Helmut Janke (†)

Helmut Janke (†)

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»Ich hatte Glück.«

Im sächsischen Falkenhain betreibt das Ehepaar Kurt und Olga Janke einen Bauernhof, der mit einer Größe von 15 Hektar gut für das Auskommen der Familie und ihrer Arbeiter sorgt. Am 5. November 1929 erblickt Helmut dort das Licht der Welt und wächst mit zwei Schwestern und drei Brüdern auf.

Mit dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 bricht der Zweite Weltkrieg aus. Helmuts ältere Brüder dienen der Wehrmacht und erleben als Soldaten an der Ostfront die Schrecken des Krieges unmittelbar. Der zehnjährige Helmut wird durch seine Aufnahme ins Deutsche Jungvolk der Hitlerjugend (HJ) ein Teil des national sozialistischen Gesellschaftssystems. Sein Vater Kurt Janke ist Mitglied in der NSDAP. 1942 heiratet Helmuts ältere Schwester einen Angehörigen der SS. Die zur damaligen Zeit noch untypische weltliche Trauung findet mit einem großem Aufgebot Uniformierter statt.

Mit 14 Jahren geht Helmut vom Deutschen Jungvolk in die Hitlerjugend über. Die Organisation vermittelt den Kindern und Jugendlichen die NS-Ideologie mit ihrem Wertesystem von Gefolgschaftstreue, Kameradschaft, Pflichterfüllung und Willensstärke und dient mit ihrer paramilitärischen Ausbildung immer stärker der Rekrutierung von Soldaten.

Helmut unterzieht sich einer gesundheitlichen Musterung, die seine Tauglichkeit für den Kriegsdienst feststellen soll. Bei dieser Untersuchung wird eine Herzerkrankung diagnostiziert, die den Jungen als nicht kriegsverwendungsfähig einstuft. Aus diesem Grund wird er nicht ins Wehrertüchtigungslager geschickt, in dem die Jungen seines Alters auf ihren Einsatz im Volkssturm vorbereitet werden. Nach der 8. Klasse beendet Helmut die Volksschule und beginnt nach Familientradition eine Lehre in der Landwirtschaft.

Die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht beendet am 8. Mai 1945 den Zweiten Weltkrieg, nicht jedoch Leid und Unrecht. Helmuts Brüder kehren versehrt aus dem Krieg zurück. Sie haben an der Front etliche Verwundungen erlitten, die zu Amputationen und schweren Folgeschäden führen.

Als die US-amerikanischen Truppen die von ihnen eroberten Regionen verlassen und das Gebiet der Roten Armee übergeben, versetzt das die Bevölkerung in Angst und Schrecken. Helmut erinnert sich, wie die Einwohner ihre Häuser verbarrikadieren und die Straßen wie leergefegt sind.

»Als die Russen kamen wurde alles verriegelt und verrammelt.«

Die sowjetischen Soldaten feiern den Sieg und die Einnahme ihrer Besatzungszone SBZ mit Plünderungen, Verwüstungen und Vergewaltigungen. Eingeleitet durch mehrere NKWD-Befehle kommt es zu einer ersten Verhaftungswelle, welche offiziell die Entnazifizierung der deutschen Bevölkerung bezweckt. Tatsächlich dienen die Festnahmen jedoch vor allem der präventiven Festsetzung möglicher Feinde der sowjetischen Besatzungsmacht.

Am 22. Mai 1945 wird Kurt Janke von einem russischen Offizier des NKWD und einem deutschen Hilfspolizisten abgeholt. Auch Helmuts Schwester wird mitgenommen, verhört und mehrfach vergewaltigt. Anschließend entlässt man sie wieder nach Hause zu ihrem Kind. Kurt Janke bleibt ohne weiteren Hinweis auf seinen Verbleib verschwunden.

Im Herbst 1945 kommt es zu einer zweiten Verhaftungswelle und schnell bestätigt sich nun, dass eben nicht nur belastete Nationalsozialisten und hochrangige Funktionsträger festgenommen werden, sondern auch Frauen und ein hoher Anteil Jugendlicher. Insgesamt werden in Falkenhain nach Kriegsende 20 Personen an die sowjetische Geheimpolizei übergeben.

Am 20. November 1945 stehen Polizeibeamte vor dem Haus der Familie Janke und fragen nach Helmut. Der 16-Jährige ist gerade bei einem Arztbesuch und kehrt erst zurück, als die Männer schon wieder abgezogen sind. Besorgt legt Helmuts großer Bruder ihm nahe, zu verschwinden.

Doch Helmut bleibt, und so wird er am nächsten Tag abgeholt und nach Wurzen gebracht. In einer Baracke hinter dem alten Rathaus muss er warten, bis dort mehrere Jugendliche versammelt sind, dann geht es weiter ins Wurzener Schloss, wo sich die Angehörigen des NKWD einen Stützpunkt eingerichtet haben und die Jungen in Einzelhaft sperren.

In den folgenden Tagen wird Helmut immer wieder nachts aus seiner Zelle geholt und von einem sowjetischen Offizier stundenlang verhört. Die Vernehmungen der Jugendlichen erfolgen teil weise unter massiven Drohungen und körperlicher Gewaltanwendung. Man beschuldigt sie, dem »Werwolf« anzugehören – einer nationalsozialistischen Partisanenorganisation, die in Sachsen kaum Verbreitung hatte.

Obwohl sich die ehemaligen Hitlerjungen aus Falkenhain keines Vergehens schuldig gemacht haben, brechen viele unter dem enormen Druck der Verhörmethoden ein und unterschreiben Geständnisse. Willkürlich nennen sie Namen von Freunden und Bekannten, in der Hoffnung, damit weiterer Folter zu entgehen.

Auch Helmut leistet keinen Widerstand. Er unterschreibt das Protokoll seiner Vernehmung, auch wenn er dessen Inhalt nicht kennt, da es mit kyrillischer Schrift in Russisch abgefasst ist. Anschließend wird er dazu verpflichtet, die Böden der Zimmer und das Treppenhaus des Wurzener Schlosses zu wischen und erhält dafür etwas mehr zu essen.

Nach knapp drei Wochen der Gefangenschaft im Schloss Wurzen werden Vorbereitungen für einen Transport der Jugendlichen getroffen. Gemeinsam mit sechs Mann besteigt Helmut am 12. Dezember 1945 die Ladefläche eines kleinen Lastwagens. Vier der Gefangenen, die mit ihm unter einer Plane Schutz vor dem kalten Wind suchen, sind ebenfalls aus Falkenhain, zwei kennt er aus dem Nachbarort.

