»Noch jahrelang träumte ich vom Eingesperrtsein.«
Im Sommer 1954 befindet sich eine rheinland-pfälzische Delegation junger Kommunisten auf einer Rundreise, die sie in die sozialistischen Betriebe der DDR und der damaligen Volksrepublik Polen führt. Einer der Abgesandten ist der Kaufmann Kunibert Groß. Der junge Mann stammt aus Rodalben bei Pirmasens, wo er sowohl als Spitzensportler bekannt als auch wegen seines musikalischen Talents beliebt ist. Nicht zuletzt durch den Einfluss seines älteren Bruders gelangt Kunibert zu der tiefen Überzeugung, dass der Kommunismus die bessere Gesellschaftsordnung darstelle. In diesem Sinne engagiert er sich parteipolitisch und schließt sich der Delegation an, die sein ältester Bruder leitet.
Die Gruppe gastiert im August 1954 im sächsischen Döbeln, das mittig im Dreieck von Chemnitz, Dresden und Leipzig liegt. Döbeln ist nicht nur traditionelle Garnisonsstadt, sondern auch Industriestandort zahlreicher metallverarbeitender Betriebe, zum Beispiel aus dem Bereich des Landmaschinenbaus.
Um den jungen Männern nach den Betriebsbesichtigungen einen geselligen Tanzabend zu garantieren, stellen die Gastgeber ihnen die weiblichen Mitglieder der Döbelner Tanzgruppe zur Seite. So lernt Kunibert Elfriede kennen, die sich augenblicklich in ihn verliebt. Das Tanzpaar verbringt nicht nur den Abend, sondern auch die Nacht miteinander.
Am nächsten Tag setzt die Gruppe ihre Reise fort, ohne dass Elfriede und Kunibert ihre Adressen miteinander austauschen. Wochen später bemerkt die junge Frau ihre Schwangerschaft. Über die Delegation nimmt sie Kontakt zum Kindsvater auf. Die Nachricht kommt für Kunibert völlig unerwartet. Seine Familie ist sich einig, dass man Elfriede nicht einfach sitzenlassen könne.
Thilo Groß wird am 31. März 1955 in Döbeln geboren. Als Elfriede ein Foto des Kindes schickt, ist Kunibert von seiner Vaterschaft überzeugt, denn es besteht eine große Ähnlichkeit zwischen dem Jungen und ihm. Aufgrund ihrer politischen Überzeugung hatten drei Brüder der insgesamt zwölf Geschwister der Familie Groß schon länger mit dem Gedanken gespielt, in die DDR überzusiedeln. Nun kommt man überein, dass Kunibert den Anfang machen soll. Nach der Hochzeit im Mai 1958 siedelt Thilos Vater über und nimmt, überzeugt von seinem Schritt, sogar die Staatsbürgerschaft der DDR an.
Beruflich fasst Kunibert im VEB Bau- und Montagekombinat Süd Fuß, wo er eine Straßenbaubrigade leitet. Später absolviert er eine Ausbildung zum Baumaschinisten und wird als Brigadier eingesetzt. Um sich in seiner neugewählten Heimat schnellstmöglich zu integrieren, tritt er in die SED ein und wird Mitglied der sogenannten Betriebskampfgruppen. Kunibert engagiert sich überdies im Kleingartenvorstand und schließt viele Kontakte durch das Fußballspielen. Nach westdeutschem Vorbild bleibt Thilos Mutter Hausfrau. Sie bringt 1958 einen zweiten Sohn zur Welt.
Die junge Familie besucht regelmäßig die Verwandtschaft in Rheinland-Pfalz. Thilo spürt eine große Verbundenheit mit der Heimat seines Vaters und verbringt gern Zeit bei seinen Großeltern. Er genießt die Urlaube, an die er Erinnerungen von Ausflügen in traumhafter Landschaft und von uneingeschränkter Essensversorgung hat. Während in der DDR zu Anfang der 1960er Jahre für den Erhalt bestimmter Lebensmittel Bezugsberechtigungen nötig sind, halten in der Bundesrepublik die Bäcker und Fleischer mit Verkaufswagen direkt vor der Haustür.
Der letzte Besuch bei der Westverwandtschaft findet im August 1961 statt, als Thilo sechs Jahre alt ist. Weil Gerüchte die Runde machen, dass die DDR im Begriff sei, ihre Grenzen vollends zu schließen, bricht man den Familienurlaub vorzeitig ab. Thilos Mutter Elfriede hätte es bevorzugt, in der Bundesrepublik zu bleiben, und das nicht nur, weil ihre drei älteren Brüder bereits dort wohnen. Aber da ihr Mann auf das Leben in der DDR besteht und sie nicht allein für zwei Kinder sorgen kann, entscheidet sie sich ebenfalls für die Rückkehr nach Döbeln.
»Ich fragte mal: ›Papa, wieso gingst du in die DDR, wo in meinen Augen alles so schlecht ist?‹ Da sagte er: ›Ich wollte nicht, dass meine Kinder im falschen System aufwachsen.‹«
Deutschland ist zu diesem Zeitpunkt ein seit sechzehn Jahren geteiltes Land. Die komplette Abriegelung der Grenze Ost-Berlins am 13. August 1961 zementiert nun die politische Spaltung Deutschlands. Der Mauerbau am 13. August 1961 wird sogar weltweit zum Symbol für den Kalten Krieg – und für den Bankrott einer Diktatur, die ihre Existenz offenbar nur durch die Einmauerung der Bevölkerung zu sichern vermag.
In den Folgejahren baut der SED-Staat die innerdeutsche Grenze zu einem fast unüberwindlichen Hindernis aus, das mit Tretminen, elektrisch geladenen Zäunen und seit 1966 auch mit Selbstschussanlagen jeden Fluchtversuch zu einem tödlichen Risiko macht. Wer die DDR auf legalem Wege verlassen will und einen Ausreiseantrag stellt, muss mit Nachteilen für sich und seine Familie rechnen. Bestimmte Gruppen, so zum Beispiel Studenten, Schüler und Soldaten, sind von einer Übersiedlung gänzlich ausgeschlossen.
Die sogenannte Republikflucht wird in schweren Fällen mit bis zu acht Jahren Gefängnis bestraft, trotzdem hören die Fluchtversuche bis zum Ende der DDR nicht auf. Über 300 Menschen kommen in diesem Zusammenhang an der innerdeutschen Grenze und mindestens 140 an den Grenzanlagen um West-Berlin ums Leben.
Die Familie Groß wird 1963 durch einen dritten Sohn komplettiert. Als die Kinder etwas älter sind, arbeitet Elfriede halbtags im Rat des Kreises. Dennoch ist der Lebensstandard der fünfköpfigen Familie sehr niedrig. Sie bewohnt zwei Bodenkammern von jeweils knapp zwölf Quadratmetern, ohne Wasseranschluss und lediglich mit einem Kohleherd zum Kochen und Heizen. Tageslicht fällt durch kleine, eiserne Dachfenster ins Zimmer und die Gemeinschaftstoilette befindet sich auf dem Hausflur.
Um die unerträglichen Zustände zu ändern, legt Kunibert Groß bei seinen SED-Genossen Beschwerde ein. Tatsächlich hat er Erfolg und es wird ihnen neuer Wohnraum zugeteilt. Mit einem Kinderzimmer zu dritt und weiterhin ohne Heizung und Badezimmer ist die Verbesserung nicht immens, entspricht aber im Großen und Ganzen den damaligen Verhältnissen.
Im starken Kontrast dazu steht der exquisite Inhalt der Westpakete, welche die Familie von ihren Verwandten aus der Bundesrepublik regelmäßig zugeschickt bekommt. Das Auspacken gleicht einem Festakt und wird mit allen Sinnen zelebriert. Mit Stolz tragen Thilo und seine Brüder die aussortierte Kleidung ihrer Cousins auf. Gelegentlich liegen den Paketen auch abfotografierte Bilder aus Westzeitschriften bei.
Thilo ist aufgrund seines sanften Temperaments bei Erziehern und Lehrern beliebt. Er malt gern und gewinnt mit seinem Selbstbildnis in Öl eine Kreismeisterschaft. Mit beginnender Pubertät begeistert er sich für westliche Beat- und Rockmusik, die er mit dem Kofferradio seiner Mutter heimlich unter der Bettdecke hört, damit der Vater davon nichts mitbekommt.
Die musikalische Leidenschaft teilt Thilo mit seinem besten Freund, einem Klassenkameraden, der in einem ähnlichen familiären Gefüge aufwächst: Sein Vater ist ein übergesiedelter Bahnpolizist aus Bremen, während die Mutter aus Döbeln kommt. Beide Jungen begeistern sich für die Dinge, die den Westen ausmachen und sehnen sich danach, ihre dort lebenden Verwandten zu besuchen.
