Dietmar Hammer

Dietmar Hammer

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»Wenn ich schon einmal auf dieser Welt lebe, dann will ich sie auch von allen Seiten sehen.«

Am 30. August 1944 geboren, wächst Dietmar Hammer im Leipzig der Nachkriegszeit auf. Er spielt mit den Kindern der Gegend auf den Straßen und in den alten Gartenanlagen beim heutigen Zentralstadion. Es gibt immer ein Abenteuer zu erleben.

Als Schüler ist Dietmar seine Bildung noch relativ egal. Seine Abschlussnoten fallen nur mittelmäßig aus, was die Möglichkeiten für Ausbildungsplätze deutlich einschränkt. Dank des Engagements seiner Eltern kann Dietmar aber eine gute Lehrstelle in der Landwirtschaft antreten.

Eigentlich möchte er dem Vorbild seines Stiefvaters folgen und Kürschner werden. Seit frühester Kindheit begleitet Dietmar die Eltern, wenn sie Kollegen besuchen oder Material einkaufen. Er wird auf die großen Schaukästen aufmerksam, in denen Kürschner ihre Verbindungen zu Lieferanten aus der ganzen Welt ausstellen.

Sein Interesse daran, diese Länder selbst zu besuchen und dort zu leben, ist groß. Aus diesem Grund schreibt Dietmar die Firmen an und bittet um die Zusendung von lokalen Postkarten. Viele Unter­nehmen kommen seiner Aufforderung nach und senden ihm freundliche Grüße aus ihren Heimatstädten.

1958 beginnt Dietmar seine Ausbildung zum Facharbeiter für Rinderzucht im Volkseigenen Gut (VEG) Cannewitz bei Grimma. Hier wird er bis zum zweiten Lehrjahr ausgebildet, das dritte Lehrjahr findet im VEG Stockhausen bei Döbeln statt. Dort ist er in einem Lehrlingswohnheim untergebracht.

»Als einer von der Gewerkschaft das Lehrlingswohnheim besuchen kam, zeigte ich voller Stolz meine Sammlung von Postkarten.«

Dietmars Leidenschaft kommt bei seinem parteitreuen Gegenüber jedoch alles andere als gut an, noch dazu, weil er seinen Absender auf den Briefkuverts mit einem »Deutschland«-Stempel versehen hat.

Mit zwei Freunden aus dem Lehrlingswohnheim meldet er sich spontan zur Matrosenausbildung der Volksmarine. Doch schon nach wenigen Monaten ziehen sie ihre unbedachte Bewerbung zurück, sie wollen erst einmal den Abschluss machen und Geld verdienen, anstatt sich für drei Jahre zu verpflichten.

In Dietmar reift der Wunsch heran, auszuwandern. Dabei ist nicht die Bundesrepublik sein Ziel, sondern höchstens eine Zwischen­station. Der 17-Jährige orientiert sich insbesondere nach Kanada, denn was als vage Begeisterung für fremde Länder begann, hat sich zu einer konkreten Sehnsucht entwickelt.

Es stößt auf sein Unverständnis, dass er als DDR-Bürger nicht fahren kann, wohin er möchte. Die SED-Ideologie vermittelt ihm, er müsse vor dem Klassenfeind geschützt werden, doch der wiederum darf sich frei bewegen. Dietmars Verlangen, die DDR zu verlassen, wird immer größer. Zuvor will er aber seine Lehre beenden; das Abschlusszeugnis gibt es Ende August 1961.

»Da kam der 13. August dazwischen. Dann hieß es eben, weiter hier zu leben, zu arbeiten.«

Dietmar arbeitet nun zwei Jahre bei der Akademie für Betriebs­wissen­schaften der Karl-Marx-Universität als Rinder­züchter, danach ein halbes Jahr als Versuchstechniker für land­wirt­schaft­liche Arbeitsmaschinen in Leipzig Gundorf. Er genießt seine Jugend, trifft sich mit Gleichaltrigen im Kulturraum. Um sich Geld für die Teilnahme am Pfingsttreffen der Freien Deutschen Jugend (FDJ) zu verdienen, schachten die Jugendlichen in Gundorf Kabelgräben aus.

Weil Dietmar unter den jungen Männern eine führende Stellung einnimmt, wird er für eine Mitarbeit in der Bezirksleitung der FDJ angeworben. Neugierig und unvoreingenommen nimmt Dietmar das Angebot an. Doch die einstudierte Begeisterung, die den Jugendlichen auf Versammlungen abverlangt wird, wirkt schnell abstoßend auf ihn.

1964 nimmt Dietmar an der Fachschule für Landwirtschaft in Zschortau-Lützschena ein Studium auf. Er wird mit dem stellvertretenden Vorsitz der Zentralen Schülergruppen-Leitung betraut. In seinem Abschlusszeugnis als staatlich geprüfter Landwirt fällt die Beurteilung über seine Ausübung der beiden Ämter schlecht aus. Seine Mitarbeit wird als schwach eingeschätzt, es sei noch vieles nötig, um den Standpunkt der Republik zu vertreten.