Helmuts Mutter ist in der Zwischenzeit aufgefordert worden, ihrem Sohn verschiedene Dinge zukommen zu lassen, die ihm nun ausgehändigt werden: Es handelt sich um ein Federkopfkissen, einen Wintermantel, ein Paar Strümpfe, ein Kochgeschirr und einen Laib Brot, den er sofort unter seinen Mitgefangenen verteilt.

»Ich wusste ja nicht, was auf uns zukommt. Das war das Schlimmste, die sagten uns nicht, wohin es geht.«

Der Wagen überquert in Torgau die Elbe, wo das Treibeis bereits als deutliches Zeichen des Wintereinbruchs auf dem Wasser schwimmt. Dann erreicht der Transport das sowjetische Speziallager Nr. 1 Mühlberg.

Seit Mai 1945 betreibt das NKWD in der SBZ Speziallager, die nach sowjetischen Vorgaben betrieben werden. Das verlassene und zwischenzeitlich verwahrloste Gelände eines ehemaligen Kriegsgefangenenlagers bei Mühlberg wird im September 1945 neuer Standort für das bis dahin im polnischen Rembertów existierende Speziallager Nr. 1. Bis 1948 weisen die Operativgruppen des NKWD aus Sachsen und Sachsen-Anhalt etwa 21.800 Deutsche, die als »sonstige verdächtige Elemente« eingestuft worden sind, in das Speziallager ein.

Mühlberg ist ein Schweigelager, es isoliert seine Insassen vollkommen von der Außenwelt. Über den Zustand der Internierten dringen keinerlei Informationen nach außen und die Gefangenen erhalten keine Gewissheit über das Schicksal ihrer Familien zuhause – oder darüber, wie ihre eigene Zukunft aussieht. Es gibt weder Gerichtsverfahren noch Verurteilungen und somit auch kein festgelegtes Strafmaß.

Auch Helmut weiß bei Betreten des Lagergeländes nicht, was ihn hier erwartet. Die Lagerordnung, die auf Aushängen verkündet wird, lässt nichts Gutes erahnen. Sie verpflichtet die Internierten zu Ordnung, Disziplin und Sauberkeit und zum militärischen Grüßen der sowjetischen Offiziere und Soldaten.

Die Liste an Verboten ist deutlich länger und schließt den Besitz von Schreibmaterialien und spitzen Gegenständen sowie die Kommunikation mit den Frauen ein, die in einem abgesonderten Bereich des Geländes interniert sind. In späteren Jahren erfolgen zusätzliche Vorschriften, die das Singen, das Gruppieren von mehr als fünf Personen, den Besuch kranker Kameraden im Lazarett, das Abhalten von Gottesdiensten und die Verabschiedung der Verstorbenen durch Reden und Gebete untersagen.

Unmittelbar bei seiner Aufnahme wird Helmut das Federkissen abgenommen, weil man es angeblich für den Krankentrakt benötigt. Dann wird er der Baracke 2a zugeteilt.

Die Unterkünfte der Internierten sind heruntergekommene Baracken, mittig durch einen Waschraum in zwei Räume aufgeteilt, die jeweils 250 Mann bewohnen. 125 Gefangene teilen sich eine Waschrinne, aus der das Wasser spärlich und kalt fließt. Seife oder Handtücher existieren nicht.

Als Bett dient den Männern eine Art Regal: etwa zwei Meter tiefe, doppelstöckige Liegestätten aus blankem Holz, die die Barackenwände umlaufen und für jeden nur knappe 50 Zentimeter Liegefläche bieten. Die Männer liegen dicht an dicht; will sich einer umdrehen, müssen alle mitziehen. Tagsüber dürfen die Pritschen nicht benutzt wer den, doch es stehen auch nicht ausreichend Bänke zur Verfügung.

Nach dem Wecken um sieben Uhr morgens und vor dem Zapfenstreich um zehn Uhr abends müssen sich die Internierten zu einem Zählappell versammeln, bei dem die sowjetische Lagerleitung ihre Gefangenenlisten überprüft. Die langwierigen Zählungen dienen weniger dem Zweck, zu überprüfen, ob einem der Internierten die Flucht gelungen sei, denn schon kurz nachdem sich das Lager im Winter 1945 mit Insassen gefüllt hat, wird es mit Stacheldrahtzäunen gegen ein heimliches Verlassen des Geländes gesichert und bewaffnete Soldaten beziehen Posten am Haupteingang und auf den vier Wachtürmen.

Doch im Speziallager Mühlberg sterben täglich etliche Gefangene. Die verordnete Untätigkeit und die psychische Qual der Ungewissheit über das eigene Schicksal beschleunigen, was dem Körper durch die schlechten sanitären Zustände und Mangelernährung angetan wird. Die primitive medizinische Versorgung kann der überdurchschnittlichen Krankheitsrate nicht Herr werden. In den drei Jahren, in denen das sowjetische Speziallager Nr. 1 Mühlberg besteht, werden in den Lagerakten 6.765 Todesfälle erfasst.

»Manchen Tag verstarben dreißig, vierzig. Da lag garantiert einer neben dir.«

Die Leichen verscharrt man ohne Zeremonie in anonymen Massengräbern außerhalb des Lagergeländes. Eine Tätigkeit, die von den Gefangenen selbst ausgeführt werden muss, durch ein eigens eingerichtetes Totenkommando.

Das Nichtstun ist neben dem Hungern eine kaum vorstellbare Folter. Im Lager Mühlberg darf nur die für den laufenden Betrieb zwingend notwendige Arbeit verrichtet werden, und somit beschränken sich die wenigen Arbeitskommandos auf die Küchenarbeit und Essensverteilung, die Entsorgung der Fäkalien, die Beerdigung der Toten. Ein Holzkommando schafft täglich Brennmaterial heran und wenige Ärzte und Schwestern versorgen notdürftig die Erkrankten. Die Arbeitenden im Lager Mühlberg erhalten einen Nachschlag bei der täglichen Suppenration.

