Rübeland als Schulleiter, Kantor und Leiter mehrerer Chöre beliebt ist. Ingeburg gibt ihrer Mutter Bescheid und eilt zu ihrem Vater, der im Garten gerade das Spinatbeet bestellt.

»Ich werde es nie vergessen. Mein Vater drehte sich zu mir, ganz gelassen, und antwortete freundlich, es könne sich nur um ein Verhör handeln, keinesfalls würde er fliehen oder sich verstecken.«

Welchem Zweck die Befragung dienen soll und wer deren Initiator ist, weiß Fritz Wenzel zu diesem Zeitpunkt vermutlich gar nicht. Dass die sowjetische Geheimpolizei schon seit Kriegsende in der SBZ eine regelrechte Verhaftungswelle ausgelöst hat, die formell der Entnazifizierung der deutschen Bevölkerung dient, ist noch nicht bis nach Rübeland vorgedrungen. Fritz Wenzel trägt seiner Tochter auf, den Familienfreund zu informieren und etwas Brot zu besorgen. Anschließend soll Ingeburg in den Garten zurückkehren und das Spinatbeet fertigstellen.

Mit dieser Anweisung, der sie Folge leistet, verhindert Ingeburgs Vater, dass die 15-Jährige seine Verhaftung mit eigenen Augen sieht. Zeitzeugen berichten, etliche Rübeländer seien mit erhobenen Händen von deutschen Einsatzkräften bis zum Gemeindebüro geführt, dann stehend auf der offenen Ladefläche eines Lkw verfrachtet und anschließend abtransportiert worden. Der Familienfreund soll die Männer veranlasst haben, zum Abschied ihr Harzer Heimatlied zu singen.

»Das war der Beginn des Leidenswegs in die absolute Isolierung, für die meisten jedoch der Weg in den Tod.«

Zunächst ist die Sorge um die Verhafteten nicht übermächtig. Niemand kann sich vorstellen, dass eine solch große Gruppe länger als ein, zwei Tage in Gefangenschaft bleibt. Die Rübeländer werden in die NKWD-Kommandantur in der damaligen Kaiserstraße in Blankenburg gebracht. Das spricht sich schnell herum und Ingeburg kundschaftet die besetzte Villa am Eingang der Stadt aus. Tatsächlich entdeckt sie ihren Vater hinter einem der Kellerfenster.

Von da an bringt sie in einem Essensträger Brot oder gekochte Kartoffeln mit und versucht, versteckt vor den sowjetischen Wach posten, den Behälter vom Fußweg aus mit einem langen Stock bis zum entsprechenden Kellerfenster zu schieben. Zwei oder drei Mal glückt es ihr, nicht nur die Lebensmittel, sondern auch einen beschriebenen Zettel in die Zelle ihres Vaters zu schmuggeln, und sie erhält Antwort.

Foto des Kassibers von Fritz Wenzel an seine Familie, datiert auf den 1. Oktober 1945

Kassiber von Fritz Wenzel an seine Familie, datiert auf den 1. Oktober 1945

Als die Gefangenen ins Stadtgefängnis überführt werden, findet Ingeburg auch diesen neuen Aufenthaltsort schnell heraus. Wie viele andere Angehörige sucht sie wiederholt die Blankenburger Haftanstalt auf und läuft vor dem Gebäude am Tummelplatz so lange auf und ab, bis ihre Geduld belohnt wird und sie ihren Vater sichten kann. Heimliche Botschaften auszutauschen gelingt nun nicht mehr.

Eines Tages sind die Gefangenen verschwunden und ihr Weg verliert sich zunächst für Ingeburg und Dora Wenzel. Fritz Wenzel wird jetzt im »Roten Ochsen« festgehalten.

Das Gefängnis in Halle an der Saale wird von der sowjetischen Besatzungsmacht ab Juli 1945 als Untersuchungsanstalt und Gerichtsgebäude genutzt. Sie setzt ihre Rechtsauffassung mit Hilfe von Militärgerichtsverfahren, den sowjetischen Militärtribunalen (SMT), gegen Tausende Gefangene durch und deportiert die Mehrzahl weiter in Speziallager auf deutschem Boden und in sowjetische Zwangsarbeitslager.