Dietmar beginnt, genauer hinzuhören, wenn jemand aus seinem Umfeld von einer versuchten oder geglückten Flucht aus der DDR erzählt, und prägt sich diese Erfahrungsberichte genau ein. Über einen Bekannten in Polen erfährt er von der Möglichkeit, mittels eines Transitvisums über Polen nach Österreich auszureisen.

»Für mich kam nie in Frage, über einen Zaun zu klettern. Mein Leben war mir zu wertvoll.«

Eines Tages bittet ihn ein Freund um Fluchthilfe. Auf dem Leipziger Hauptbahnhof besteigen sie gemeinsam einen Zug, und Dietmar hilft dem Freund dabei, sich in einer Luke über der Toilettenkabine einzuschließen. Der Fluchtversuch schlägt fehl, denn an der Grenze wittern die Spürhunde den Versteckten und der Freund wird gefasst. Dietmar wird zum Verhör geholt, doch er hat Glück, denn die Beamten des Ministeriums für Staatssicherheit MfS decken seine Beihilfe nicht auf.

Nach Abschluss seines Studiums 1967 arbeitet Dietmar als Ingenieur im VEB Meliorationsprojektierung, wo er Bewässerungs- und Beregnungsanlagen im Raum Halle und Leipzig betreut. Die Arbeit gefällt ihm sehr, deshalb bildet er sich ab 1968 noch mit einem zusätzlichen Studium als Meliorationsingenieur an der Ingenieurschule Fürstenwalde weiter, das er 1970 beendet.

Der zum Arbeitsalltag gehörenden Veranstaltungen ist er mittler­weile überdrüssig. Bei Betriebs­versammlungen oder Produktions­besprechungen tragen die Redner stets zuerst ausschweifende Referate zu den Errungenschaften der Sowjetunion und der Bedeutung des Sozialismus vor, ehe die Angelegenheiten des Betriebes besprochen werden.

»Das ging mir so auf die Nerven, weil es ja nicht die Arbeit betraf.«

Dietmars Ausreisepläne nehmen zunehmend Konturen an. Er unternimmt mehrere Reisen nach Polen, die er nutzt, um seine Flucht vorzubereiten. Im Sommer 1970 fragt er bei der öster­reichischen Botschaft nach, ob die Erteilung eines Visums möglich sei. Dies wird ihm bestätigt, einzige Bedingung ist die Einladung eines öster­reichischen Staats­ange­hörigen zu einem Besuch. Er beschafft sich diese Einladung über eine polnische Bekannte mit öster­reichischer Verwandt­schaft.

Im Herbst fährt Dietmar erneut nach Polen, um seine Abschluss­zeugnisse auf sicherem Weg in die Bundesrepublik zu schicken. Empfänger ist die Mutter seines Freundes, der noch wegen des missglückten Fluchtversuchs in Haft sitzt, kurze Zeit später jedoch von der Bundesrepublik freigekauft wird. Über den Verkauf eines Saxophons kommt Dietmar in den Besitz von fünfzig Dollar – Devisen, die er für den Erwerb seiner Flugkarte benötigen wird.

Obwohl er sich gleichzeitig für ein Fernstudium in Wirtschaftsrecht an der Humboldt-Universität bewirbt, setzt Dietmar am 20. April 1971 seine lang gehegten Fluchtpläne schließlich in die Tat um. Weder seine Freundin noch die Eltern hat er in sein Vorhaben eingeweiht.

»Ich habe das nur mit mir selbst ausgemacht. Weil ich ja wusste, wie gefährlich es ist, wenn andere mit hineingezogen werden.«

Unter dem Vorwand, dort Urlaub machen zu wollen, reist Dietmar gemeinsam mit seiner Freundin mittels einer visafreien Reise­anlage nach Polen. Die tatsächlich mitgeführten Geldbeträge gibt er in seiner Zoll- und Devisenerklärung nicht an.

Am 23. April erhält er in der österreichischen Botschaft auf Vorzeigen seiner Einladung das Transitvisum zur Einreise nach Österreich und stellt schließlich seine Freundin am 27. April auf dem Flughafen Warschau vor vollendete Tatsachen. Sie ist nicht sonderlich überrascht, jedoch unangenehm berührt, diejenige sein zu müssen, die seine Eltern über die Flucht benachrichtigt. Dietmar vereinbart mit seiner Freundin, sie in absehbarer Zeit nachzuholen.

Bei der Passkontrolle sind die Grenzbeamten irritiert, dass Dietmars Papiere nicht die Einreise nach Polen nachweisen. Er zeigt seine visafreie Reise­anlage, doch die Beamten ahnen, dass es sich um einen Ausreiseversuch handelt, und setzen ihn fest. Über eine Stunde muss er auf einen Verantwortlichen warten, unter­dessen hört er, wie man ihn mehrfach für den gebuchten Flug nach Wien ausruft.