»Jeder versuchte, ein bisschen Arbeit zu bekommen. Ich hatte das Glück.«

Dank seiner großen und kräftigen Statur wird Helmut der Brotversorgung zugeteilt. Anfangs ist es seine Aufgabe, die im Magazin gelagerten Mehlsäcke mittels einer primitiven, zweirädrigen Karre an die Bäckerei zu liefern. Etwa drei Tonnen Mehl am Tag müssen bewegt werden, um die erforderliche Anzahl Brote für die etwa 12.000 Gefangenen zu backen, und in der Bäckerei arbeitet man zu diesem Zweck rund um die Uhr in drei Schichten.

Das fertig gebackene, noch heiße Brot wird in der Brotkammer der Bäckerei zum Abkühlen auf Bretter gelegt und am nächsten Tag ins Magazin gebracht, von wo aus es abgeholt und an die Internierten verteilt wird. Helmut arbeitet auch als Brotträger und später in der Speisekammer und bei der Brotausgabe.

Ab Juli 1946 gibt es eine Vielzahl von Veränderungen im Lageralltag. Zunächst wird eine Zonenunterteilung des Lagergeländes beschlossen und mittels Stacheldrahtzäunen umgesetzt. Den Inhaftierten ist es fortan nur noch erlaubt, sich in jener Zone frei zu bewegen, in der sich ihre Unterkunft befindet.

Darüber hinaus erfolgt eine Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen. Die sowjetische Lagerverwaltung setzt elektrische Alarmzäune an die Zonengrenzen, patrouilliert mit Wachhunden und überprüft mittels geharkter Streifen das unbefugte Betreten von Sperrbereichen, sie installiert schwenkbare Scheinwerfer und eine nächtliche Beleuchtungsanlage und versieht die Absperrung nach außen mit einem Sichtschutz aus hohen Holzpalisaden.

Am 4. November 1946 wird die Brotration halbiert. Jeder Gefangene erhält täglich nur noch 300 Gramm von der Backware, die weit weniger kompakt und sättigend ist, als man es vom deutschen Brot gewohnt ist. Auch die Qualität der Suppen wird schlechter: Der Dreiviertelliter Kartoffelsuppe, der mittags ausgegeben wird, weist kaum drei Löffel fester Substanz auf. Abends erhalten die Internierten meistens einen halben Liter Wassersuppe mit wenigen Graupen oder Hirse.

Die Zahl der Todesfälle steigt nun rasant an und für die vielen an Dystrophie Erkrankten werden gesonderte Baracken eingerichtet. An manchen Tagen reichen die 50 Tragen, über die das Beerdigungskommando verfügt, nicht mehr aus. Schon tagsüber bereiten die Totengräber die Gruben vor, in denen die Leichen aufeinandergeschichtet vergraben werden. Bei starkem Frost heben die Männer vorsorglich größere Löcher aus.

Die Jahreswende 1946/47 wird als Hungerwinter in die Geschichtsbücher eingehen, denn es ist einer der kältesten Winter des 20. Jahrhunderts. Das spüren auch die Gefangenen des sowjetischen Speziallagers Mühlberg, die in den Baracken mitunter versuchen, die Öfen umzubauen, um deren Wärmeleistung zu verbessern. Während von Mitte Juni bis Ende Dezember 1946 619 Tote registriert sind, sterben allein im Januar 1947 515 Insassen.

Anfang Januar 1947 finden die ersten Transporte in die Sowjetunion statt. Insgesamt bringt man etwa 27.000 Arbeitstaugliche aus der SBZ in die Lager des GULAG. Aus der Perspektivlosigkeit ihrer derzeitigen Lebenssituation heraus melden sich etliche Männer freiwillig für den Transport. Eine groß angelegte Musterung soll alle Arbeitsfähigen unter den Internierten des Speziallagers Nr. 1 herausfiltern.

»Du musstest nackt vor, dich rumdrehen und bücken.«

Der körperliche Zustand der Mühlberger Gefangenen ist schlecht. Unter den etwa 12.000 Internierten werden nur 821 für arbeitstauglich befunden, die meisten davon Angehörige eines Arbeitskommandos. Sie werden am 8. Februar 1947 mit Wattebekleidung und Pelzmützen der deutschen Wehrmacht ausgestattet und in primitiven Güterwagen ins sibirische Zwangsarbeitslager 7503/11 Anschero-Sudschensk gebracht.

Auch Helmut wird gemustert. Der 17-Jährige hat solche Angst vor der Situation, dass sein Herz laut und schnell schlägt und die sowjetischen Ärzte den diagnostizierten Herzfehler anerkennen.

»Und ich bin wieder zurück in die Bäckerei. So schlug ich die ganzen Monate tot.«

Das soziologische Gefüge im Speziallager Mühlberg ändert sich nun grundlegend, denn vor allem Alte und Kranke sind im Lager verblieben. Im Frühjahr 1947 kommen weitere Arbeitsunfähige aus den in Auflösung befindlichen Speziallagern Jamlitz und Ketschendorf hinzu – unter ihnen 880 Frauen und fünf Kleinkinder.

Pessimismus, fortwährender Hunger und Ängste schwächen die Verbliebenen. In der ersten Jahreshälfte sterben 2.450 Insassen. Nach dem Besuch einer sowjetischen Kommission im Februar 1948, welche die Zustände im Lager harsch kritisiert, deuten sich wieder Veränderungen an. Eine Untersuchung ergibt, dass 35 Prozent der Insassen an Tuberkulose erkrankt sind. Die hochgradig ansteckende Krankheit hat somit das Niveau einer Seuche erreicht. Zur Isolierung der Tbc-Kranken baut man das halbe Männerlager in einen Lazarettbereich um.

Ab April 1948 wird das Speziallager Mühlberg schließlich nach und nach aufgelöst. Der Großteil der Internierten darf in den Sommermonaten die Heimreise antreten. Im Vorgehen der sowjetischen Lagerleitung ist keinerlei Struktur erkennbar. Immer wieder gibt es Ausnahmen bei der Reihenfolge der fünfstelligen Registrierungsnummern. Manche Männer warten vergeblich auf ihren Aufruf oder werden verlegt, andere sterben, noch bevor sie an der Reihe sind.

Für Helmut ist Freitag, der 6. August 1948, der langersehnte Tag der Freiheit. Gemeinsam mit einem weiteren Jugendlichen aus Falkenhain, der schon auf dem Hinweg mit ihm auf der Ladefläche des Lkw hockte, tritt er nun den Weg nach Hause an. Zwei der anderen Falkenhainer, die ihn damals begleiteten, werden nach Buchenwald verlegt. Der fünfte der Gruppe aus Falkenhain und die zwei Männer aus dem Nachbarort waren Teil des Pelzmützentransports.