Am 27. Oktober 1945 wird Fritz Wenzel in das sowjetische Speziallager Nr. 1 Mühlberg eingeliefert. Obwohl das Speziallager über zahlreiche Sicherheitsmaßnahmen verfügt, mit denen das NKWD seine Häftlinge vollkommen von der Außenwelt zu isolieren anstrebt, bringt Ingeburgs Vater es ein weiteres Mal zustande, seiner Familie eine Nachricht zukommen zu lassen. Seine Zeilen schreibt er auf den Abriss eines Notenblatts.

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Kassiber von Fritz Wenzel aus dem Speziallager Mühlberg mit dem Wortlaut: »Ich bitte um herzl. Gruß an Dora + Inge + grüße auch Dich herzlich / Fritz / Es geht mir gut! / Wie sieht es zu Haus aus«

Für die Zurückgebliebenen stürzt die bisherige Lebenswelt zusammen. Die sowjetische Militäradministration beschlagnahmt nicht nur alle Konten und das Höhlenrestaurant, das Familie Wenzel beim Fortgang des britischen Militärs nicht aufzugeben bereit war, es bestätigen sich nun auch die vorhergegangenen Gerüchte über Plünderungen und Enteignungen. Russische Lkw ziehen durch Rübeland und Soldaten räumen scheinbar wahllos Wertgegenstände aus den Wohnungen der verhafteten Männer.

Im Haushalt der Familie Wenzel entwenden sie unter anderem das große Wohnzimmerbüfett, alle Möbelstücke mit Spiegeln und Ingeburgs Bett, das goldfarbene Füße und eine ebensolche Umrandung hat. Mit Glück kann sie das große Puppenhaus retten, das ihr Vater einst für sie gebaut hat. Eine befreundete kommunistische Familie holt es noch in der Nacht vor den Beschlagnahmungen ab, um es zu verstecken.

»Alles, was wir besaßen, war verloren. Wir hatten hier nichts mehr zu sagen.«

Mit dem Bild eines gerechten, ehr baren und beliebten Menschen im Kopf, kann Ingeburg nicht fassen, dass es eine Rechtfertigung für Fritz Wenzels Inhaftierung geben soll. Tatsächlich dienen die Festnahmen, denen viele Rübeländer zum Opfer fallen, vor allem der präventiven Festsetzung möglicher Feinde der sowjetischen Besatzungsmacht. Sie gehen auf verschiedene NKWD-Befehle zurück, insbesondere den Befehl Nr. 00315 vom 18. April 1945, der Verhaftungskategorien festlegt.

Dora Wenzel nimmt Verbindung zu verschiedenen einflussreichen Personen auf und bemüht sich, die Freilassung ihres Mannes zu erreichen. Auch der wiedereingesetzte sozialdemokratische Bürgermeister und der Landrat beantragen mit schriftlichen Eingaben bei der sowjetischen Kommandantur die Entlassung der verhafteten Rübeländer. Keine der Initiativen zeigt Erfolg. Ingeburg drängt ihre Mutter, zum Lager Mühlberg fahren zu dürfen, um vor Ort vielleicht etwas erwirken zu können, aber Dora Wenzel verbietet es ihr eindringlich.

»Obwohl ich jetzt weiß, dass ich nichts hätte ausrichten können, fühle ich bis heute ei ne Unterlassungsschuld.«

Die 16-Jährige rückt eng an die Seite ihrer Mutter und versucht sie bestmöglich zu unterstützen, indem sie viele der Aufgaben übernimmt, die ihrem Vater oblagen. In dem zeitweise nicht bewirtschafteten Höhlenrestaurant werden 1946 zwei Klassenräume eingerichtet und Dora Wenzel findet Arbeit in der zugehörigen Schulspeisung, die in der ehemaligen Winterküche des Höhlenrestaurants kocht.