Dietmar kommt für zwei Tage in polnische Untersuchungshaft. Unter einfachsten Bedingungen, nur mit einer Decke auf dem blanken Boden, schläft er in der Zelle. Er ist sich bewusst, dass er seine Darstellung, nur jemanden in Österreich besuchen zu wollen, nicht lange aufrechterhalten kann.

»Am nächsten Tag wurde ich abgeholt und meine Flugkarte nach Wien bedauerlicherweise nach Berlin umgeschrieben.«

Am 29. April 1971 wird Dietmar von Berlin nach Leipzig gebracht, in die Untersuchungshaftanstalt der Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit MfS in der Beethovenstraße. Das Gebäude ist Teil eines großen Justiz- und Gefängniskomplexes gegenüber dem ehemaligen Reichsgericht. Die Regeln in der Haftanstalt sind streng.

Zunächst wird Dietmar eine Zeitlang in einer Einzelzelle isoliert, danach hat er ständig wechselnde Mitinsassen. Den Hof darf er nur in sogenannten Freigangboxen betreten – längliche, übermanns­hohe Betonkästen, die von oben durch Wachposten beobachtet werden. Auf den Korridoren existiert ein Ampelsystem, das verhindert, dass sich die Häftlinge auf dem Weg zu ihren Ver­nehmungen untereinander begegnen.

»Dann ging das ganze Theater mit den Befragungen los.«

Zwei Vernehmer wechseln sich mit den Verhören ab. Der eine schreit und droht Dietmar, während der andere mit Engelszungen auf ihn einredet. Die MfS-Mitarbeiter haben in seinem Umfeld offensichtlich gut recherchiert. Sie konfrontieren den 26-Jährigen mit Details aus seiner Kindheit und Jugend, an die er selbst gar nicht mehr gedacht hat. Dietmar ist erstaunt über den hohen Aufwand, der seinetwegen betrieben wird.

Am Ende der Verhöre steht die Verhandlung über seine Strafsache vor dem Kreisgericht Leipzig am 26. November 1971. Dietmar erhält eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten nach Paragraf 213 für den versuchten ungesetzlichen Grenzübertritt.

Die Strafe fällt besonders hoch aus, denn Anklagepunkte sind der Missbrauch des Reisepasses, die Erschleichung einer Genehmigung zum Verlassen der DDR und Devisenschmuggel. Die Straftat wird als äußerst intensiv und zielstrebig vorbereitet eingeschätzt.

Urteil des Kreisgerichts Leipzig, 29. November 1971, Seite 4

Dietmar geht vor dem Bezirksgericht Leipzig in Berufung. Deren Ergebnis ist lediglich, dass er vom Vorwurf der versuchten Republikflucht im Zusammenhang mit einer Bewerbung beim VEB Deutsche Seereederei Rostock freigesprochen wird. Das Strafmaß bleibt unverändert.

Sechs Wochen verbringt Dietmar in der Straf­vollzugs­einrichtung Alfred-Kästner-Straße. Dann geht es mit dem Grotewohl-Express zur Strafvollzugsanstalt Cottbus. Das Gefängnis befindet sich in der Bautzener Straße am Spreeufer in Cottbus. Bereits 1951 wird das Cottbuser Zentralgefängnis dem Ministerium des Innern unterstellt und zu einer wichtigen politischen Vollzugsanstalt der DDR.

Das Haftregime ist scharf, Gewalt gegenüber den Häftlingen durch die Wachhabenden ist keine Ausnahme. Seit Mitte der 1960er-Jahre werden in Cottbus besonders viele verurteilte Ausreisewillige inhaftiert. Die Haftanstalt verfügt nur über eine sehr primitive sanitäre Ausstattung und ist mit 500 bis 1000 Häftlingen belegt.

Dietmar wird zusammen mit vier Häftlingen in einer Zelle untergebracht. Er muss Schleif- und Polierarbeiten an Uhren­deckeln des VEB Uhrenwerke Ruhla und an Gehäusen des Kombinates VEB Pentacon durchführen, dabei hat er stets eine Norm zu erfüllen. Die Essensversorgung ist zwar quantitativ hinreichend, aber ungesund und zum großen Teil ohne jeden Geschmack.

Gelegentlich bekommt Dietmar mit, wie die Transporte der in die Bundesrepublik Freigekauften zusammengestellt werden. Durch die Fenster rufen sich die Männer johlend Abschiedsgrüße zu. Wehmütig hört Dietmar zu, wie sich die anderen auf die nahende Auswanderung freuen. Doch er selbst stellt keinen Ausreiseantrag, da er seiner Freundin das Eheversprechen gegeben hat.

Am 20. Dezember 1972 wird Dietmar aufgrund einer Amnestie, die zum 23. Jahrestag der DDR-Gründung verkündet wird, entlassen. Er muss somit sieben Monate Haft weniger verbüßen. Auf seiner Arbeitsstelle beim VEB Meliorationsbau Leipzig nimmt man ihn unproblematisch wieder auf.