Nebst Geld für eine Fahrkarte händigt man jedem Heimkehrer eine Bescheinigung aus. Der Inhalt des Schreibens ist eine Irreführung, denn er verzeichnet ein namenloses Internierungslager und trägt die Unterschrift des Landespolizeichefs von Sachsen-Anhalt – und nicht die eines MWD-Offiziers. So werden der tatsächliche Aufenthaltsort der letzten drei Jahre und die Verantwortlichkeit der sowjetischen Militäradministration verschleiert.

Dokument: Entlassungsbescheid für Helmut Janke vom 6. August 1948

Entlassungsbescheid für Helmut Janke vom 6. August 1948

Bei der Entlassung droht man Helmut und seinen Kameraden damit, dass sie schneller als gedacht wieder dahin zurückkehren würden, wo sie gerade herkämen, sollten sie kein Stillschweigen über ihre Zeit in Gefangenschaft wahren.

»Daran hielten wir uns.«

Nach fast 33 Monaten in sowjetischer Gefangenschaft erreicht Helmut sein Elternhaus in Falkenhain. Er ist nun 18 Jahre alt. Seine Familie, die während der ganzen Zeit keinen Kontakt zu ihm aufnehmen durfte, wird von seiner Rückkehr freudig überrascht.

Helmuts Vater jedoch wartet nicht zu Hause auf ihn. Wie die Familie nach der deutschen Wiedervereinigung ermittelt, ist Kurt Janke bereits am 17. September 1945 im sowjetischen Speziallager Tost verstorben.

Mit der ausgehändigten Entlassungsbescheinigung muss sich Helmut wieder in seiner Heimatgemeinde anmelden. Ein handschriftlicher Vermerk auf dem Schriftstück weist darauf hin, dass man sich bei der Registrierung des jungen Heimkehrers eine besondere Notiz in die Akten macht: »gemeldet bei K5 / Wurzen, den 10.8.1948 / Lehmann«.

Unter der Bezeichnung »K5« besteht seit Januar 1947 ein Vorläufer des späteren Ministeriums für Staatssicherheit MfS der DDR. Auf Länderebene führen die K5-Abteilungen als Teil der politischen Polizei geheimdienstliche Operationen durch – neben der Ermittlungsarbeit zur Entnazifizierung auch nachrichtendienstliche Aufträge. Es ist davon auszugehen, dass Helmut ab diesem Zeitpunkt unter besonderer Beobachtung steht, die später von den Mitarbeitern der Stasi fortgeführt wird.

Aufgrund von Repressalien sowie der fehlenden Arbeitskraft des verstorbenen Vaters und der kriegsversehrten Brüder ist die wirtschaftliche Lage der Familie eine deutlich schlechtere, als noch vor Kriegsende. Helmut hat seine Ausbildung aufgrund der Verhaftung nicht abschließen können und muss sich nun eine neue Existenz suchen, um den Lebensunterhalt zu bestreiten. Es verschlägt ihn ins 15 Kilometer entfernte Fremdiswalde, wo er am 3. Januar 1949 als Umschüler eine Lehrstelle in der Stellmacherwerkstatt von Hugo Naumann antritt.

Helmut beginnt hier nicht nur seine berufliche Karriere, sondern lernt auch Ilse, die jüngste Tochter des Stellmachers, kennen und lieben. Das Paar heiratet im November 1951. Ihre Tochter Maritta wird 1952 und 4 Jahre später der Sohn Harald geboren. Die jüngste Tochter Isolde, die 1968 das Licht der Welt erblickt, leidet jedoch an einer schweren Krankheit und stirbt noch bevor sie das 4. Lebensjahr erreichen kann.

Nach erfolgreich absolvierter Meisterprüfung übernimmt Helmut 1960 die Stellmacherei von seinem Schwiegervater. Die zwanghafte Etablierung der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) stellt den Privatbetrieb auf eine harte Probe. Wagenräder fertigt Helmut für seine Kunden nur noch selten, doch mit seinen handwerklichen Fähigkeiten bringt er die Familie gut über die Runden. Helmut betreibt die Werkstatt bis Juli 1992 und gibt sie dann an seinen Sohn Harald weiter, der die Stellmacherei Janke nun als Zimmereibetrieb führt.

Mit dem Ruhestand wird Helmut nicht weniger aktiv. Er engagiert sich jahrzehntelang in der Freiwilligen Feuerwehr Fremdiswalde und im Kirchenvorstand. Nach der deutschen Wiedervereinigung tritt Helmut in die CDU ein und übernimmt zeitweise das Amt des stellvertretenden Bürgermeisters von Grimma.

Helmut ist Mitglied der ersten Stunde der Initiativgruppe Lager Mühlberg (ILM). Er hilft bei unzähligen Arbeiten zur Erschließung und Gestaltung des ehemaligen Lagergeländes als Gedenkstätte. 1994 stellt er gemeinsam mit einem Kameraden auf dem Lagergelände ein selbstgefertigtes Holzkreuz mit der Inschrift »Unseren toten Kameraden der Kreise Grimma und Wurzen« auf. Der Vereinigung der Opfer des Stalinismus e.V. (VOS) tritt Helmut gegen Ende der 1990er Jahre bei und trifft sich regelmäßig mit der Wurzener Gruppe ehemaliger Mühlberg-Insassen.

Zwei Jahre nach ihrer Goldenen Hochzeit stirbt Helmuts Frau Ilse am 24. November 2003. Der Verlust trifft ihn schwer, doch er findet viel Unterstützung durch seine Kinder, Enkel und Urenkel, Freunde und Bekannte und in der Kirche.

Im August 2010 initiiert Helmut gemeinsam mit zwei Kameraden einen Gedenkstein auf dem Friedhof seines Heimatortes. Die tief empfundene Trauer um jene Kameraden, die die schwere Zeit im Speziallager nicht überlebten, begleitet ihn Zeit seines Lebens.

Helmut Janke verstirbt am 6. März 2019 im Alter von 89 Jahren. Seine Familie und viele Kameraden verabschieden ihn bei einer Trauerpredigt am 15. März 2019.