Ingeburg möchte ihre Schulausbildung fortsetzen, doch aufgrund der Inhaftierung ihres Vaters verweigert man ihr die Wiederaufnahme in die Oberschule. Ingeburg ist ratlos, denn sie hegt schon seit vielen Jahren den Wunsch, zu studieren. So entschließt sie sich, zunächst ihren Abschluss der Mittleren Reife auf der Mittelschule in Elbingerode zu machen, und beginnt dann 1946 ein unbezahltes Praktikum im Krankenhaus von Wernigerode, um sich für die Ausbildung als medizinisch-technische Assistentin zu qualifizieren. Weil akuter Personalmangel vorherrscht, erwirbt Ingeburg in ihrem Praxisjahr umfassende Kenntnisse.

Anschließend bewirbt sie sich mit ihrem sehr guten Zeugnis und der wohlwollenden Beurteilung des Wernigeröder Krankenhauses an der Fachschule in Halle. Doch bei einer persönlichen Vorsprache wird ihr deutlich vermittelt, dass sie als Kind eines politischen Häftlings kein Recht auf eine Ausbildung habe.

Eine glückliche Wendung ihrer Misere ergibt sich im Juni 1947. Ingeburg wird von ihrem Freund zu dessen Abiturientenball nach Wernigerode eingeladen und an diesem Abend dem Direktor der Erweiterten Oberschule (EOS) vorgestellt. Der ehemalige Deutschlehrer ist aufgrund des Fachkräftemangels wiedereingesetzt worden und gilt als entnazifiziert. Nach Einsicht in ihre Zeugnisse nimmt er Ingeburg im September 1947 eigenverantwortlich in die Abiturstufe der EOS Wernigerode auf. Mit Fleiß nutzt sie die ihr gebotene Chance und kann gute Leistungen erzielen.

Im August 1948 passiert Unerwartetes. Dora Wenzel begegnet in Rübeland einem der gemeinsam mit ihrem Ehemann verhafteten Männer. Er ist soeben aus dem Speziallager Mühlberg entlassen worden, das sich im Herbst 1948 gerade in der Auflösung befindet. Der Mann verspricht Dora Wenzel, Fritz kehre ebenfalls in Kürze heim.

»Diese Freude, diese Erwartung!«

Doch Fritz Wenzel kann überhaupt nicht nach Hause kommen, weil er bereits am 31. Dezember 1946 im Speziallager Mühlberg verstorben ist. Erst nach mehreren Tagen des hoffnungsvollen Wartens erfahren Ingeburg und Dora Wenzel die schreckliche Wahrheit, als ein anderer ehemaliger Häftling Courage zeigt und ihnen die Todesnachricht überbringt. Die vorhergegangene, irritierende Falschmeldung ist der Schweigepflicht geschuldet, die von den sowjetischen Offizieren bei den Entlassungen aus dem Speziallager verhängt wird und bei den ehemaligen Gefangenen für die Ausbreitung großer Ängstlichkeit und Vorsicht sorgt.

Obwohl ihr Vater also bereits seit anderthalb Jahren tot ist, bereitet seine politische Verfolgung und Inhaftierung durch die sowjetische Besatzungsmacht Ingeburg nach wie vor große Probleme. Um ihre Hochschulreife zu erlangen, muss sie gemeinsam mit ausgewählten Schülern, die dem kommunistischen Regime ein Dorn im Auge sind, zunächst noch eine sogenannte gesellschaftspolitische Prüfung bestehen. Anschließend darf sie als Jahrgangsbeste der Schule sogar die Abschlussrede halten.