Er hat regelmäßige Kadergespräche, die protokolliert und abge­geben werden müssen. Dietmars Arbeitsleistung und sein Verhalten gegenüber Kollegen werden in den Protokollen gelobt, nur seine politische Einstellung findet Kritik. Bei den Gesprächen gibt er nämlich stets an, nicht dauerhaft in der DDR bleiben zu wollen.

Nach seiner Hochzeit beantragt Dietmar gemeinsam mit seiner Frau im September 1973 zum ersten Mal die Ausreise aus der DDR beim Rat des Kreises Leipzig. Sie begründen dies vor allem mit der Notwendigkeit, die kranke Tochter seiner Frau in einer Rehabili­tations­anstalt unterzubringen. Dietmars Gehalt reicht für die Versorgung der ganzen Familie nicht aus.

Die Ablehnung des Antrags wird mit noch laufenden Ver­hand­lungen zwischen der DDR und der Bundesrepublik gerechtfertigt. Im Januar 1974 schreibt Dietmar erneut ein Gesuch, diesmal direkt an den Staatsratsvorsitzenden Willi Stoph, doch wieder folgt die Ablehnung. Die Absagen erhält er nie schriftlich, sie werden ihm im Rahmen einer Vorladung mündlich mitgeteilt.

Dietmar Hammers zweiter Ausreiseantrag vom 20. Januar 1974

Dietmars Ehe scheitert. Er wechselt seine Arbeitsstelle und wird beim VEB Verkehrs- und Tiefbaukombinat Leipzig als Bauleiter im Straßenbau tätig. Dort lernt er seine heutige Frau kennen, die als Sekretärin im Betrieb arbeitet. Sie bringt zwei Töchter mit in die Ehe, gemeinsam bekommen sie noch ein weiteres Mädchen.

1985 übernimmt Dietmar eine Gärtnerei und bildet sich in der Abendschule zum Gärtnermeister weiter. Dann kommt in Leipzig die Friedliche Revolution in Gang. Dietmar hat als Selbstständiger rund um die Uhr zu arbeiten, doch als die Herbstdemonstrationen beginnen, lässt er es sich nicht nehmen, sich anzuschließen. Anfangs wird er von seiner Frau mit Kinderwagen auf den Platz vor der Nikolaikirche begleitet, doch die Menschen warnen, das sei zu gefährlich, also geht er danach nur noch allein.

»Als der Zug um die Runde Ecke lief, ich mittendrin, und die ganzen Stufen voll Kerzen, das Gebäude dunkel, da lief es mir kalt den Rücken runter.«

Am 9. November 1989, an einem Donnerstag, fällt die Mauer, die bisher die DDR von der Bundesrepublik getrennt hat. Sofort am darauffolgenden Wochenende setzt sich Dietmar mit seiner Familie ins Auto und fährt in die Partnerstadt Hannover. Das Erlebnis ist für ihn beeindruckend und allein die Erinnerung daran rührt ihn manchmal heute noch zu Tränen.

Nun folgt ein wirtschaftlicher Aufschwung für Dietmar. Er entwickelt den Betrieb in Richtung Garten- und Landschaftsbau weiter, baut Spielplätze in Grünau, übernimmt die Innenhof­gestaltung bei Haussanierungen. Bis zu dreißig Mitarbeiter beschäftigt er, schafft sich Maschinen und Fahrzeuge an.

Doch viele Auftraggeber gehen in die Insolvenz und bezahlen ihn nicht. Trotz seiner Rücklagen kann er die Verluste letztendlich nicht stemmen und muss 2001 selbst Insolvenz anmelden. In den folgenden Jahren kann Dietmar seine Firma zwar retten, hat aber bis zum heutigen Tage noch mit Spätfolgen zu kämpfen.

Seiner ursprünglichen Sehnsucht nach dem Auswandern, die noch immer vorhanden ist, kann er nun durch vielfältige Reisen nachgehen. Er besucht unter anderem Südafrika, Dubai und New York.

Dietmars Rehabilitierung erfolgt am 29. November 1991, ein Anwalt übernimmt für ihn die Formalitäten. Er erhält soziale Ausgleichs­leistungen für die Haftzeit und sein Eintrag im Straf­register wird gelöscht. Seine Stasi-Akte hat er jedoch bis heute nicht angefordert, denn er ist unsicher, ob er tatsächlich wissen will, was darin steht.

Dietmar engagiert sich in der Vereinigung der Opfer des Stalinismus e. V. (VOS), er ist stellvertretender Bezirks­vorsitzender für Leipzig. Wenn er die Erlebnisse anderer VOS-Mitglieder hört oder durch Fernsehberichte mit der politischen Haft in der DDR konfrontiert wird, kann es passieren, dass ihn nachts Albträume überfallen. Die eigenen Erinnerungen an seine Haftzeit hat Dietmar lange unterdrückt.

Noch immer sträubt sich sein Gerechtigkeitsempfinden dagegen zu verstehen, wieso er und andere, die Fluchtversuche aus der DDR unternahmen, so hart bestraft worden sind, obwohl sie lediglich von einem Land ins andere wollten.