»70 Jahre haben mich die Ereignisse von damals begleitet und nicht losgelassen. Ich möchte dafür sorgen, dass sie nicht vergessen werden.«

Auf der Website www.lager-muehlberg.de steht die Biografie von Helmut Janke zum kostenfreien Download zur Verfügung: LINK

»Ich hatte Glück.«

Im sächsischen Falkenhain betreibt das Ehepaar Kurt und Olga Janke einen Bauernhof, der mit einer Größe von 15 Hektar gut für das Auskommen der Familie und ihrer Arbeiter sorgt. Am 5. November 1929 erblickt Helmut dort das Licht der Welt und wächst mit zwei Schwestern und drei Brüdern auf.

Mit dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 bricht der Zweite Weltkrieg aus. Helmuts ältere Brüder dienen der Wehrmacht und erleben als Soldaten an der Ostfront die Schrecken des Krieges unmittelbar. Der zehnjährige Helmut wird durch seine Aufnahme ins Deutsche Jungvolk der Hitlerjugend (HJ) ein Teil des national sozialistischen Gesellschaftssystems. Sein Vater Kurt Janke ist Mitglied in der NSDAP. 1942 heiratet Helmuts ältere Schwester einen Angehörigen der SS. Die zur damaligen Zeit noch untypische weltliche Trauung findet mit einem großem Aufgebot Uniformierter statt.

Mit 14 Jahren geht Helmut vom Deutschen Jungvolk in die Hitlerjugend über. Die Organisation vermittelt den Kindern und Jugendlichen die NS-Ideologie mit ihrem Wertesystem von Gefolgschaftstreue, Kameradschaft, Pflichterfüllung und Willensstärke und dient mit ihrer paramilitärischen Ausbildung immer stärker der Rekrutierung von Soldaten.

Helmut unterzieht sich einer gesundheitlichen Musterung, die seine Tauglichkeit für den Kriegsdienst feststellen soll. Bei dieser Untersuchung wird eine Herzerkrankung diagnostiziert, die den Jungen als nicht kriegsverwendungsfähig einstuft. Aus diesem Grund wird er nicht ins Wehrertüchtigungslager geschickt, in dem die Jungen seines Alters auf ihren Einsatz im Volkssturm vorbereitet werden. Nach der 8. Klasse beendet Helmut die Volksschule und beginnt nach Familientradition eine Lehre in der Landwirtschaft.

Die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht beendet am 8. Mai 1945 den Zweiten Weltkrieg, nicht jedoch Leid und Unrecht. Helmuts Brüder kehren versehrt aus dem Krieg zurück. Sie haben an der Front etliche Verwundungen erlitten, die zu Amputationen und schweren Folgeschäden führen.

Als die US-amerikanischen Truppen die von ihnen eroberten Regionen verlassen und das Gebiet der Roten Armee übergeben, versetzt das die Bevölkerung in Angst und Schrecken. Helmut erinnert sich, wie die Einwohner ihre Häuser verbarrikadieren und die Straßen wie leergefegt sind.

»Als die Russen kamen wurde alles verriegelt und verrammelt.«

Die sowjetischen Soldaten feiern den Sieg und die Einnahme ihrer Besatzungszone SBZ mit Plünderungen, Verwüstungen und Vergewaltigungen. Eingeleitet durch mehrere NKWD-Befehle kommt es zu einer ersten Verhaftungswelle, welche offiziell die Entnazifizierung der deutschen Bevölkerung bezweckt. Tatsächlich dienen die Festnahmen jedoch vor allem der präventiven Festsetzung möglicher Feinde der sowjetischen Besatzungsmacht.

Am 22. Mai 1945 wird Kurt Janke von einem russischen Offizier des NKWD und einem deutschen Hilfspolizisten abgeholt. Auch Helmuts Schwester wird mitgenommen, verhört und mehrfach vergewaltigt. Anschließend entlässt man sie wieder nach Hause zu ihrem Kind. Kurt Janke bleibt ohne weiteren Hinweis auf seinen Verbleib verschwunden.

Im Herbst 1945 kommt es zu einer zweiten Verhaftungswelle und schnell bestätigt sich nun, dass eben nicht nur belastete Nationalsozialisten und hochrangige Funktionsträger festgenommen werden, sondern auch Frauen und ein hoher Anteil Jugendlicher. Insgesamt werden in Falkenhain nach Kriegsende 20 Personen an die sowjetische Geheimpolizei übergeben.

Am 20. November 1945 stehen Polizeibeamte vor dem Haus der Familie Janke und fragen nach Helmut. Der 16-Jährige ist gerade bei einem Arztbesuch und kehrt erst zurück, als die Männer schon wieder abgezogen sind. Besorgt legt Helmuts großer Bruder ihm nahe, zu verschwinden.

Doch Helmut bleibt, und so wird er am nächsten Tag abgeholt und nach Wurzen gebracht. In einer Baracke hinter dem alten Rathaus muss er warten, bis dort mehrere Jugendliche versammelt sind, dann geht es weiter ins Wurzener Schloss, wo sich die Angehörigen des NKWD einen Stützpunkt eingerichtet haben und die Jungen in Einzelhaft sperren.

In den folgenden Tagen wird Helmut immer wieder nachts aus seiner Zelle geholt und von einem sowjetischen Offizier stundenlang verhört. Die Vernehmungen der Jugendlichen erfolgen teil weise unter massiven Drohungen und körperlicher Gewaltanwendung. Man beschuldigt sie, dem »Werwolf« anzugehören – einer nationalsozialistischen Partisanenorganisation, die in Sachsen kaum Verbreitung hatte.

Obwohl sich die ehemaligen Hitlerjungen aus Falkenhain keines Vergehens schuldig gemacht haben, brechen viele unter dem enormen Druck der Verhörmethoden ein und unterschreiben Geständnisse. Willkürlich nennen sie Namen von Freunden und Bekannten, in der Hoffnung, damit weiterer Folter zu entgehen.

Auch Helmut leistet keinen Widerstand. Er unterschreibt das Protokoll seiner Vernehmung, auch wenn er dessen Inhalt nicht kennt, da es mit kyrillischer Schrift in Russisch abgefasst ist. Anschließend wird er dazu verpflichtet, die Böden der Zimmer und das Treppenhaus des Wurzener Schlosses zu wischen und erhält dafür etwas mehr zu essen.

Nach knapp drei Wochen der Gefangenschaft im Schloss Wurzen werden Vorbereitungen für einen Transport der Jugendlichen getroffen. Gemeinsam mit sechs Mann besteigt Helmut am 12. Dezember 1945 die Ladefläche eines kleinen Lastwagens. Vier der Gefangenen, die mit ihm unter einer Plane Schutz vor dem kalten Wind suchen, sind ebenfalls aus Falkenhain, zwei kennt er aus dem Nachbarort.