Mehr im Scherz lässt sich Thilo auf Gespräche ein, in denen die beiden 15-Jährigen über konkrete Möglichkeiten nachdenken. Der Freund äußert die Idee, über die Tschechoslowakei in die Bundesrepublik zu fliehen, denn er habe eine Tante, die im tschechoslowakischen Grenzgebiet wohne und kenne sich aufgrund einiger Urlaube in der Gegend aus. Thilo nimmt die Überlegungen nicht sonderlich ernst und vergisst die Unterhaltung noch am selben Abend.
Doch als er sich eines Morgens Anfang November 1970 für die Schule fertig macht – seine Eltern und Geschwister sind schon aus dem Haus gegangen – klingelt es an der Tür. Thilos Freund hat einen Schulranzen mit Ausrüstung gepackt und stellt ihn vor vollendete Tatsachen. Er will in den Westen abhauen.
»Nun wollte ich nicht als Feigling dastehen.«
Thilo packt ein, was er spontan als notwendig erachtet: warme Sachen, einen Kinderkompass, Adressen von der Verwandtschaft, Taschenlampen, Lebensmittel. Die Jugendlichen fahren mit dem Zug nach Karl-Marx-Stadt und steigen dort in einen Bus, der sie bis nach Olbernhau befördert, eine sächsische Kleinstadt im Erzgebirgskreis, die kaum drei Kilometer von der tschechoslowakischen Grenze entfernt ist. Sie laufen den Rest des Weges an einer Straße entlang, von der aus sie das Dorf der Tante auf einem Hügel in Richtung Westen und den Grenzbach östlich liegen sehen können.
Schon bald senkt sich die Dämmerung nieder. Thilo und sein Freund warten ab, bis kein Auto mehr vorbeifährt und springen dann über den Bach, der die beiden Staaten trennt. Thilos Freund rutscht ab und fällt in das eiskalte Wasser.
Auf der anderen Seite ist der Wald ebenfalls dicht und es ist stockdunkel. Thilo gesteht sich ein, wie unüberlegt ihre Aktion war. Mit ihren Taschenlampen kämpfen sich die beiden Freunde bis zur Erschöpfung durch die nächtliche Dunkelheit.
Nach ein paar Stunden des Laufens senkt sich eine derart bleierne Müdigkeit über Thilo, dass er anfängt, zu fantasieren. Sein Wunsch nach dem plötzlichen Auftauchen einer Heuscheune, die ihnen einen Unterschlupf bietet, lässt ihn sogar eine Fata Morgana sehen. Doch tatsächlich stoßen sie irgendwann auf einen kleinen Holzverschlag, in dem Waldarbeiter ihre Gerätschaften untergestellt haben. Sie lösen zwei Bretter, brechen in die Hütte ein und verbringen die Nacht leidlich geschützt vor der Kälte auf einer kleinen Holzbank.
Am nächsten Morgen setzen sie ihren Weg fort. Der Wald ist naturbelassen und lässt sich nur mühsam durchqueren, darum entschließen sie sich, solange es eben geht auf der Straße weiterzulaufen und dabei der Richtung zu folgen, die ihnen der Kompass anzeigt. Unterwegs begegnen sie Waldarbeitern und heben die Hand zum Gruß.
Irgendwann fällt die Straße vor ihnen ab und ist nicht mehr einsichtig. Plötzlich ertönt ein Geräusch und ein Militärfahrzeug fährt vorbei. Der Fahrer schaut die Jungen an und fährt zunächst an ihnen vorbei, doch wendet dann 100 Meter weiter hinten. Thilo und sein Freund wollen in den Wald flüchten, doch der Befehlston des Fahrers lässt sie vor Angst stehenbleiben.
Die tschechoslowakischen Grenzsoldaten bringen sie mit ihrem Geländewagen auf die Polizeistation des nächstgelegenen Ortes, in der Thilo und sein Freund anschließend abwechselnd die ganze Nacht hindurch verhört werden. Man bietet ihnen weder Essen noch Trinken an. Hungrig, durstig und noch übermüdet von der vorangegangenen unruhigen Nacht in der Hütte macht sich nun die Entkräftung deutlich bemerkbar.
Für ein paar Minuten sind die beiden Freunde miteinander allein und so gelingt es ihnen, sich auf eine gemeinsame Geschichte zu einigen. Den Kompass hatten sie bereits weggeworfen, nur noch die Landkarte war in ihrem Besitz, als sie festgenommen wurden. Thilo und sein Freund geben in den Verhören zwar den Fluchtversuch zu, erklären aber, sie hätten aus Angst und Heimweh wieder den Rückweg angetreten und sich dann verlaufen.
Nach einer zermürbenden Nacht müssen die Jugendlichen wieder ins Auto steigen und werden an einen Grenzpunkt zur DDR gefahren. Ein Beamter des Ministeriums für Staatssicherheit überquert die Brücke und nähert sich dem Jeep.
»Der sah aus, wie man sich einen Gestapo-Mann vorstellte: kantiges Gesicht, böser Blick. Er riss vorn die Tür auf und mein Freund kriegte erst mal ein paar Schläge ins Gesicht.«
Die Jungen werden aufgefordert, auszusteigen und dann zu einem Neubaublock geführt, wo sie eine leere Wohnung betreten. Wieder erfolgen stundenlange Vernehmungen, bis sie erneut abgeholt und zu einem militärischen Objekt gefahren werden. Es ist ein düsteres altes Gefängnisgebäude und bei Thilo wächst die Angst.
Man sperrt die Jungen in einen schmalen, zellenähnlichen Raum. Ein MfS-Beamter bewacht sie pausenlos. In einer Ecke befindet sich ein Fernseher, den man abends anschaltet und beide dazu zwingt, sich die politisch-agitatorische Propagandasendung des DDR-Fernsehens »Der schwarze Kanal« anzuschauen. Dann werden sie einzeln und abwechselnd in ein schmales Verhörzimmer geholt, wo sie der grimmig blickende MfS-Beamte mit scharfen Worten vernimmt. Thilo leidet vor allem unter dem anhaltenden Schlafmangel in der nun schon dritten Nacht in Folge. Noch immer werden ihnen Nahrung und Getränke verweigert.
Am nächsten Morgen findet die Inhaftierung zunächst ihr Ende, doch was sie jetzt erwartet, davor fürchtet sich Thilo weitaus mehr. Die Jungen werden vom Vater seines Freundes abgeholt. Als der Mann zur Tür hereinkommt, ohrfeigt er seinen Sohn mehrfach, dann steigen sie zu dritt in den Zug nach Döbeln. Angesichts dieser »Begrüßung« bettelt Thilo darum, nicht nach Hause geschickt zu werden. Denn Thilos Vater ist ein durchtrainierter Sportler. Schon eine Ohrfeige von ihm reicht, um durch das halbe Zimmer zu fliegen. Weil er die schmerzhaften Strafen für geringe Verstöße kennt, hat Thilo Panik vor der Bestrafung, die ihn nun erwartet.
Doch die Reaktion seines Vaters fällt jedoch anders aus, als erwartet. Mit eiskaltem Gesicht empfängt dieser ihn, zeigt wortlos in Richtung Kinderzimmer. Thilo stopft seine Kleidung mit allem aus, was er finden kann, um die Schmerzen der erwarteten Prügel abzumildern.
Doch sein Vater kommt nicht ins Zimmer. Mehrere Wochen lang ignoriert er Thilo komplett, spricht kein Wort mit ihm. Diese Bestrafung seines Vaters empfindet Thilo als weitaus schlimmer.
»Mit einer Tracht Prügel wäre es erledigt gewesen. Aber wochenlang wie Luft behandelt zu werden, das war eine größere Strafe.«
Es kehrt ein ungewöhnlicher Alltag ein, der den Eindruck erweckt, nichts wäre vorgefallen. In der Familie wird der Vorfall mit keinem Wort erwähnt. Bis auf die Tatsache, dass sein Freund in eine andere Klasse versetzt wird, findet für Thilo der gewohnte Schulbetrieb statt. Noch immer kann er sich nicht ausmalen, welche Konsequenzen ihr spontaner Fluchtversuch hat. Dann wird Thilo zu einer pensionierten Lehrerin bestellt, die in der Gerichtsverhandlung als seine Verteidigerin auftreten soll. Es ist eine liebe alte Dame, deren fachliche Qualifikation er allerdings nicht einschätzen kann.
Als Thilo dann das Döbelner Kreisgericht betritt, verschlägt es ihm den Atem. Seine Verhandlung wird als Schauprozess durchgeführt. Mehrere fremde Schulklassen sitzen im Saal. Unverhohlen macht man klar, dass es sich um eine Abschreckungsmaßnahme für die Schüler handelt, um eine eindringliche Warnung, seinem Vorbild nicht zu folgen. Thilos Scham über die Art und Weise, wie er hier vorgeführt wird, ist immens.
Dennoch fällt sein Strafmaß mit sechs Monaten Freiheitsentzug relativ mild aus, denn das Gericht hält ihm die Notlüge aus den Vernehmungen zugute, er habe aufgrund von Heimweh die Rückkehr anzutreten versucht.