»Wenn ich schon einmal auf dieser Welt lebe, dann will ich sie auch von allen Seiten sehen.«

Am 30. August 1944 geboren, wächst Dietmar Hammer im Leipzig der Nachkriegszeit auf. Er spielt mit den Kindern der Gegend auf den Straßen und in den alten Gartenanlagen beim heutigen Zentralstadion. Es gibt immer ein Abenteuer zu erleben.

Als Schüler ist Dietmar seine Bildung noch relativ egal. Seine Abschlussnoten fallen nur mittelmäßig aus, was die Möglichkeiten für Ausbildungsplätze deutlich einschränkt. Dank des Engagements seiner Eltern kann Dietmar aber eine gute Lehrstelle in der Landwirtschaft antreten.

Eigentlich möchte er dem Vorbild seines Stiefvaters folgen und Kürschner werden. Seit frühester Kindheit begleitet Dietmar die Eltern, wenn sie Kollegen besuchen oder Material einkaufen. Er wird auf die großen Schaukästen aufmerksam, in denen Kürschner ihre Verbindungen zu Lieferanten aus der ganzen Welt ausstellen.

Sein Interesse daran, diese Länder selbst zu besuchen und dort zu leben, ist groß. Aus diesem Grund schreibt Dietmar die Firmen an und bittet um die Zusendung von lokalen Postkarten. Viele Unter­nehmen kommen seiner Aufforderung nach und senden ihm freundliche Grüße aus ihren Heimatstädten.

1958 beginnt Dietmar seine Ausbildung zum Facharbeiter für Rinderzucht im Volkseigenen Gut (VEG) Cannewitz bei Grimma. Hier wird er bis zum zweiten Lehrjahr ausgebildet, das dritte Lehrjahr findet im VEG Stockhausen bei Döbeln statt. Dort ist er in einem Lehrlingswohnheim untergebracht.

»Als einer von der Gewerkschaft das Lehrlingswohnheim besuchen kam, zeigte ich voller Stolz meine Sammlung von Postkarten.«

Dietmars Leidenschaft kommt bei seinem parteitreuen Gegenüber jedoch alles andere als gut an, noch dazu, weil er seinen Absender auf den Briefkuverts mit einem »Deutschland«-Stempel versehen hat.

Mit zwei Freunden aus dem Lehrlingswohnheim meldet er sich spontan zur Matrosenausbildung der Volksmarine. Doch schon nach wenigen Monaten ziehen sie ihre unbedachte Bewerbung zurück, sie wollen erst einmal den Abschluss machen und Geld verdienen, anstatt sich für drei Jahre zu verpflichten.

In Dietmar reift der Wunsch heran, auszuwandern. Dabei ist nicht die Bundesrepublik sein Ziel, sondern höchstens eine Zwischen­station. Der 17-Jährige orientiert sich insbesondere nach Kanada, denn was als vage Begeisterung für fremde Länder begann, hat sich zu einer konkreten Sehnsucht entwickelt.

Es stößt auf sein Unverständnis, dass er als DDR-Bürger nicht fahren kann, wohin er möchte. Die SED-Ideologie vermittelt ihm, er müsse vor dem Klassenfeind geschützt werden, doch der wiederum darf sich frei bewegen. Dietmars Verlangen, die DDR zu verlassen, wird immer größer. Zuvor will er aber seine Lehre beenden; das Abschlusszeugnis gibt es Ende August 1961.

»Da kam der 13. August dazwischen. Dann hieß es eben, weiter hier zu leben, zu arbeiten.«

Dietmar arbeitet nun zwei Jahre bei der Akademie für Betriebs­wissen­schaften der Karl-Marx-Universität als Rinder­züchter, danach ein halbes Jahr als Versuchstechniker für land­wirt­schaft­liche Arbeitsmaschinen in Leipzig Gundorf. Er genießt seine Jugend, trifft sich mit Gleichaltrigen im Kulturraum. Um sich Geld für die Teilnahme am Pfingsttreffen der Freien Deutschen Jugend (FDJ) zu verdienen, schachten die Jugendlichen in Gundorf Kabelgräben aus.

Weil Dietmar unter den jungen Männern eine führende Stellung einnimmt, wird er für eine Mitarbeit in der Bezirksleitung der FDJ angeworben. Neugierig und unvoreingenommen nimmt Dietmar das Angebot an. Doch die einstudierte Begeisterung, die den Jugendlichen auf Versammlungen abverlangt wird, wirkt schnell abstoßend auf ihn.

1964 nimmt Dietmar an der Fachschule für Landwirtschaft in Zschortau-Lützschena ein Studium auf. Er wird mit dem stellvertretenden Vorsitz der Zentralen Schülergruppen-Leitung betraut. In seinem Abschlusszeugnis als staatlich geprüfter Landwirt fällt die Beurteilung über seine Ausübung der beiden Ämter schlecht aus. Seine Mitarbeit wird als schwach eingeschätzt, es sei noch vieles nötig, um den Standpunkt der Republik zu vertreten.