»Aber ich bekam keinen Studienplatz. Jetzt ging das wieder los. Die gleichen Argumente ließen nicht einmal eine Bewerbung zu einem Studium zu.«

Trotz ihrer sehr guten Noten in den Wunschfächern Mathematik und Physik erhält Ingeburg keine Möglichkeit, zu studieren. Sie muss ihre Zukunftspläne komplett umstellen. In der Hoffnung, ihre Mutter könne perspektivisch das beschlagnahmte Höhlenrestaurant zurückerhalten, entschließt sie sich zu einer Ausbildung als Hotelkauffrau. Ingeburgs zugewiesene Ausbildungsstätte wird ausgerechnet das Hotel »Heinrich Heine« in Schierke, wo ausschließlich Regierungsvertreter der neugegründeten DDR ein- und aus gehen. Nicht zuletzt dank ihrer umfangreichen Vorkenntnisse im gastronomischen Bereich macht sie den Abschluss der Berufsausbildung mit Auszeichnung.

Das Höhlenrestaurant ist unterdessen als Betrieb der Handelsorganisation (HO) verstaatlicht worden. Ihre Mutter arbeitet dort als Küchenleiterin und Ingeburg gelingt es, die Betriebsleitung zu übernehmen. Doch das Arbeitsumfeld, das nun planwirtschaftlichen Vorgaben folgt, hat sich verändert. Nach einem schweren Unfall bei den Rübeländer Höhlenfestspielen entschließt sich Ingeburg, aus dem Höhlenrestaurant auszuscheiden. Weil zu diesem Zeitpunkt auch ihre Mutter in Rente gegangen ist, fällt es Ingeburg etwas leichter, das Höhlenrestaurant 1961 für immer zu verlassen.

Sie orientiert sich beruflich neu und nimmt in Elbingerode eine Stelle als Lohnbuchhalterin im Konsum an. Zweimal noch versucht sie, einen Studienplatz im Lehrerseminar zu bekommen, wofür sie ein Praktikum im Kindergarten absolviert. Trotzdem wird sie wieder mit der Begründung vertröstet, alle Plätze seien bereits besetzt.

Zu dieser Zeit ist Ingeburg bereits seit fünf Jahren verheiratet. Ihr Mann Wolfgang Reichel ist Geologe, der 1951 von Dresden nach Rübeland zieht, um im Auftrag der DDR-Regierung und der Bergakademie Freiberg eine geheime Untersuchung in der nahegelegenen Schwefelkiesgrube durchzuführen. Als erstes Paar heiraten die begeisterten Höhlenforscher 1956 an dem Tropfsteingebilde der »Kanzel« in der Hermannshöhle.

Wolfgang und Ingeburg Reichel unternehmen mehrere Forschungsreisen ins sogenannte nichtsozialistische Ausland und pflegen ein Netzwerk mit den dortigen Höhlenkundlern. Ingeburg bringt 1959 ihren ersten Sohn Ingolf zur Welt und nimmt 1962 die vierjährige Annelie in die Familie als Pflegekind auf, das sie 1964 adoptieren darf. Beide Kinder besuchen den Kindergarten in der Nähe von Ingeburgs Arbeitsstelle in Elbingerode.

Eines Morgens im Jahr 1962 fährt der Rübeländer Ortspolizist mit in dem Bus, der sie und die Kinder in die etwa sechs Kilometer entfernte Stadt bringt. Ingeburg wundert sich, dass der Mann sie nicht aus den Augen lässt. Kurz darauf wird sie direkt an ihrem Schreibtisch verhaftet.

Während zwei MfS-Beamte Ingeburg nach Wernigerode befördern, um sie dort einem stundenlangen Verhör zu unterziehen, stellen andere die Wohnung der Familie Reichel auf den Kopf. Alle Schränke werden durchwühlt und die Inhalte der Schubkästen auf dem Fußboden ausgeleert. Man konfisziert Dokumente, umfangreiche Adresskarteien und Fotos, darunter auch alte Aufnahmen von Ingeburgs mittlerweile verstorbenen Mutter. Nichts davon wird sie wieder zurückerhalten. Erst gegen Mitternacht entlässt man Ingeburg ergebnislos.