Helmuts Mutter ist in der Zwischenzeit aufgefordert worden, ihrem Sohn verschiedene Dinge zukommen zu lassen, die ihm nun ausgehändigt werden: Es handelt sich um ein Federkopfkissen, einen Wintermantel, ein Paar Strümpfe, ein Kochgeschirr und einen Laib Brot, den er sofort unter seinen Mitgefangenen verteilt.

»Ich wusste ja nicht, was auf uns zukommt. Das war das Schlimmste, die sagten uns nicht, wohin es geht.«

Der Wagen überquert in Torgau die Elbe, wo das Treibeis bereits als deutliches Zeichen des Wintereinbruchs auf dem Wasser schwimmt. Dann erreicht der Transport das sowjetische Speziallager Nr. 1 Mühlberg.

Seit Mai 1945 betreibt das NKWD in der SBZ Speziallager, die nach sowjetischen Vorgaben betrieben werden. Das verlassene und zwischenzeitlich verwahrloste Gelände eines ehemaligen Kriegsgefangenenlagers bei Mühlberg wird im September 1945 neuer Standort für das bis dahin im polnischen Rembertów existierende Speziallager Nr. 1. Bis 1948 weisen die Operativgruppen des NKWD aus Sachsen und Sachsen-Anhalt etwa 21.800 Deutsche, die als »sonstige verdächtige Elemente« eingestuft worden sind, in das Speziallager ein.

Mühlberg ist ein Schweigelager, es isoliert seine Insassen vollkommen von der Außenwelt. Über den Zustand der Internierten dringen keinerlei Informationen nach außen und die Gefangenen erhalten keine Gewissheit über das Schicksal ihrer Familien zuhause – oder darüber, wie ihre eigene Zukunft aussieht. Es gibt weder Gerichtsverfahren noch Verurteilungen und somit auch kein festgelegtes Strafmaß.

Auch Helmut weiß bei Betreten des Lagergeländes nicht, was ihn hier erwartet. Die Lagerordnung, die auf Aushängen verkündet wird, lässt nichts Gutes erahnen. Sie verpflichtet die Internierten zu Ordnung, Disziplin und Sauberkeit und zum militärischen Grüßen der sowjetischen Offiziere und Soldaten.

Die Liste an Verboten ist deutlich länger und schließt den Besitz von Schreibmaterialien und spitzen Gegenständen sowie die Kommunikation mit den Frauen ein, die in einem abgesonderten Bereich des Geländes interniert sind. In späteren Jahren erfolgen zusätzliche Vorschriften, die das Singen, das Gruppieren von mehr als fünf Personen, den Besuch kranker Kameraden im Lazarett, das Abhalten von Gottesdiensten und die Verabschiedung der Verstorbenen durch Reden und Gebete untersagen.

Unmittelbar bei seiner Aufnahme wird Helmut das Federkissen abgenommen, weil man es angeblich für den Krankentrakt benötigt. Dann wird er der Baracke 2a zugeteilt.

Die Unterkünfte der Internierten sind heruntergekommene Baracken, mittig durch einen Waschraum in zwei Räume aufgeteilt, die jeweils 250 Mann bewohnen. 125 Gefangene teilen sich eine Waschrinne, aus der das Wasser spärlich und kalt fließt. Seife oder Handtücher existieren nicht.

Als Bett dient den Männern eine Art Regal: etwa zwei Meter tiefe, doppelstöckige Liegestätten aus blankem Holz, die die Barackenwände umlaufen und für jeden nur knappe 50 Zentimeter Liegefläche bieten. Die Männer liegen dicht an dicht; will sich einer umdrehen, müssen alle mitziehen. Tagsüber dürfen die Pritschen nicht benutzt wer den, doch es stehen auch nicht ausreichend Bänke zur Verfügung.

Nach dem Wecken um sieben Uhr morgens und vor dem Zapfenstreich um zehn Uhr abends müssen sich die Internierten zu einem Zählappell versammeln, bei dem die sowjetische Lagerleitung ihre Gefangenenlisten überprüft. Die langwierigen Zählungen dienen weniger dem Zweck, zu überprüfen, ob einem der Internierten die Flucht gelungen sei, denn schon kurz nachdem sich das Lager im Winter 1945 mit Insassen gefüllt hat, wird es mit Stacheldrahtzäunen gegen ein heimliches Verlassen des Geländes gesichert und bewaffnete Soldaten beziehen Posten am Haupteingang und auf den vier Wachtürmen.

Doch im Speziallager Mühlberg sterben täglich etliche Gefangene. Die verordnete Untätigkeit und die psychische Qual der Ungewissheit über das eigene Schicksal beschleunigen, was dem Körper durch die schlechten sanitären Zustände und Mangelernährung angetan wird. Die primitive medizinische Versorgung kann der überdurchschnittlichen Krankheitsrate nicht Herr werden. In den drei Jahren, in denen das sowjetische Speziallager Nr. 1 Mühlberg besteht, werden in den Lagerakten 6.765 Todesfälle erfasst.

»Manchen Tag verstarben dreißig, vierzig. Da lag garantiert einer neben dir.«

Die Leichen verscharrt man ohne Zeremonie in anonymen Massengräbern außerhalb des Lagergeländes. Eine Tätigkeit, die von den Gefangenen selbst ausgeführt werden muss, durch ein eigens eingerichtetes Totenkommando.

Das Nichtstun ist neben dem Hungern eine kaum vorstellbare Folter. Im Lager Mühlberg darf nur die für den laufenden Betrieb zwingend notwendige Arbeit verrichtet werden, und somit beschränken sich die wenigen Arbeitskommandos auf die Küchenarbeit und Essensverteilung, die Entsorgung der Fäkalien, die Beerdigung der Toten. Ein Holzkommando schafft täglich Brennmaterial heran und wenige Ärzte und Schwestern versorgen notdürftig die Erkrankten. Die Arbeitenden im Lager Mühlberg erhalten einen Nachschlag bei der täglichen Suppenration.