Dietmar beginnt, genauer hinzuhören, wenn jemand aus seinem Umfeld von einer versuchten oder geglückten Flucht aus der DDR erzählt, und prägt sich diese Erfahrungsberichte genau ein. Über einen Bekannten in Polen erfährt er von der Möglichkeit, mittels eines Transitvisums über Polen nach Österreich auszureisen.

»Für mich kam nie in Frage, über einen Zaun zu klettern. Mein Leben war mir zu wertvoll.«

Eines Tages bittet ihn ein Freund um Fluchthilfe. Auf dem Leipziger Hauptbahnhof besteigen sie gemeinsam einen Zug, und Dietmar hilft dem Freund dabei, sich in einer Luke über der Toilettenkabine einzuschließen. Der Fluchtversuch schlägt fehl, denn an der Grenze wittern die Spürhunde den Versteckten und der Freund wird gefasst. Dietmar wird zum Verhör geholt, doch er hat Glück, denn die Beamten des Ministeriums für Staatssicherheit MfS decken seine Beihilfe nicht auf.

Nach Abschluss seines Studiums 1967 arbeitet Dietmar als Ingenieur im VEB Meliorationsprojektierung, wo er Bewässerungs- und Beregnungsanlagen im Raum Halle und Leipzig betreut. Die Arbeit gefällt ihm sehr, deshalb bildet er sich ab 1968 noch mit einem zusätzlichen Studium als Meliorationsingenieur an der Ingenieurschule Fürstenwalde weiter, das er 1970 beendet.

Der zum Arbeitsalltag gehörenden Veranstaltungen ist er mittler­weile überdrüssig. Bei Betriebs­versammlungen oder Produktions­besprechungen tragen die Redner stets zuerst ausschweifende Referate zu den Errungenschaften der Sowjetunion und der Bedeutung des Sozialismus vor, ehe die Angelegenheiten des Betriebes besprochen werden.

»Das ging mir so auf die Nerven, weil es ja nicht die Arbeit betraf.«

Dietmars Ausreisepläne nehmen zunehmend Konturen an. Er unternimmt mehrere Reisen nach Polen, die er nutzt, um seine Flucht vorzubereiten. Im Sommer 1970 fragt er bei der öster­reichischen Botschaft nach, ob die Erteilung eines Visums möglich sei. Dies wird ihm bestätigt, einzige Bedingung ist die Einladung eines öster­reichischen Staats­ange­hörigen zu einem Besuch. Er beschafft sich diese Einladung über eine polnische Bekannte mit öster­reichischer Verwandt­schaft.

Im Herbst fährt Dietmar erneut nach Polen, um seine Abschluss­zeugnisse auf sicherem Weg in die Bundesrepublik zu schicken. Empfänger ist die Mutter seines Freundes, der noch wegen des missglückten Fluchtversuchs in Haft sitzt, kurze Zeit später jedoch von der Bundesrepublik freigekauft wird. Über den Verkauf eines Saxophons kommt Dietmar in den Besitz von fünfzig Dollar – Devisen, die er für den Erwerb seiner Flugkarte benötigen wird.

Obwohl er sich gleichzeitig für ein Fernstudium in Wirtschaftsrecht an der Humboldt-Universität bewirbt, setzt Dietmar am 20. April 1971 seine lang gehegten Fluchtpläne schließlich in die Tat um. Weder seine Freundin noch die Eltern hat er in sein Vorhaben eingeweiht.

»Ich habe das nur mit mir selbst ausgemacht. Weil ich ja wusste, wie gefährlich es ist, wenn andere mit hineingezogen werden.«

Unter dem Vorwand, dort Urlaub machen zu wollen, reist Dietmar gemeinsam mit seiner Freundin mittels einer visafreien Reise­anlage nach Polen. Die tatsächlich mitgeführten Geldbeträge gibt er in seiner Zoll- und Devisenerklärung nicht an.

Am 23. April erhält er in der österreichischen Botschaft auf Vorzeigen seiner Einladung das Transitvisum zur Einreise nach Österreich und stellt schließlich seine Freundin am 27. April auf dem Flughafen Warschau vor vollendete Tatsachen. Sie ist nicht sonderlich überrascht, jedoch unangenehm berührt, diejenige sein zu müssen, die seine Eltern über die Flucht benachrichtigt. Dietmar vereinbart mit seiner Freundin, sie in absehbarer Zeit nachzuholen.

Bei der Passkontrolle sind die Grenzbeamten irritiert, dass Dietmars Papiere nicht die Einreise nach Polen nachweisen. Er zeigt seine visafreie Reise­anlage, doch die Beamten ahnen, dass es sich um einen Ausreiseversuch handelt, und setzen ihn fest. Über eine Stunde muss er auf einen Verantwortlichen warten, unter­dessen hört er, wie man ihn mehrfach für den gebuchten Flug nach Wien ausruft.