Ob ihre Kontakte zur Westverwandtschaft oder zu den internationalen Höhlenforschern ein Problem für die Staatssicherheit darstellen, bleibt rätselhaft, und auch der Inhalt der Vernehmung lässt keine Rückschlüsse darauf zu. Umso schwerer wiegt die Peinlichkeit ihrer Festnahme vor den Augen der Kollegen. Für Ingeburg ist es schwierig, jemanden davon zu überzeugen, dass sie nichts verbrochen hat.

»Dann meinten sie: ›Umsonst wird doch hier keiner abgeholt!‹«

Ein Anruf bringt erneute Wendung in ihr Leben. Das Reisebüro in Wernigerode, mit welchem Ingeburg oft zu tun hatte, wenn deren Reisegruppen bei Harz-Rundfahrten im Höhlenrestaurant einkehrten, fragt an, ob sie spontan als Ersatz für einen kranken Reiseleiter einspringen könne. Nachdem sie dort einige Male ausgeholfen hat, entscheidet sie sich dafür, ihre Stelle aufzugeben und gänzlich für das Reisebüro zu arbeiten.

Ingeburg hat Freude an der Arbeit, denn sie organisiert, kalkuliert und begleitet die verschiedensten Fahrten und kann sich umfangreich weiterbilden. Obwohl mehrere Mitarbeiter treue Parteigenossen der SED sind, räumt man ihr viele Freiheiten und eine gute Stellung innerhalb des Büros ein. Absolut konträr zu den Repressionen, die Ingeburg auf ihrem Bildungsweg erleiden musste, erteilt man vorzugsweise ihr ausgewählte Aufträge, bei denen sie sowohl Gäste aus den kapitalistischen Ländern als auch Regierungsvertreter der sozialistischen Staaten zu markanten Stätten der DDR begleitet. Dabei genießt sie nicht selten den gleichen Luxus wie die prominenten Reisegäste.

Ihre vielseitigen Erfahrungen und ihr guter Leumund im Dorf bieten Ingeburg die Möglichkeit, beruflich auf verschiedenen Gebieten auszuhelfen. Zwischenzeitlich übernimmt sie auch die Position der Sprechstundenhilfe bei der Ärztin in Rübeland.

Nach der Geburt ihres zweiten Sohnes Peter fällt Ingeburg allerdings in eine tiefe Krise. Ihre Ehe scheitert, und während Wolfgang Reichel sich beruflich oft im Ausland aufhält, wird Ingeburg schwer krank und steht vor einer heiklen Operation, deren Missglücken sie fürchtet. In dieser Situation ist Ingeburgs Schwiegermutter in Dresden ihr eine große Stütze und verweist sie an den in ihrer Nähe befindlichen Heil- und Chiropraktiker Konrad Kopp.

Tatsächlich verhilft ihr der deutlich ältere Witwer nicht nur, ohne medizinischen Eingriff vollständig zu genesen, sondern wird später auch der neue Mann an ihrer Seite. 1969 zieht Ingeburg von Rübeland nach Dresden und heiratet Konrad Kopp drei Jahre später. Zwei Jahrzehnte lang arbeitet sie mit in der Naturheilpraxis ihres Mannes. Die Überwachung durch das MfS lockert sich jedoch durch den Ortswechsel nicht, im Gegenteil.

»›Verdächtig‹ waren wir vermutlich, weil in unserer Naturheilpraxis auch Ärzte, Musiker und andere Persönlichkeiten behandelt wurden.«

Wie Ingeburg erst sehr viel später erfährt, ist einer der langjährigen Patienten ihres Mannes hauptamtlicher Stasi-Mitarbeiter. Die Methoden der Staatssicherheit machen auch vor der Folgegeneration nicht Halt. 1982 wollen MfS-Beamte Ingeburgs minderjährigen Sohn zu einer Mitarbeit überreden, doch er weigert sich ausdrücklich.