Thilos Freund erhält keine Freiheitsstrafe. Er kommt mit einer dreijährigen Bewährungszeit davon. Thilo vermutet, dass die Stellung des Vaters als Bahnpolizist eine Rolle dabei spielt. Anfangs ärgert es Thilo, dass sein Freund so begünstigt wird, obwohl ja er der Initiator des Fluchtversuchs war. Doch dann sieht er ein, dass er eine solche Vergünstigung ebenfalls wahrgenommen hätte, wäre sie ihm zuteilgeworden.
Nach der Urteilsverkündung beginnt das Warten auf den Antritt der gerichtlich verhängten Haftstrafe. Eine verschwommene Zeit in Thilos Erinnerung, für die er die Ereignisse und seine Empfindungen nicht mehr rekapitulieren kann. Fast ein Jahr nach dem ungesetzlichen Grenzübertritt, am 16. September 1971, muss sich der 16-Jährige in Begleitung seiner Eltern in der Leipziger Justizvollzugsanstalt in der Alfred-Kästner-Straße einfinden. Noch immer macht er sich keine Vorstellung davon, was es bedeutet, eingesperrt zu sein, bis schließlich die Zellentür hinter ihm ins Schloss fällt.
»Den Ernst der Lage begriff ich erst dort drin Stück für Stück, mit jedem Ereignis, das mich belastete.«
Weil er unsicher war, wie man zu einem solchen Anlass erscheint, hatte Thilo zum Haftantritt seinen Jugendweiheanzug angezogen. Den muss er nun gegen Sträflingskleidung eintauschen, eine alte Bewacheruniform mit aufgenähten gelben Streifen. Außerdem wird ihm der Kopf rasiert.
Der Hafttrakt der JVA mit seinen Rundgängen, den in der Mitte gespannten Sicherungsnetzen, den Gucklöchern in der Zellentür und den riesigen Schlüsselbünden des Strafvollzugsdienstes erinnert ihn erneut an Filme aus der NS-Zeit. Er befindet sich im Innenhof des großen Justizkomplexes, das um 1900 als Königliches Landgericht erbaut wird und in dem sich auch die zentrale Hinrichtungsstätte der DDR verbirgt. In der ehemaligen Heizerwohnung vollstreckt man an über 60 Menschen das Todesurteil – streng abgeschottet von der Justizvollzugsanstalt und sowohl für die Angestellten und Inhaftierten als auch für die Bewohner des angrenzenden Wohngebiets unbemerkt.
Thilos Zellengenossen stammen ebenfalls aus Döbeln. Weil die Zweimannzelle der drei Häftlinge nur ein Doppelstockbett enthält, muss Thilo die kommenden Wochen auf dem Fußboden schlafen. Doch nicht nur die Schlafsituation ist für ihn eine neue, außergewöhnliche Belastung. Die Toilette steht in der Zelle, jede Notdurft muss vor den Augen und Nasen der anderen erledigt werden.
Die Justizvollzugsanstalt in der Alfred-Kästner-Straße ist nur eine vorübergehende Haftstätte. Nach drei Wochen stellt man einen Transport zusammen, der die Strafgefangenen in die jeweils für sie vorgesehenen Gefängnisanstalten überführen soll. Die Häftlinge steigen im Hof der JVA in einen Kleintransporter ein, der sie zum Leipziger Hauptbahnhof bringt. Dort führt man sie – immer zwei Häftlinge mit Handschellen aneinander gekettet – über das gesamte Bahnhofsareal. Thilo schämt sich vor den Augen der vielen Zugreisenden, die ja nicht wissen, welche Art von »Verbrechen« er begangen hat.
Thilos Fahrt mit dem sogenannten Grotewohl-Express ist kurz, denn sie führt zu einem Strafvollzugskommando, das im Jahr 1959 auf einem Acker nördlich von Raßnitz, einem Ortsteil der Gemeinde Schkopau in Sachsen-Anhalt, errichtet wird. Die Gefangenen der StVE Raßnitz sollen als Arbeitskräfte bei der aufwendigen Verlegung der Weißen Elster eingesetzt werden, welche durch den vor Ort geplanten Braunkohlentagebau erforderlich ist. Im Mai 1960 werden die ersten 120 Gefangenen in einem Barackenlager untergebracht, 1961 leben in diesem bereits 450 Gefangene.
»Im Prinzip ein Lager, wie man das aus KZ-Filmen kannte. Baracken, Zaun rundrum, Klingeldrähte, Hunde an Laufleinen. Und am Ende von diesem Gelände war dann ein Neubaublock.«
Der Wohnblock ist geteilt, wovon die eine Hälfte der Bereich der sogenannten Altstrafer ist, also der Häftlinge über 21 Jahren. Die andere Hälfte des Gebäudes, innerhalb des Geländes ein weiteres Mal abgezäunt, ist für die Jugendstrafgefangenen wie Thilo vorgesehen. Jede Gruppe, bestehend aus etwa 24 Personen, hat einen Schlafsaal mit Doppelstockbetten sowie einen Aufenthaltsraum mit Tischen, Hockern und einer Art Schrankwand. Jedem Gefangenen werden zwei Schrankfächer zugewiesen, in denen er seine persönlichen Sachen in streng vorgegebener Ordnung einräumen muss.
Die Funktionsträger unter den Strafgefangenen sind dreistufig hierarchisch gegliedert. Als unterste Stufe hier gilt der Ordnungsdienst, der sich auf einer Armbinde mit den Initialen »OD« kennzeichnet, während die zweite Stufe der Gruppenführer ein »G« trägt. Der Brigadier, der höchste Stand unter den Strafgefangenen mit besonderen Aufgaben, wird vorzugsweise aus den Langstrafern rekrutiert, also jenen Häftlingen, die mindestens zwei Jahre Freiheitsstrafe abzubüßen haben.
Diese Funktionsträger sind in Viermannzimmern untergebracht und sollen den Aufsehern die Arbeit erleichtern, indem sie innerhalb ihres Bereiches Ordnung und Disziplin durchsetzen. Dass sie ihre Machtposition gegenüber den nicht privilegierten Gefangenen auch auszunutzen versuchen liegt auf der Hand. Abgesehen von dem Vertrauen, das ihnen das Vollzugspersonal entgegenbringt, genießen sie bestimmte Vergünstigungen.
Thilo stellt große Unterschiede in der Behandlung der Alt- und Langstrafer und seiner Altersgruppe fest. Während den anderen ein größerer Bewegungsradius zugestanden wird und die Möglichkeit besteht, sich in der arbeitsfreien Zeit zu erholen, bleibt ihm Muße gänzlich verwehrt. Strafgefangene wie er müssen immer wieder den Flur des Gebäudes bohnern.
Neben der Verwirklichung von Ordnung und Disziplin nimmt die Haftarbeit im Strafvollzug der DDR eine zentrale Stellung ein. Sie gilt offiziell als Mittel der Erziehung, soll den kritischen Willen der Strafgefangenen brechen und ein politisches Wohlverhalten erzwingen.
Tatsächlich stehen aber hauptsächlich ökonomische Interessen des Staates im Vordergrund. Man setzt die Häftlinge vorzugsweise bei Tätigkeiten ein, die für zivile Arbeiter zum Beispiel wegen ihrer besonderen Schwere unattraktiv sind. Oftmals handelt es sich dabei zudem um neuralgische Punkte der Volkswirtschaft, was die Wichtigkeit der Gefangenenarbeit nochmals unterstreicht.
Die Häftlinge der StVE Raßnitz arbeiten im Braunkohlenkombinat Geiseltal und dem Tagebau Profen. Haftarbeit erfolgt zudem in den sogenannten Arbeitseinsatzbetrieben des Betongleitfertigwerks Merseburg, einer Ölraffinerie, einem Stahlwerk und einer Ziegelei sowie in den Chemischen Werken Buna, wo die Strafgefangenen beispielsweise mit der Quecksilberrückgewinnung oder dem Prüfen von Chlorgasleitungen betraut werden.
Die Arbeitsbedingungen entsprechen nicht den gesetzlichen Vorschriften des Arbeits- und Gesundheitsschutzes. Zudem setzen hohe Normen die Strafgefangenen unter Stress und begünstigen Unfälle. Eine Erholung nach Feierabend ist den Häftlingen oft nicht möglich, dazu kommen eine mangelhafte Ernährungssituation und schlechte ärztliche Versorgung.
Der 16-jährige Thilo wird mit weiteren Neuankömmlingen der »Brigade Buna« zugewiesen. Über die gesamte Haftzeit hinweg ist es seine Aufgabe, auf dem Gelände des VEB Chemisches Kombinat Buna Gräben von bis zu vier Metern Tiefe und zwei Metern Breite in Handarbeit auszuschachten. Die Jugendlichen arbeiten im Akkord. Arbeitsteilung oder regelmäßige Pausen sind nicht vorgesehen.