Dietmar kommt für zwei Tage in polnische Untersuchungshaft. Unter einfachsten Bedingungen, nur mit einer Decke auf dem blanken Boden, schläft er in der Zelle. Er ist sich bewusst, dass er seine Darstellung, nur jemanden in Österreich besuchen zu wollen, nicht lange aufrechterhalten kann.

»Am nächsten Tag wurde ich abgeholt und meine Flugkarte nach Wien bedauerlicherweise nach Berlin umgeschrieben.«

Am 29. April 1971 wird Dietmar von Berlin nach Leipzig gebracht, in die Untersuchungshaftanstalt der Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit MfS in der Beethovenstraße. Das Gebäude ist Teil eines großen Justiz- und Gefängniskomplexes gegenüber dem ehemaligen Reichsgericht. Die Regeln in der Haftanstalt sind streng.

Zunächst wird Dietmar eine Zeitlang in einer Einzelzelle isoliert, danach hat er ständig wechselnde Mitinsassen. Den Hof darf er nur in sogenannten Freigangboxen betreten – längliche, übermanns­hohe Betonkästen, die von oben durch Wachposten beobachtet werden. Auf den Korridoren existiert ein Ampelsystem, das verhindert, dass sich die Häftlinge auf dem Weg zu ihren Ver­nehmungen untereinander begegnen.

»Dann ging das ganze Theater mit den Befragungen los.«

Zwei Vernehmer wechseln sich mit den Verhören ab. Der eine schreit und droht Dietmar, während der andere mit Engelszungen auf ihn einredet. Die MfS-Mitarbeiter haben in seinem Umfeld offensichtlich gut recherchiert. Sie konfrontieren den 26-Jährigen mit Details aus seiner Kindheit und Jugend, an die er selbst gar nicht mehr gedacht hat. Dietmar ist erstaunt über den hohen Aufwand, der seinetwegen betrieben wird.

Am Ende der Verhöre steht die Verhandlung über seine Strafsache vor dem Kreisgericht Leipzig am 26. November 1971. Dietmar erhält eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten nach Paragraf 213 für den versuchten ungesetzlichen Grenzübertritt.

Die Strafe fällt besonders hoch aus, denn Anklagepunkte sind der Missbrauch des Reisepasses, die Erschleichung einer Genehmigung zum Verlassen der DDR und Devisenschmuggel. Die Straftat wird als äußerst intensiv und zielstrebig vorbereitet eingeschätzt.

Urteil des Kreisgerichts Leipzig, 29. November 1971, Seite 4

Dietmar geht vor dem Bezirksgericht Leipzig in Berufung. Deren Ergebnis ist lediglich, dass er vom Vorwurf der versuchten Republikflucht im Zusammenhang mit einer Bewerbung beim VEB Deutsche Seereederei Rostock freigesprochen wird. Das Strafmaß bleibt unverändert.

Sechs Wochen verbringt Dietmar in der Straf­vollzugs­einrichtung Alfred-Kästner-Straße. Dann geht es mit dem Grotewohl-Express zur Strafvollzugsanstalt Cottbus. Das Gefängnis befindet sich in der Bautzener Straße am Spreeufer in Cottbus. Bereits 1951 wird das Cottbuser Zentralgefängnis dem Ministerium des Innern unterstellt und zu einer wichtigen politischen Vollzugsanstalt der DDR.

Das Haftregime ist scharf, Gewalt gegenüber den Häftlingen durch die Wachhabenden ist keine Ausnahme. Seit Mitte der 1960er-Jahre werden in Cottbus besonders viele verurteilte Ausreisewillige inhaftiert. Die Haftanstalt verfügt nur über eine sehr primitive sanitäre Ausstattung und ist mit 500 bis 1000 Häftlingen belegt.

Dietmar wird zusammen mit vier Häftlingen in einer Zelle untergebracht. Er muss Schleif- und Polierarbeiten an Uhren­deckeln des VEB Uhrenwerke Ruhla und an Gehäusen des Kombinates VEB Pentacon durchführen, dabei hat er stets eine Norm zu erfüllen. Die Essensversorgung ist zwar quantitativ hinreichend, aber ungesund und zum großen Teil ohne jeden Geschmack.

Gelegentlich bekommt Dietmar mit, wie die Transporte der in die Bundesrepublik Freigekauften zusammengestellt werden. Durch die Fenster rufen sich die Männer johlend Abschiedsgrüße zu. Wehmütig hört Dietmar zu, wie sich die anderen auf die nahende Auswanderung freuen. Doch er selbst stellt keinen Ausreiseantrag, da er seiner Freundin das Eheversprechen gegeben hat.

Am 20. Dezember 1972 wird Dietmar aufgrund einer Amnestie, die zum 23. Jahrestag der DDR-Gründung verkündet wird, entlassen. Er muss somit sieben Monate Haft weniger verbüßen. Auf seiner Arbeitsstelle beim VEB Meliorationsbau Leipzig nimmt man ihn unproblematisch wieder auf.