In der Konsequenz beantragt das Ehepaar Kopp 1985 die Ausreise aus der DDR. Es ist eine Entscheidung, welche – wie die ihrer Eltern damals – die Aufgabe von Haus und Lebenswerk bedeutet. Unter den schwierigen Bedingungen der Materialknappheit des sozialistischen Staates haben Konrad und Ingeburg Kopp ein Wohnhaus saniert. Nun verkaufen sie das Haus mit der Naturheilpraxis für einen Bruchteil seines Wertes und geben viele Gegenstände weg, um sich auf den Umzug in die Bundesrepublik vorzubereiten.

Drei Jahre lang sitzen sie auf gepackten Koffern, und obwohl sie zum Zeitpunkt der Antragstellung bereits den Rentenstatus hatten, wird ihr Fortgang erst 1988 genehmigt. Ingeburg und ihr Mann siedeln nach Rosenheim über und beginnen bei null.

»Der Mauerfall kam für mich überraschend und brachte mir – endlich! – die Befreiung aus dem großen Gefängnis DDR. So war mein Gefühl.«

Nach dem Zusammenbruch der DDR und der deutschen Wiedervereinigung wird das Höhlenrestaurant erst 1997 an Ingeburg rückübertragen und bleibt trotzdem in gewissem Sinne verloren, da mehrere Gebäudeteile abgerissen werden und das Restaurant heute nicht mehr wie in seinem ursprünglichen Zustand genutzt wird.

Mit 63 Jahren legt Ingeburg die Prüfung zur Heilpraktikerin ab und arbeitet danach in einer prominenten Praxis in München. Die Richtung, die ihr berufliches Leben mit vielen Anstrengungen genommen hat, ist für sie bis heute nur schwer zu akzeptieren und die überwiegende Ausführung von angelernten Tätigkeiten wirkt sich negativ auf ihre Rente aus. In einem Arbeitsgerichtsprozess, bei welchem sie Fehler korrigieren lassen möchte, wird Ingeburg von einer der beiden Schöffinnen gesagt, sie brauche sich nicht beschweren, sondern hätte eben studieren müssen, dann wäre auch ihre Rente besser.

Nach dem Tod ihres Mannes Konrad Kopp kehrt Ingeburg im Jahr 2000 wieder zurück nach Dresden, um am Aufwachsen ihrer Enkel teilzuhaben. Bei den Kindern ist ihr 1945 gerettetes Puppenhaus sehr beliebt. Ingeburg schließt sich der Initiativgruppe Lager Mühlberg e.V. (ILM) an und erfährt von deren Mitgliedern große Unterstützung bei der Aufarbeitung der Gefangenschaft Fritz Wenzels. Durch die nun zur Verfügung stehenden Akten aus Moskau und die Todeslisten der Speziallager wird der Weg ihres Vaters über verschiedene Haftanstalten nachvollziehbar und sein Sterbedatum bestätigt.

Schon seit 1990 nimmt Ingeburg an den jährlichen Gedenktreffen auf dem ehemaligen Lagergelände teil. Ihre Dankbarkeit für die Arbeit der ILM drückt sie mit ihrem Engagement aus, das sie bei den zahlreichen Aktivitäten der Initiativgruppe einbringt.

Ein besonderes Ereignis ist für sie die Enthüllung der Namenstafeln vor dem 2004 errichteten Hochkreuz. Die Namenstafeln ermöglichen es Ingeburg immer wieder, eine Rose als Zeichen der Verbindung und Erinnerung darauf ablegen zu können, um damit ihres Vaters und der Rübeländer Männer, die im Lager den Tod fanden, ehrend zu gedenken und selbst Trost zu finden.

Bis heute haben sich viele Freundschaften mit Mitgliedern der Initiativgruppe ergeben, unter denen Überlebende des sowjetischen Speziallagers Nr. 1 Mühlberg sind. Ihre Hoffnung, bei Begegnungen mit anderen ehemaligen Häftlingen Details zum Schicksal ihres Vaters zu erfahren, ist noch offen und wird vielleicht nicht mehr erfüllt werden.

»Aber ich stelle mir vor und fühle auch, dass jeder ehemalige Häftling, mit dem ich Kontakt haben darf, mir etwas von meinem Vater überbringt, mich mit meinem Vater verbindet.«