»Die ganze, ganze Zeit, mitten in dem Gestank. Das qualmte ja aus allen Ecken und Löchern mit giftigen Gasen, dass man bald erstickte.«
Leider werden die gesteigerten Bedürfnisse, welche die schwere körperliche Arbeit erzeugt, nicht durch eine entsprechende Kalorienaufnahme ausgeglichen. In einem Bauwagen vor dem Werksgelände nehmen die Strafgefangenen ihr Mittagessen ein, doch die Ration ist Thilo stets zu klein und die Qualität des Essens schlecht.
Der Hunger wird sein ständiger Begleiter und veranlasst ihn sogar zum Diebstahl. Thilo beobachtet regelmäßig, wie ein Mitgefangener übrig gebliebene Lebensmittel von seinem Arbeitsposten in der Küche mitbringt und in dem persönlichen Schrankfach verstaut. Als der Jugendliche eines Abends einen halben Brotlaib hinter der Schranktür versteckt, bleibt Thilo bis weit nach Mitternacht wach, bis er sich des Schlafes seiner Mitgefangenen sicher ist, und schleicht sich dann hinaus zum Aufenthaltsraum. Dort nimmt er das Brot an sich und verspeist es heimlich unter seiner Bettdecke.
Mit seinen 53 Kilogramm Körpergewicht und einer schmalen Statur gehört Thilo nicht zu den Häftlingen, die sich aufgrund ihrer bloßen Präsenz Respekt verdienen – wie es der Sohn eines Schmiedes tut, ein Hüne von 1,90 Metern Körpergröße. Doch im Raßnitzer Jugendgefängnis herrscht das Recht des Stärkeren und nicht nur die Sträflinge, die wegen Körperverletzung einsitzen, scheuen selten vor Gewaltanwendung zurück. Man warnt Thilo vor einem Zimmer in der untersten Etage des Wohnblocks, in dem die sogenannten schwererziehbaren Häftlinge untergebracht sind, deren »Aufnahmeritual« das dreimalige Verprügeln bis zur Bewusstlosigkeit sein soll.
Thilo hat das Glück, dass ein paar Wochen nach ihm ein Jugendlicher aus Döbeln in der StVE Raßnitz eintrifft, den er entfernt kennt. Der junge Mann wird als Gruppenführer eingesetzt und hält beschützend seine Hand über den 16-Jährigen. Auch ein Häftling aus dem Ordnungsdienst sieht in Thilo eine Art kleinen Bruder und hat ein wachsames Auge auf ihn.
Als Thilo eines Tages zu einem der Brigadiers bestellt wird und ihm in einen Kellerraum folgen soll, überkommt ihn ein mulmiges Gefühl. Doch wie sich herausstellt, nutzt der Brigadier den Abstellraum als Atelier. Seine Bilder sind beim Wachpersonal äußerst beliebt. Da er davon hörte, dass Thilo ebenfalls künstlerisch begabt sei und vermutlich Angst vor Konkurrenz hat, befielt er ihm, ihn zu porträtieren. Sollte er sich in dem Bild wiedererkennen, so nähme er ihn bis zum Haftende unter seinen Schutz, erklärt der Brigadier. Thilo bleibt keine Wahl, mit zitternder Hand stellt er sich der Herausforderung – und sie gelingt ihm.
Besonders nachhaltig prägen sich in Thilos Erinnerung die Besuche seiner Mutter ein, die ihn einmal im Monat für jeweils eine halbe Stunde sehen darf. Beim ersten Mal trifft Elfriede Groß tränenüberströmt im Besuchszimmer der StVE ein und schafft es die ganze Zeit über nicht, sich zu beruhigen. Thilo bekommt kaum Gelegenheit, ein Wort mit ihr zu wechseln. Bei den nachfolgenden Terminen spielt sich anfangs stets eine ähnliche Szenerie ab, doch dann gelingt es Thilos Mutter zeitiger, ihre Fassung wiederzuerlangen.
Erst viele Jahre später erfährt Thilo, dass seine Mutter bei ihrem ersten Besuch nicht allein angereist war. Sein Vater sah sich nicht in der Lage, die Haftanstalt zu betreten. Als Mitglied der kommunistischen Jugendpartei hatte er unter dem Nazi-Regime für einige Zeit im Gefängnis gesessen und fühlte sich nun beim bloßen Anblick des Geländes an diese traumatische Zeit erinnert. Diese Neuigkeit erschüttert Thilo, der seinen Vater stets als gefestigte Persönlichkeit erlebt hat.
Am 16. März 1972 hat Thilo die Freiheitsstrafe vollumfänglich abgesessen und wird nach Hause entlassen. Seine neue Herausforderung ist es, sich wieder in den Alltag und das Leben in der Freiheit zu integrieren.
Weil er beim Haftantritt kahlgeschoren wurde, lässt sich der 18-Jährige nun die Haare absichtlich lang wachsen.
Angesichts seiner langen Fehlzeit, die nahezu ein Schulhalbjahr umfasste, darf er nicht in seine alte Klasse zurückkehren. Ein Verlust, der den Jugendlichen wirklich schmerzt, denn mit seinen Mitschülern hat er sich außerordentlich gut verstanden. Nun wird er zurückgestuft. Die Eingewöhnung in den neuen Klassenverband ist jedoch leichter als erwartet. Thilo gewinnt neue Freunde. Zwei Jungen vertrauen ihm später an, er wäre ihnen damals so erschreckend angekündigt worden, dass sie mit einer Gestalt wie dem Glöckner von Notre Dame gerechnet hätten. Nun aber mussten sie feststellen, er sei ja ein ganz netter Kerl.
Die Ehrlichkeit seiner Mitschüler erleichtert Thilo. Er schämt sich nicht für seine Tat und kann anderen gegenüber selbstbewusst mit der Vorstrafe umgehen. Doch obwohl ihm im schulischen Umfeld ein guter Neustart gelingt, geht es Thilo psychisch nach der Entlassung sehr schlecht.
»Jahrelang wachte ich schweißgebadet in der Nacht auf, weil ich geträumt hatte, eingesperrt zu sein. Ich war froh, wenn ich begriff, dass es nur ein Traum war.«
Zeitnah nach seiner Entlassung nimmt Thilo auch wieder Kontakt zu seinem besten Freund auf – zur Verwunderung von dessen Eltern, die nach der ungleichen gerichtlichen Entscheidung und Thilos Hafterfahrungen ein schwieriges Verhältnis zwischen den Jungen erwartet haben.
Die Kameraden verbringen erneut viel Zeit miteinander. Nach dem Abschluss der 10. Klasse folgt er dem Vorbild seines Freundes, der seit einem Jahr in der Ausbildung zum Lokschlosser bei der Reichsbahn ist. Dieselbe Ausbildung wird in Thilos Abschlussjahr nicht angeboten, also macht er die Lehre als Fahrzeugschlosser und schließt die Wagenmeisterausbildung direkt an.
Als Thilo sich im zweiten Lehrjahr befindet und am Wochenende nach Hause kommt, erreicht ihn die schreckliche Nachricht, dass sein Freund einen Verkehrsunfall hatte. Die Verletzungen sind so gravierend, dass der junge Mann drei Wochen im Koma liegt. Jeden Tag klingelt Thilo bei den Eltern und fragt, ob sein Freund aus der Bewusstlosigkeit erwacht sei.
Als die Ärzte den Patienten aufgeben, wacht er schließlich doch auf. Thilo kann seinen Freund endlich besuchen, aber erkennt ihn kaum wieder. Aufgrund der Gehirnverletzungen bleibt der Freund Zeit seines Lebens eingeschränkt. Die Mutter seines Freundes teilt ihm einmal mit, das sei wohl die Strafe dafür, dass er nicht ins Gefängnis kam, während Thilo allein gehen musste.
Der jugendliche, unüberlegte Fluchtversuch soll Thilo noch Jahre später als Stigma anhängen und sich auch auf seine Familie auswirken, wie ein Folgeereignis aufzeigt. Etliche Jahre nach seiner Übersiedlung wird Thilos Vater wieder Besuch bei seinen Verwandten in Rheinland-Pfalz genehmigt. Schon seit Tagen stehen die Koffer fertig gepackt im Flur, denn Kunibert Groß freut sich auf das langersehnte Wiedersehen. Seine Abreise ist für 23 Uhr am Heiligabend vorgesehen. Als die Familienmitglieder am Vormittag traditionell den Weihnachtsbaum schmücken, klingelt es. Thilo öffnet die Wohnungstür, vor der eine junge Beamtin steht und Kunibert Groß sprechen will. Ihre Tonart verspricht nichts Gutes.
»Mein Vater kam nach wenigen Minuten wieder rein und weinte. Die lehnten ihn in letzter Sekunde ab, einen überzeugten Kommunisten, der freiwillig in die DDR gekommen war.«
Thilo ist sich sicher, dass die Verweigerung des Weihnachtsbesuchs mit seiner Haftstrafe zusammenhängt. Erneut bestraft ihn sein Vater mit mehreren Tagen Funkstille, in denen Thilo enorm unter Schuldgefühlen leidet.