»Jeder versuchte, ein bisschen Arbeit zu bekommen. Ich hatte das Glück.«

Dank seiner großen und kräftigen Statur wird Helmut der Brotversorgung zugeteilt. Anfangs ist es seine Aufgabe, die im Magazin gelagerten Mehlsäcke mittels einer primitiven, zweirädrigen Karre an die Bäckerei zu liefern. Etwa drei Tonnen Mehl am Tag müssen bewegt werden, um die erforderliche Anzahl Brote für die etwa 12.000 Gefangenen zu backen, und in der Bäckerei arbeitet man zu diesem Zweck rund um die Uhr in drei Schichten.

Das fertig gebackene, noch heiße Brot wird in der Brotkammer der Bäckerei zum Abkühlen auf Bretter gelegt und am nächsten Tag ins Magazin gebracht, von wo aus es abgeholt und an die Internierten verteilt wird. Helmut arbeitet auch als Brotträger und später in der Speisekammer und bei der Brotausgabe.

Ab Juli 1946 gibt es eine Vielzahl von Veränderungen im Lageralltag. Zunächst wird eine Zonenunterteilung des Lagergeländes beschlossen und mittels Stacheldrahtzäunen umgesetzt. Den Inhaftierten ist es fortan nur noch erlaubt, sich in jener Zone frei zu bewegen, in der sich ihre Unterkunft befindet.

Darüber hinaus erfolgt eine Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen. Die sowjetische Lagerverwaltung setzt elektrische Alarmzäune an die Zonengrenzen, patrouilliert mit Wachhunden und überprüft mittels geharkter Streifen das unbefugte Betreten von Sperrbereichen, sie installiert schwenkbare Scheinwerfer und eine nächtliche Beleuchtungsanlage und versieht die Absperrung nach außen mit einem Sichtschutz aus hohen Holzpalisaden.

Am 4. November 1946 wird die Brotration halbiert. Jeder Gefangene erhält täglich nur noch 300 Gramm von der Backware, die weit weniger kompakt und sättigend ist, als man es vom deutschen Brot gewohnt ist. Auch die Qualität der Suppen wird schlechter: Der Dreiviertelliter Kartoffelsuppe, der mittags ausgegeben wird, weist kaum drei Löffel fester Substanz auf. Abends erhalten die Internierten meistens einen halben Liter Wassersuppe mit wenigen Graupen oder Hirse.

Die Zahl der Todesfälle steigt nun rasant an und für die vielen an Dystrophie Erkrankten werden gesonderte Baracken eingerichtet. An manchen Tagen reichen die 50 Tragen, über die das Beerdigungskommando verfügt, nicht mehr aus. Schon tagsüber bereiten die Totengräber die Gruben vor, in denen die Leichen aufeinandergeschichtet vergraben werden. Bei starkem Frost heben die Männer vorsorglich größere Löcher aus.

Die Jahreswende 1946/47 wird als Hungerwinter in die Geschichtsbücher eingehen, denn es ist einer der kältesten Winter des 20. Jahrhunderts. Das spüren auch die Gefangenen des sowjetischen Speziallagers Mühlberg, die in den Baracken mitunter versuchen, die Öfen umzubauen, um deren Wärmeleistung zu verbessern. Während von Mitte Juni bis Ende Dezember 1946 619 Tote registriert sind, sterben allein im Januar 1947 515 Insassen.

Anfang Januar 1947 finden die ersten Transporte in die Sowjetunion statt. Insgesamt bringt man etwa 27.000 Arbeitstaugliche aus der SBZ in die Lager des GULAG. Aus der Perspektivlosigkeit ihrer derzeitigen Lebenssituation heraus melden sich etliche Männer freiwillig für den Transport. Eine groß angelegte Musterung soll alle Arbeitsfähigen unter den Internierten des Speziallagers Nr. 1 herausfiltern.

»Du musstest nackt vor, dich rumdrehen und bücken.«

Der körperliche Zustand der Mühlberger Gefangenen ist schlecht. Unter den etwa 12.000 Internierten werden nur 821 für arbeitstauglich befunden, die meisten davon Angehörige eines Arbeitskommandos. Sie werden am 8. Februar 1947 mit Wattebekleidung und Pelzmützen der deutschen Wehrmacht ausgestattet und in primitiven Güterwagen ins sibirische Zwangsarbeitslager 7503/11 Anschero-Sudschensk gebracht.

Auch Helmut wird gemustert. Der 17-Jährige hat solche Angst vor der Situation, dass sein Herz laut und schnell schlägt und die sowjetischen Ärzte den diagnostizierten Herzfehler anerkennen.

»Und ich bin wieder zurück in die Bäckerei. So schlug ich die ganzen Monate tot.«

Das soziologische Gefüge im Speziallager Mühlberg ändert sich nun grundlegend, denn vor allem Alte und Kranke sind im Lager verblieben. Im Frühjahr 1947 kommen weitere Arbeitsunfähige aus den in Auflösung befindlichen Speziallagern Jamlitz und Ketschendorf hinzu – unter ihnen 880 Frauen und fünf Kleinkinder.

Pessimismus, fortwährender Hunger und Ängste schwächen die Verbliebenen. In der ersten Jahreshälfte sterben 2.450 Insassen. Nach dem Besuch einer sowjetischen Kommission im Februar 1948, welche die Zustände im Lager harsch kritisiert, deuten sich wieder Veränderungen an. Eine Untersuchung ergibt, dass 35 Prozent der Insassen an Tuberkulose erkrankt sind. Die hochgradig ansteckende Krankheit hat somit das Niveau einer Seuche erreicht. Zur Isolierung der Tbc-Kranken baut man das halbe Männerlager in einen Lazarettbereich um.

Ab April 1948 wird das Speziallager Mühlberg schließlich nach und nach aufgelöst. Der Großteil der Internierten darf in den Sommermonaten die Heimreise antreten. Im Vorgehen der sowjetischen Lagerleitung ist keinerlei Struktur erkennbar. Immer wieder gibt es Ausnahmen bei der Reihenfolge der fünfstelligen Registrierungsnummern. Manche Männer warten vergeblich auf ihren Aufruf oder werden verlegt, andere sterben, noch bevor sie an der Reihe sind.

Für Helmut ist Freitag, der 6. August 1948, der langersehnte Tag der Freiheit. Gemeinsam mit einem weiteren Jugendlichen aus Falkenhain, der schon auf dem Hinweg mit ihm auf der Ladefläche des Lkw hockte, tritt er nun den Weg nach Hause an. Zwei der anderen Falkenhainer, die ihn damals begleiteten, werden nach Buchenwald verlegt. Der fünfte der Gruppe aus Falkenhain und die zwei Männer aus dem Nachbarort waren Teil des Pelzmützentransports.