Er hat regelmäßige Kadergespräche, die protokolliert und abge­geben werden müssen. Dietmars Arbeitsleistung und sein Verhalten gegenüber Kollegen werden in den Protokollen gelobt, nur seine politische Einstellung findet Kritik. Bei den Gesprächen gibt er nämlich stets an, nicht dauerhaft in der DDR bleiben zu wollen.

Nach seiner Hochzeit beantragt Dietmar gemeinsam mit seiner Frau im September 1973 zum ersten Mal die Ausreise aus der DDR beim Rat des Kreises Leipzig. Sie begründen dies vor allem mit der Notwendigkeit, die kranke Tochter seiner Frau in einer Rehabili­tations­anstalt unterzubringen. Dietmars Gehalt reicht für die Versorgung der ganzen Familie nicht aus.

Die Ablehnung des Antrags wird mit noch laufenden Ver­hand­lungen zwischen der DDR und der Bundesrepublik gerechtfertigt. Im Januar 1974 schreibt Dietmar erneut ein Gesuch, diesmal direkt an den Staatsratsvorsitzenden Willi Stoph, doch wieder folgt die Ablehnung. Die Absagen erhält er nie schriftlich, sie werden ihm im Rahmen einer Vorladung mündlich mitgeteilt.

Dietmar Hammers zweiter Ausreiseantrag vom 20. Januar 1974

Dietmars Ehe scheitert. Er wechselt seine Arbeitsstelle und wird beim VEB Verkehrs- und Tiefbaukombinat Leipzig als Bauleiter im Straßenbau tätig. Dort lernt er seine heutige Frau kennen, die als Sekretärin im Betrieb arbeitet. Sie bringt zwei Töchter mit in die Ehe, gemeinsam bekommen sie noch ein weiteres Mädchen.

1985 übernimmt Dietmar eine Gärtnerei und bildet sich in der Abendschule zum Gärtnermeister weiter. Dann kommt in Leipzig die Friedliche Revolution in Gang. Dietmar hat als Selbstständiger rund um die Uhr zu arbeiten, doch als die Herbstdemonstrationen beginnen, lässt er es sich nicht nehmen, sich anzuschließen. Anfangs wird er von seiner Frau mit Kinderwagen auf den Platz vor der Nikolaikirche begleitet, doch die Menschen warnen, das sei zu gefährlich, also geht er danach nur noch allein.

»Als der Zug um die Runde Ecke lief, ich mittendrin, und die ganzen Stufen voll Kerzen, das Gebäude dunkel, da lief es mir kalt den Rücken runter.«

Am 9. November 1989, an einem Donnerstag, fällt die Mauer, die bisher die DDR von der Bundesrepublik getrennt hat. Sofort am darauffolgenden Wochenende setzt sich Dietmar mit seiner Familie ins Auto und fährt in die Partnerstadt Hannover. Das Erlebnis ist für ihn beeindruckend und allein die Erinnerung daran rührt ihn manchmal heute noch zu Tränen.

Nun folgt ein wirtschaftlicher Aufschwung für Dietmar. Er entwickelt den Betrieb in Richtung Garten- und Landschaftsbau weiter, baut Spielplätze in Grünau, übernimmt die Innenhof­gestaltung bei Haussanierungen. Bis zu dreißig Mitarbeiter beschäftigt er, schafft sich Maschinen und Fahrzeuge an.

Doch viele Auftraggeber gehen in die Insolvenz und bezahlen ihn nicht. Trotz seiner Rücklagen kann er die Verluste letztendlich nicht stemmen und muss 2001 selbst Insolvenz anmelden. In den folgenden Jahren kann Dietmar seine Firma zwar retten, hat aber bis zum heutigen Tage noch mit Spätfolgen zu kämpfen.

Seiner ursprünglichen Sehnsucht nach dem Auswandern, die noch immer vorhanden ist, kann er nun durch vielfältige Reisen nachgehen. Er besucht unter anderem Südafrika, Dubai und New York.

Dietmars Rehabilitierung erfolgt am 29. November 1991, ein Anwalt übernimmt für ihn die Formalitäten. Er erhält soziale Ausgleichs­leistungen für die Haftzeit und sein Eintrag im Straf­register wird gelöscht. Seine Stasi-Akte hat er jedoch bis heute nicht angefordert, denn er ist unsicher, ob er tatsächlich wissen will, was darin steht.

Dietmar engagiert sich in der Vereinigung der Opfer des Stalinismus e. V. (VOS), er ist stellvertretender Bezirks­vorsitzender für Leipzig. Wenn er die Erlebnisse anderer VOS-Mitglieder hört oder durch Fernsehberichte mit der politischen Haft in der DDR konfrontiert wird, kann es passieren, dass ihn nachts Albträume überfallen. Die eigenen Erinnerungen an seine Haftzeit hat Dietmar lange unterdrückt.

Noch immer sträubt sich sein Gerechtigkeitsempfinden dagegen zu verstehen, wieso er und andere, die Fluchtversuche aus der DDR unternahmen, so hart bestraft worden sind, obwohl sie lediglich von einem Land ins andere wollten.