Im Februar 1977 heiratet Thilo. Im Alter von 24 Jahren wird er zum Grundwehrdienst bei der NVA eingezogen, den er von Mai 1979 bis Oktober 1980 in Halle an der Saale absolviert. Die ersten sechs Wochen der Militärausbildung, in denen den Soldaten der Ausgang komplett untersagt ist, erinnern ihn stark an seine Haftzeit. Doch dank seines Lkw-Führerscheins wird er dem Divisionsstab als Fahrer zugeteilt und ist anschließend viel im Außeneinsatz. In den Jahren 1984 und 1989 werden Thilo und seine Frau Eltern von zwei Töchtern.
Immer wieder strebt Thilo einen beruflichen Aufstieg an, doch sein Weg ist von Niederlagen gepflastert. Wenngleich er im Verlauf der Jahre mehrere potenzielle Vorgesetzte von seiner fachlichen Kompetenz überzeugen kann, machen ihm die Eintragungen in der Kaderakte sämtliche Chancen zunichte. Auch seine Weigerung, in die SED einzutreten, ist alles andere als förderlich.
Um dem ständigen Druck aus dem Weg zu gehen, tritt Thilo 1985 gemeinsam mit seiner Frau in die CDU ein. Es ist eine naheliegende Alternative, da beide gute Verbindungen zur Kirche haben. Bis 1989 arbeitet Thilo als Wagenmeister bei der Reichsbahn. Er fühlt sich von seinen Aufgaben nicht genügend gefordert und sieht keine Perspektive.
1989 bringt die Friedliche Revolution erst den Fall der Mauer, dann das Ende der DDR und schließlich erfolgt am 3. Oktober 1990 die Wiedervereinigung Deutschlands. Die Vollendung der Verbindung von zwei Gesellschaften, die über 40 Jahre lang getrennt waren, dauert an. Für seinen Vater ist der Zusammenbruch der DDR eine riesige Enttäuschung.
»Er sagte: ›Ich gab meine Heimat auf – an der ich so hing, in der ich so anerkannt war – für diese kommunistische Idee. Und mich betrogen sie genauso wie alle anderen.‹«
Die Initiativen der Bürger während der Friedlichen Revolution stoßen auch die Schaffung einer neuen Einrichtung an, die den Zugang zu den Unterlagen des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit der DDR ermöglicht. 1991 beginnt die Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen ihre Arbeit und ist nicht nur dafür verantwortlich, das Aktenmaterial zu erhalten, sondern es auch für eine gesellschaftliche Nutzung zu öffnen. Thilo beantragt Einsicht, doch zu seiner Person wird nichts Aussagekräftiges gefunden.
Mit der Übernahme in die Dienststellenleitung in seinem Betrieb gelingt Thilo im Jahr 1992 der Karriereaufstieg. Der verantwortungsvolle Posten hat ein hohes Arbeitspensum und ist zwei Gehaltsgruppen besser bezahlt. Doch bereits 1995 wird seine Stelle aufgrund der Fusionierung von der Reichsbahn mit der Bundesbahn zur Bahn AG gestrichen. Der Verlust dieser erfüllenden Tätigkeit und die Zukunftsängste belasten ihn stark.
Thilo erkrankt an einem Magengeschwür. Seine Genesung dauert unverhältnismäßig lange und ist über viele Wochen von weiteren körperlichen Beschwerden begleitet. Schließlich wird klar, dass es sich hier um ein seelisch bedingtes Problem handelt und Thilo begibt sich in psychotherapeutische Behandlung, in der er sein Trauma aufarbeitet.
»Das war eine ganz wichtige Lebenserfahrung.«
Nach Thilos Therapie bessern sich seine Schlafstörungen und die Häufigkeit der Albträume. Die berufliche Weiterentwicklung verfolgt er beharrlich in Eigeninitiative. Abhängig von mehreren Standortschließungen ist der Pfad noch immer holprig, doch letztlich findet Thilo seinen Platz in der Ersatzteilwirtschaft und wird Technischer Inspektor bei der Deutschen Bahn.
2019 geht Thilo in Rente – doch in den Ruhestand möchte er noch nicht treten. Über zwei Jahrzehnte lang hat er sich schon als ehrenamtlicher Richter engagiert, ab 1992 am Arbeitsgericht und später am Jugendstrafgericht.
Deutlich erinnert er sich an die erste Verhandlung im Jugendstrafrecht, der er beiwohnt. Es fällt ihm unendlich schwer, mitverantwortlich für die Haftstrafe des angeklagten Jugendlichen zu sein, auch wenn diese gerechtfertigt ist. Thilo plant, sich für eine weitere Amtsperiode zu bewerben. Seine Motivation ist nicht nur, sich im Ruhestand sinnvoll zu beschäftigen, sondern auch seinen Berufswunsch aus Kindertagen zu verfolgen.
Im Großen und Ganzen gibt sich Thilo zufrieden mit der Möglichkeit, seine Interessen im ehrenamtlichen Bereich auszuüben. Dennoch hat es einen bitteren Nachgeschmack, über die verpassten Gelegenheiten in seinem Leben nachzudenken: Während der 1980er Jahre wird ihm bei der Reichsbahndirektion Berlin eine Stellung bei der Planung der Studenteneinsätze angeboten, seine Bewerbung jedoch aufgrund der Vorstrafe abgelehnt. Anlässlich der ersten freien Wahlen 1990 wirbt sein CDU-Verbandsvorsitzender um Freiwillige für die zu besetzenden Posten in der Lokalpolitik, doch Thilo fehlt das Selbstbewusstsein, sich zu melden. Von der Option, zu Anfang der 1990er Jahre mit finanziell gefördertem Studium zum Gewerkschaftsjuristen umzusatteln, erfährt er leider erst Jahre später.
»Drei wunderbare Chancen, die ich verpasste. Doch was ich nicht ändern kann, muss ich beiseiteschieben und mich über das freuen, was Tatsache ist.«
Weil das Vergessen seiner Erfahrungen mit der politischen Haft in der DDR nicht gelingt, entschließt sich Thilo im Sommer 2019 dazu, seine Vergangenheit erneut aufzuarbeiten. Er tritt dem sächsischen Landesverband der VOS bei. Nach der Beratung durch den Landesvorsitzenden Frank Nemetz beantragt er seine Rehabilitierung und die sogenannte Opferpension bei den bundesdeutschen Behörden.
Thilo stellt auch einen erneuten Antrag auf Aktenansicht bei der BStU und spekuliert darauf, dass dort aufgrund von Querverweisen neue Informationen aufgefunden werden.
»Ich zögerte lange mit dem Antrag auf Opferrente, weil es Zeiten gab, da wollte ich es einfach vergessen. Nun hoffe ich, dass das wenigstens als kleine Entschädigung funktioniert.«
»Noch jahrelang träumte ich vom Eingesperrtsein.«
Im Sommer 1954 befindet sich eine rheinland-pfälzische Delegation junger Kommunisten auf einer Rundreise, die sie in die sozialistischen Betriebe der DDR und der damaligen Volksrepublik Polen führt. Einer der Abgesandten ist der Kaufmann Kunibert Groß. Der junge Mann stammt aus Rodalben bei Pirmasens, wo er sowohl als Spitzensportler bekannt als auch wegen seines musikalischen Talents beliebt ist. Nicht zuletzt durch den Einfluss seines älteren Bruders gelangt Kunibert zu der tiefen Überzeugung, dass der Kommunismus die bessere Gesellschaftsordnung darstelle. In diesem Sinne engagiert er sich parteipolitisch und schließt sich der Delegation an, die sein ältester Bruder leitet.
Die Gruppe gastiert im August 1954 im sächsischen Döbeln, das mittig im Dreieck von Chemnitz, Dresden und Leipzig liegt. Döbeln ist nicht nur traditionelle Garnisonsstadt, sondern auch Industriestandort zahlreicher metallverarbeitender Betriebe, zum Beispiel aus dem Bereich des Landmaschinenbaus.
Um den jungen Männern nach den Betriebsbesichtigungen einen geselligen Tanzabend zu garantieren, stellen die Gastgeber ihnen die weiblichen Mitglieder der Döbelner Tanzgruppe zur Seite. So lernt Kunibert Elfriede kennen, die sich augenblicklich in ihn verliebt. Das Tanzpaar verbringt nicht nur den Abend, sondern auch die Nacht miteinander.
Am nächsten Tag setzt die Gruppe ihre Reise fort, ohne dass Elfriede und Kunibert ihre Adressen miteinander austauschen. Wochen später bemerkt die junge Frau ihre Schwangerschaft. Über die Delegation nimmt sie Kontakt zum Kindsvater auf. Die Nachricht kommt für Kunibert völlig unerwartet. Seine Familie ist sich einig, dass man Elfriede nicht einfach sitzenlassen könne.