Nebst Geld für eine Fahrkarte händigt man jedem Heimkehrer eine Bescheinigung aus. Der Inhalt des Schreibens ist eine Irreführung, denn er verzeichnet ein namenloses Internierungslager und trägt die Unterschrift des Landespolizeichefs von Sachsen-Anhalt – und nicht die eines MWD-Offiziers. So werden der tatsächliche Aufenthaltsort der letzten drei Jahre und die Verantwortlichkeit der sowjetischen Militäradministration verschleiert.

Dokument: Entlassungsbescheid für Helmut Janke vom 6. August 1948

Entlassungsbescheid für Helmut Janke vom 6. August 1948

Bei der Entlassung droht man Helmut und seinen Kameraden damit, dass sie schneller als gedacht wieder dahin zurückkehren würden, wo sie gerade herkämen, sollten sie kein Stillschweigen über ihre Zeit in Gefangenschaft wahren.

»Daran hielten wir uns.«

Nach fast 33 Monaten in sowjetischer Gefangenschaft erreicht Helmut sein Elternhaus in Falkenhain. Er ist nun 18 Jahre alt. Seine Familie, die während der ganzen Zeit keinen Kontakt zu ihm aufnehmen durfte, wird von seiner Rückkehr freudig überrascht.

Helmuts Vater jedoch wartet nicht zu Hause auf ihn. Wie die Familie nach der deutschen Wiedervereinigung ermittelt, ist Kurt Janke bereits am 17. September 1945 im sowjetischen Speziallager Tost verstorben.

Mit der ausgehändigten Entlassungsbescheinigung muss sich Helmut wieder in seiner Heimatgemeinde anmelden. Ein handschriftlicher Vermerk auf dem Schriftstück weist darauf hin, dass man sich bei der Registrierung des jungen Heimkehrers eine besondere Notiz in die Akten macht: »gemeldet bei K5 / Wurzen, den 10.8.1948 / Lehmann«.

Unter der Bezeichnung »K5« besteht seit Januar 1947 ein Vorläufer des späteren Ministeriums für Staatssicherheit MfS der DDR. Auf Länderebene führen die K5-Abteilungen als Teil der politischen Polizei geheimdienstliche Operationen durch – neben der Ermittlungsarbeit zur Entnazifizierung auch nachrichtendienstliche Aufträge. Es ist davon auszugehen, dass Helmut ab diesem Zeitpunkt unter besonderer Beobachtung steht, die später von den Mitarbeitern der Stasi fortgeführt wird.

Aufgrund von Repressalien sowie der fehlenden Arbeitskraft des verstorbenen Vaters und der kriegsversehrten Brüder ist die wirtschaftliche Lage der Familie eine deutlich schlechtere, als noch vor Kriegsende. Helmut hat seine Ausbildung aufgrund der Verhaftung nicht abschließen können und muss sich nun eine neue Existenz suchen, um den Lebensunterhalt zu bestreiten. Es verschlägt ihn ins 15 Kilometer entfernte Fremdiswalde, wo er am 3. Januar 1949 als Umschüler eine Lehrstelle in der Stellmacherwerkstatt von Hugo Naumann antritt.

Helmut beginnt hier nicht nur seine berufliche Karriere, sondern lernt auch Ilse, die jüngste Tochter des Stellmachers, kennen und lieben. Das Paar heiratet im November 1951. Ihre Tochter Maritta wird 1952 und 4 Jahre später der Sohn Harald geboren. Die jüngste Tochter Isolde, die 1968 das Licht der Welt erblickt, leidet jedoch an einer schweren Krankheit und stirbt noch bevor sie das 4. Lebensjahr erreichen kann.

Nach erfolgreich absolvierter Meisterprüfung übernimmt Helmut 1960 die Stellmacherei von seinem Schwiegervater. Die zwanghafte Etablierung der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) stellt den Privatbetrieb auf eine harte Probe. Wagenräder fertigt Helmut für seine Kunden nur noch selten, doch mit seinen handwerklichen Fähigkeiten bringt er die Familie gut über die Runden. Helmut betreibt die Werkstatt bis Juli 1992 und gibt sie dann an seinen Sohn Harald weiter, der die Stellmacherei Janke nun als Zimmereibetrieb führt.

Mit dem Ruhestand wird Helmut nicht weniger aktiv. Er engagiert sich jahrzehntelang in der Freiwilligen Feuerwehr Fremdiswalde und im Kirchenvorstand. Nach der deutschen Wiedervereinigung tritt Helmut in die CDU ein und übernimmt zeitweise das Amt des stellvertretenden Bürgermeisters von Grimma.

Helmut ist Mitglied der ersten Stunde der Initiativgruppe Lager Mühlberg (ILM). Er hilft bei unzähligen Arbeiten zur Erschließung und Gestaltung des ehemaligen Lagergeländes als Gedenkstätte. 1994 stellt er gemeinsam mit einem Kameraden auf dem Lagergelände ein selbstgefertigtes Holzkreuz mit der Inschrift »Unseren toten Kameraden der Kreise Grimma und Wurzen« auf. Der Vereinigung der Opfer des Stalinismus e.V. (VOS) tritt Helmut gegen Ende der 1990er Jahre bei und trifft sich regelmäßig mit der Wurzener Gruppe ehemaliger Mühlberg-Insassen.

Zwei Jahre nach ihrer Goldenen Hochzeit stirbt Helmuts Frau Ilse am 24. November 2003. Der Verlust trifft ihn schwer, doch er findet viel Unterstützung durch seine Kinder, Enkel und Urenkel, Freunde und Bekannte und in der Kirche.

Im August 2010 initiiert Helmut gemeinsam mit zwei Kameraden einen Gedenkstein auf dem Friedhof seines Heimatortes. Die tief empfundene Trauer um jene Kameraden, die die schwere Zeit im Speziallager nicht überlebten, begleitet ihn Zeit seines Lebens.

Helmut Janke verstirbt am 6. März 2019 im Alter von 89 Jahren. Seine Familie und viele Kameraden verabschieden ihn bei einer Trauerpredigt am 15. März 2019.

»70 Jahre haben mich die Ereignisse von damals begleitet und nicht losgelassen. Ich möchte dafür sorgen, dass sie nicht vergessen werden.«

Auf der Website www.lager-muehlberg.de steht die Biografie von Helmut Janke zum kostenfreien Download zur Verfügung: LINK