Thilo Groß wird am 31. März 1955 in Döbeln geboren. Als Elfriede ein Foto des Kindes schickt, ist Kunibert von seiner Vaterschaft überzeugt, denn es besteht eine große Ähnlichkeit zwischen dem Jungen und ihm. Aufgrund ihrer politischen Überzeugung hatten drei Brüder der insgesamt zwölf Geschwister der Familie Groß schon länger mit dem Gedanken gespielt, in die DDR überzusiedeln. Nun kommt man überein, dass Kunibert den Anfang machen soll. Nach der Hochzeit im Mai 1958 siedelt Thilos Vater über und nimmt, überzeugt von seinem Schritt, sogar die Staatsbürgerschaft der DDR an.
Beruflich fasst Kunibert im VEB Bau- und Montagekombinat Süd Fuß, wo er eine Straßenbaubrigade leitet. Später absolviert er eine Ausbildung zum Baumaschinisten und wird als Brigadier eingesetzt. Um sich in seiner neugewählten Heimat schnellstmöglich zu integrieren, tritt er in die SED ein und wird Mitglied der sogenannten Betriebskampfgruppen. Kunibert engagiert sich überdies im Kleingartenvorstand und schließt viele Kontakte durch das Fußballspielen. Nach westdeutschem Vorbild bleibt Thilos Mutter Hausfrau. Sie bringt 1958 einen zweiten Sohn zur Welt.
Die junge Familie besucht regelmäßig die Verwandtschaft in Rheinland-Pfalz. Thilo spürt eine große Verbundenheit mit der Heimat seines Vaters und verbringt gern Zeit bei seinen Großeltern. Er genießt die Urlaube, an die er Erinnerungen von Ausflügen in traumhafter Landschaft und von uneingeschränkter Essensversorgung hat. Während in der DDR zu Anfang der 1960er Jahre für den Erhalt bestimmter Lebensmittel Bezugsberechtigungen nötig sind, halten in der Bundesrepublik die Bäcker und Fleischer mit Verkaufswagen direkt vor der Haustür.
Der letzte Besuch bei der Westverwandtschaft findet im August 1961 statt, als Thilo sechs Jahre alt ist. Weil Gerüchte die Runde machen, dass die DDR im Begriff sei, ihre Grenzen vollends zu schließen, bricht man den Familienurlaub vorzeitig ab. Thilos Mutter Elfriede hätte es bevorzugt, in der Bundesrepublik zu bleiben, und das nicht nur, weil ihre drei älteren Brüder bereits dort wohnen. Aber da ihr Mann auf das Leben in der DDR besteht und sie nicht allein für zwei Kinder sorgen kann, entscheidet sie sich ebenfalls für die Rückkehr nach Döbeln.
»Ich fragte mal: ›Papa, wieso gingst du in die DDR, wo in meinen Augen alles so schlecht ist?‹ Da sagte er: ›Ich wollte nicht, dass meine Kinder im falschen System aufwachsen.‹«
Deutschland ist zu diesem Zeitpunkt ein seit sechzehn Jahren geteiltes Land. Die komplette Abriegelung der Grenze Ost-Berlins am 13. August 1961 zementiert nun die politische Spaltung Deutschlands. Der Mauerbau am 13. August 1961 wird sogar weltweit zum Symbol für den Kalten Krieg – und für den Bankrott einer Diktatur, die ihre Existenz offenbar nur durch die Einmauerung der Bevölkerung zu sichern vermag.
In den Folgejahren baut der SED-Staat die innerdeutsche Grenze zu einem fast unüberwindlichen Hindernis aus, das mit Tretminen, elektrisch geladenen Zäunen und seit 1966 auch mit Selbstschussanlagen jeden Fluchtversuch zu einem tödlichen Risiko macht. Wer die DDR auf legalem Wege verlassen will und einen Ausreiseantrag stellt, muss mit Nachteilen für sich und seine Familie rechnen. Bestimmte Gruppen, so zum Beispiel Studenten, Schüler und Soldaten, sind von einer Übersiedlung gänzlich ausgeschlossen.
Die sogenannte Republikflucht wird in schweren Fällen mit bis zu acht Jahren Gefängnis bestraft, trotzdem hören die Fluchtversuche bis zum Ende der DDR nicht auf. Über 300 Menschen kommen in diesem Zusammenhang an der innerdeutschen Grenze und mindestens 140 an den Grenzanlagen um West-Berlin ums Leben.
Die Familie Groß wird 1963 durch einen dritten Sohn komplettiert. Als die Kinder etwas älter sind, arbeitet Elfriede halbtags im Rat des Kreises. Dennoch ist der Lebensstandard der fünfköpfigen Familie sehr niedrig. Sie bewohnt zwei Bodenkammern von jeweils knapp zwölf Quadratmetern, ohne Wasseranschluss und lediglich mit einem Kohleherd zum Kochen und Heizen. Tageslicht fällt durch kleine, eiserne Dachfenster ins Zimmer und die Gemeinschaftstoilette befindet sich auf dem Hausflur.
Um die unerträglichen Zustände zu ändern, legt Kunibert Groß bei seinen SED-Genossen Beschwerde ein. Tatsächlich hat er Erfolg und es wird ihnen neuer Wohnraum zugeteilt. Mit einem Kinderzimmer zu dritt und weiterhin ohne Heizung und Badezimmer ist die Verbesserung nicht immens, entspricht aber im Großen und Ganzen den damaligen Verhältnissen.
Im starken Kontrast dazu steht der exquisite Inhalt der Westpakete, welche die Familie von ihren Verwandten aus der Bundesrepublik regelmäßig zugeschickt bekommt. Das Auspacken gleicht einem Festakt und wird mit allen Sinnen zelebriert. Mit Stolz tragen Thilo und seine Brüder die aussortierte Kleidung ihrer Cousins auf. Gelegentlich liegen den Paketen auch abfotografierte Bilder aus Westzeitschriften bei.
Thilo ist aufgrund seines sanften Temperaments bei Erziehern und Lehrern beliebt. Er malt gern und gewinnt mit seinem Selbstbildnis in Öl eine Kreismeisterschaft. Mit beginnender Pubertät begeistert er sich für westliche Beat- und Rockmusik, die er mit dem Kofferradio seiner Mutter heimlich unter der Bettdecke hört, damit der Vater davon nichts mitbekommt.
Die musikalische Leidenschaft teilt Thilo mit seinem besten Freund, einem Klassenkameraden, der in einem ähnlichen familiären Gefüge aufwächst: Sein Vater ist ein übergesiedelter Bahnpolizist aus Bremen, während die Mutter aus Döbeln kommt. Beide Jungen begeistern sich für die Dinge, die den Westen ausmachen und sehnen sich danach, ihre dort lebenden Verwandten zu besuchen.
Mehr im Scherz lässt sich Thilo auf Gespräche ein, in denen die beiden 15-Jährigen über konkrete Möglichkeiten nachdenken. Der Freund äußert die Idee, über die Tschechoslowakei in die Bundesrepublik zu fliehen, denn er habe eine Tante, die im tschechoslowakischen Grenzgebiet wohne und kenne sich aufgrund einiger Urlaube in der Gegend aus. Thilo nimmt die Überlegungen nicht sonderlich ernst und vergisst die Unterhaltung noch am selben Abend.
Doch als er sich eines Morgens Anfang November 1970 für die Schule fertig macht – seine Eltern und Geschwister sind schon aus dem Haus gegangen – klingelt es an der Tür. Thilos Freund hat einen Schulranzen mit Ausrüstung gepackt und stellt ihn vor vollendete Tatsachen. Er will in den Westen abhauen.
»Nun wollte ich nicht als Feigling dastehen.«
Thilo packt ein, was er spontan als notwendig erachtet: warme Sachen, einen Kinderkompass, Adressen von der Verwandtschaft, Taschenlampen, Lebensmittel. Die Jugendlichen fahren mit dem Zug nach Karl-Marx-Stadt und steigen dort in einen Bus, der sie bis nach Olbernhau befördert, eine sächsische Kleinstadt im Erzgebirgskreis, die kaum drei Kilometer von der tschechoslowakischen Grenze entfernt ist. Sie laufen den Rest des Weges an einer Straße entlang, von der aus sie das Dorf der Tante auf einem Hügel in Richtung Westen und den Grenzbach östlich liegen sehen können.
Schon bald senkt sich die Dämmerung nieder. Thilo und sein Freund warten ab, bis kein Auto mehr vorbeifährt und springen dann über den Bach, der die beiden Staaten trennt. Thilos Freund rutscht ab und fällt in das eiskalte Wasser.
Auf der anderen Seite ist der Wald ebenfalls dicht und es ist stockdunkel. Thilo gesteht sich ein, wie unüberlegt ihre Aktion war. Mit ihren Taschenlampen kämpfen sich die beiden Freunde bis zur Erschöpfung durch die nächtliche Dunkelheit.
Nach ein paar Stunden des Laufens senkt sich eine derart bleierne Müdigkeit über Thilo, dass er anfängt, zu fantasieren. Sein Wunsch nach dem plötzlichen Auftauchen einer Heuscheune, die ihnen einen Unterschlupf bietet, lässt ihn sogar eine Fata Morgana sehen. Doch tatsächlich stoßen sie irgendwann auf einen kleinen Holzverschlag, in dem Waldarbeiter ihre Gerätschaften untergestellt haben. Sie lösen zwei Bretter, brechen in die Hütte ein und verbringen die Nacht leidlich geschützt vor der Kälte auf einer kleinen Holzbank.
Am nächsten Morgen setzen sie ihren Weg fort. Der Wald ist naturbelassen und lässt sich nur mühsam durchqueren, darum entschließen sie sich, solange es eben geht auf der Straße weiterzulaufen und dabei der Richtung zu folgen, die ihnen der Kompass anzeigt. Unterwegs begegnen sie Waldarbeitern und heben die Hand zum Gruß.
Irgendwann fällt die Straße vor ihnen ab und ist nicht mehr einsichtig. Plötzlich ertönt ein Geräusch und ein Militärfahrzeug fährt vorbei. Der Fahrer schaut die Jungen an und fährt zunächst an ihnen vorbei, doch wendet dann 100 Meter weiter hinten. Thilo und sein Freund wollen in den Wald flüchten, doch der Befehlston des Fahrers lässt sie vor Angst stehenbleiben.
Die tschechoslowakischen Grenzsoldaten bringen sie mit ihrem Geländewagen auf die Polizeistation des nächstgelegenen Ortes, in der Thilo und sein Freund anschließend abwechselnd die ganze Nacht hindurch verhört werden. Man bietet ihnen weder Essen noch Trinken an. Hungrig, durstig und noch übermüdet von der vorangegangenen unruhigen Nacht in der Hütte macht sich nun die Entkräftung deutlich bemerkbar.
Für ein paar Minuten sind die beiden Freunde miteinander allein und so gelingt es ihnen, sich auf eine gemeinsame Geschichte zu einigen. Den Kompass hatten sie bereits weggeworfen, nur noch die Landkarte war in ihrem Besitz, als sie festgenommen wurden. Thilo und sein Freund geben in den Verhören zwar den Fluchtversuch zu, erklären aber, sie hätten aus Angst und Heimweh wieder den Rückweg angetreten und sich dann verlaufen.
Nach einer zermürbenden Nacht müssen die Jugendlichen wieder ins Auto steigen und werden an einen Grenzpunkt zur DDR gefahren. Ein Beamter des Ministeriums für Staatssicherheit überquert die Brücke und nähert sich dem Jeep.
»Der sah aus, wie man sich einen Gestapo-Mann vorstellte: kantiges Gesicht, böser Blick. Er riss vorn die Tür auf und mein Freund kriegte erst mal ein paar Schläge ins Gesicht.«
Die Jungen werden aufgefordert, auszusteigen und dann zu einem Neubaublock geführt, wo sie eine leere Wohnung betreten. Wieder erfolgen stundenlange Vernehmungen, bis sie erneut abgeholt und zu einem militärischen Objekt gefahren werden. Es ist ein düsteres altes Gefängnisgebäude und bei Thilo wächst die Angst.
Man sperrt die Jungen in einen schmalen, zellenähnlichen Raum. Ein MfS-Beamter bewacht sie pausenlos. In einer Ecke befindet sich ein Fernseher, den man abends anschaltet und beide dazu zwingt, sich die politisch-agitatorische Propagandasendung des DDR-Fernsehens »Der schwarze Kanal« anzuschauen. Dann werden sie einzeln und abwechselnd in ein schmales Verhörzimmer geholt, wo sie der grimmig blickende MfS-Beamte mit scharfen Worten vernimmt. Thilo leidet vor allem unter dem anhaltenden Schlafmangel in der nun schon dritten Nacht in Folge. Noch immer werden ihnen Nahrung und Getränke verweigert.
Am nächsten Morgen findet die Inhaftierung zunächst ihr Ende, doch was sie jetzt erwartet, davor fürchtet sich Thilo weitaus mehr. Die Jungen werden vom Vater seines Freundes abgeholt. Als der Mann zur Tür hereinkommt, ohrfeigt er seinen Sohn mehrfach, dann steigen sie zu dritt in den Zug nach Döbeln. Angesichts dieser »Begrüßung« bettelt Thilo darum, nicht nach Hause geschickt zu werden. Denn Thilos Vater ist ein durchtrainierter Sportler. Schon eine Ohrfeige von ihm reicht, um durch das halbe Zimmer zu fliegen. Weil er die schmerzhaften Strafen für geringe Verstöße kennt, hat Thilo Panik vor der Bestrafung, die ihn nun erwartet.
Doch die Reaktion seines Vaters fällt jedoch anders aus, als erwartet. Mit eiskaltem Gesicht empfängt dieser ihn, zeigt wortlos in Richtung Kinderzimmer. Thilo stopft seine Kleidung mit allem aus, was er finden kann, um die Schmerzen der erwarteten Prügel abzumildern.
Doch sein Vater kommt nicht ins Zimmer. Mehrere Wochen lang ignoriert er Thilo komplett, spricht kein Wort mit ihm. Diese Bestrafung seines Vaters empfindet Thilo als weitaus schlimmer.
»Mit einer Tracht Prügel wäre es erledigt gewesen. Aber wochenlang wie Luft behandelt zu werden, das war eine größere Strafe.«
Es kehrt ein ungewöhnlicher Alltag ein, der den Eindruck erweckt, nichts wäre vorgefallen. In der Familie wird der Vorfall mit keinem Wort erwähnt. Bis auf die Tatsache, dass sein Freund in eine andere Klasse versetzt wird, findet für Thilo der gewohnte Schulbetrieb statt. Noch immer kann er sich nicht ausmalen, welche Konsequenzen ihr spontaner Fluchtversuch hat. Dann wird Thilo zu einer pensionierten Lehrerin bestellt, die in der Gerichtsverhandlung als seine Verteidigerin auftreten soll. Es ist eine liebe alte Dame, deren fachliche Qualifikation er allerdings nicht einschätzen kann.
Als Thilo dann das Döbelner Kreisgericht betritt, verschlägt es ihm den Atem. Seine Verhandlung wird als Schauprozess durchgeführt. Mehrere fremde Schulklassen sitzen im Saal. Unverhohlen macht man klar, dass es sich um eine Abschreckungsmaßnahme für die Schüler handelt, um eine eindringliche Warnung, seinem Vorbild nicht zu folgen. Thilos Scham über die Art und Weise, wie er hier vorgeführt wird, ist immens.
Dennoch fällt sein Strafmaß mit sechs Monaten Freiheitsentzug relativ mild aus, denn das Gericht hält ihm die Notlüge aus den Vernehmungen zugute, er habe aufgrund von Heimweh die Rückkehr anzutreten versucht.
Thilos Freund erhält keine Freiheitsstrafe. Er kommt mit einer dreijährigen Bewährungszeit davon. Thilo vermutet, dass die Stellung des Vaters als Bahnpolizist eine Rolle dabei spielt. Anfangs ärgert es Thilo, dass sein Freund so begünstigt wird, obwohl ja er der Initiator des Fluchtversuchs war. Doch dann sieht er ein, dass er eine solche Vergünstigung ebenfalls wahrgenommen hätte, wäre sie ihm zuteilgeworden.
Nach der Urteilsverkündung beginnt das Warten auf den Antritt der gerichtlich verhängten Haftstrafe. Eine verschwommene Zeit in Thilos Erinnerung, für die er die Ereignisse und seine Empfindungen nicht mehr rekapitulieren kann. Fast ein Jahr nach dem ungesetzlichen Grenzübertritt, am 16. September 1971, muss sich der 16-Jährige in Begleitung seiner Eltern in der Leipziger Justizvollzugsanstalt in der Alfred-Kästner-Straße einfinden. Noch immer macht er sich keine Vorstellung davon, was es bedeutet, eingesperrt zu sein, bis schließlich die Zellentür hinter ihm ins Schloss fällt.
»Den Ernst der Lage begriff ich erst dort drin Stück für Stück, mit jedem Ereignis, das mich belastete.«
Weil er unsicher war, wie man zu einem solchen Anlass erscheint, hatte Thilo zum Haftantritt seinen Jugendweiheanzug angezogen. Den muss er nun gegen Sträflingskleidung eintauschen, eine alte Bewacheruniform mit aufgenähten gelben Streifen. Außerdem wird ihm der Kopf rasiert.
Der Hafttrakt der JVA mit seinen Rundgängen, den in der Mitte gespannten Sicherungsnetzen, den Gucklöchern in der Zellentür und den riesigen Schlüsselbünden des Strafvollzugsdienstes erinnert ihn erneut an Filme aus der NS-Zeit. Er befindet sich im Innenhof des großen Justizkomplexes, das um 1900 als Königliches Landgericht erbaut wird und in dem sich auch die zentrale Hinrichtungsstätte der DDR verbirgt. In der ehemaligen Heizerwohnung vollstreckt man an über 60 Menschen das Todesurteil – streng abgeschottet von der Justizvollzugsanstalt und sowohl für die Angestellten und Inhaftierten als auch für die Bewohner des angrenzenden Wohngebiets unbemerkt.
Thilos Zellengenossen stammen ebenfalls aus Döbeln. Weil die Zweimannzelle der drei Häftlinge nur ein Doppelstockbett enthält, muss Thilo die kommenden Wochen auf dem Fußboden schlafen. Doch nicht nur die Schlafsituation ist für ihn eine neue, außergewöhnliche Belastung. Die Toilette steht in der Zelle, jede Notdurft muss vor den Augen und Nasen der anderen erledigt werden.
Die Justizvollzugsanstalt in der Alfred-Kästner-Straße ist nur eine vorübergehende Haftstätte. Nach drei Wochen stellt man einen Transport zusammen, der die Strafgefangenen in die jeweils für sie vorgesehenen Gefängnisanstalten überführen soll. Die Häftlinge steigen im Hof der JVA in einen Kleintransporter ein, der sie zum Leipziger Hauptbahnhof bringt. Dort führt man sie – immer zwei Häftlinge mit Handschellen aneinander gekettet – über das gesamte Bahnhofsareal. Thilo schämt sich vor den Augen der vielen Zugreisenden, die ja nicht wissen, welche Art von »Verbrechen« er begangen hat.
Thilos Fahrt mit dem sogenannten Grotewohl-Express ist kurz, denn sie führt zu einem Strafvollzugskommando, das im Jahr 1959 auf einem Acker nördlich von Raßnitz, einem Ortsteil der Gemeinde Schkopau in Sachsen-Anhalt, errichtet wird. Die Gefangenen der StVE Raßnitz sollen als Arbeitskräfte bei der aufwendigen Verlegung der Weißen Elster eingesetzt werden, welche durch den vor Ort geplanten Braunkohlentagebau erforderlich ist. Im Mai 1960 werden die ersten 120 Gefangenen in einem Barackenlager untergebracht, 1961 leben in diesem bereits 450 Gefangene.
»Im Prinzip ein Lager, wie man das aus KZ-Filmen kannte. Baracken, Zaun rundrum, Klingeldrähte, Hunde an Laufleinen. Und am Ende von diesem Gelände war dann ein Neubaublock.«
Der Wohnblock ist geteilt, wovon die eine Hälfte der Bereich der sogenannten Altstrafer ist, also der Häftlinge über 21 Jahren. Die andere Hälfte des Gebäudes, innerhalb des Geländes ein weiteres Mal abgezäunt, ist für die Jugendstrafgefangenen wie Thilo vorgesehen. Jede Gruppe, bestehend aus etwa 24 Personen, hat einen Schlafsaal mit Doppelstockbetten sowie einen Aufenthaltsraum mit Tischen, Hockern und einer Art Schrankwand. Jedem Gefangenen werden zwei Schrankfächer zugewiesen, in denen er seine persönlichen Sachen in streng vorgegebener Ordnung einräumen muss.
Die Funktionsträger unter den Strafgefangenen sind dreistufig hierarchisch gegliedert. Als unterste Stufe hier gilt der Ordnungsdienst, der sich auf einer Armbinde mit den Initialen »OD« kennzeichnet, während die zweite Stufe der Gruppenführer ein »G« trägt. Der Brigadier, der höchste Stand unter den Strafgefangenen mit besonderen Aufgaben, wird vorzugsweise aus den Langstrafern rekrutiert, also jenen Häftlingen, die mindestens zwei Jahre Freiheitsstrafe abzubüßen haben.
Diese Funktionsträger sind in Viermannzimmern untergebracht und sollen den Aufsehern die Arbeit erleichtern, indem sie innerhalb ihres Bereiches Ordnung und Disziplin durchsetzen. Dass sie ihre Machtposition gegenüber den nicht privilegierten Gefangenen auch auszunutzen versuchen liegt auf der Hand. Abgesehen von dem Vertrauen, das ihnen das Vollzugspersonal entgegenbringt, genießen sie bestimmte Vergünstigungen.
Thilo stellt große Unterschiede in der Behandlung der Alt- und Langstrafer und seiner Altersgruppe fest. Während den anderen ein größerer Bewegungsradius zugestanden wird und die Möglichkeit besteht, sich in der arbeitsfreien Zeit zu erholen, bleibt ihm Muße gänzlich verwehrt. Strafgefangene wie er müssen immer wieder den Flur des Gebäudes bohnern.
Neben der Verwirklichung von Ordnung und Disziplin nimmt die Haftarbeit im Strafvollzug der DDR eine zentrale Stellung ein. Sie gilt offiziell als Mittel der Erziehung, soll den kritischen Willen der Strafgefangenen brechen und ein politisches Wohlverhalten erzwingen.
Tatsächlich stehen aber hauptsächlich ökonomische Interessen des Staates im Vordergrund. Man setzt die Häftlinge vorzugsweise bei Tätigkeiten ein, die für zivile Arbeiter zum Beispiel wegen ihrer besonderen Schwere unattraktiv sind. Oftmals handelt es sich dabei zudem um neuralgische Punkte der Volkswirtschaft, was die Wichtigkeit der Gefangenenarbeit nochmals unterstreicht.
Die Häftlinge der StVE Raßnitz arbeiten im Braunkohlenkombinat Geiseltal und dem Tagebau Profen. Haftarbeit erfolgt zudem in den sogenannten Arbeitseinsatzbetrieben des Betongleitfertigwerks Merseburg, einer Ölraffinerie, einem Stahlwerk und einer Ziegelei sowie in den Chemischen Werken Buna, wo die Strafgefangenen beispielsweise mit der Quecksilberrückgewinnung oder dem Prüfen von Chlorgasleitungen betraut werden.
Die Arbeitsbedingungen entsprechen nicht den gesetzlichen Vorschriften des Arbeits- und Gesundheitsschutzes. Zudem setzen hohe Normen die Strafgefangenen unter Stress und begünstigen Unfälle. Eine Erholung nach Feierabend ist den Häftlingen oft nicht möglich, dazu kommen eine mangelhafte Ernährungssituation und schlechte ärztliche Versorgung.
Der 16-jährige Thilo wird mit weiteren Neuankömmlingen der »Brigade Buna« zugewiesen. Über die gesamte Haftzeit hinweg ist es seine Aufgabe, auf dem Gelände des VEB Chemisches Kombinat Buna Gräben von bis zu vier Metern Tiefe und zwei Metern Breite in Handarbeit auszuschachten. Die Jugendlichen arbeiten im Akkord. Arbeitsteilung oder regelmäßige Pausen sind nicht vorgesehen.
»Die ganze, ganze Zeit, mitten in dem Gestank. Das qualmte ja aus allen Ecken und Löchern mit giftigen Gasen, dass man bald erstickte.«
Leider werden die gesteigerten Bedürfnisse, welche die schwere körperliche Arbeit erzeugt, nicht durch eine entsprechende Kalorienaufnahme ausgeglichen. In einem Bauwagen vor dem Werksgelände nehmen die Strafgefangenen ihr Mittagessen ein, doch die Ration ist Thilo stets zu klein und die Qualität des Essens schlecht.
Der Hunger wird sein ständiger Begleiter und veranlasst ihn sogar zum Diebstahl. Thilo beobachtet regelmäßig, wie ein Mitgefangener übrig gebliebene Lebensmittel von seinem Arbeitsposten in der Küche mitbringt und in dem persönlichen Schrankfach verstaut. Als der Jugendliche eines Abends einen halben Brotlaib hinter der Schranktür versteckt, bleibt Thilo bis weit nach Mitternacht wach, bis er sich des Schlafes seiner Mitgefangenen sicher ist, und schleicht sich dann hinaus zum Aufenthaltsraum. Dort nimmt er das Brot an sich und verspeist es heimlich unter seiner Bettdecke.
Mit seinen 53 Kilogramm Körpergewicht und einer schmalen Statur gehört Thilo nicht zu den Häftlingen, die sich aufgrund ihrer bloßen Präsenz Respekt verdienen – wie es der Sohn eines Schmiedes tut, ein Hüne von 1,90 Metern Körpergröße. Doch im Raßnitzer Jugendgefängnis herrscht das Recht des Stärkeren und nicht nur die Sträflinge, die wegen Körperverletzung einsitzen, scheuen selten vor Gewaltanwendung zurück. Man warnt Thilo vor einem Zimmer in der untersten Etage des Wohnblocks, in dem die sogenannten schwererziehbaren Häftlinge untergebracht sind, deren »Aufnahmeritual« das dreimalige Verprügeln bis zur Bewusstlosigkeit sein soll.
Thilo hat das Glück, dass ein paar Wochen nach ihm ein Jugendlicher aus Döbeln in der StVE Raßnitz eintrifft, den er entfernt kennt. Der junge Mann wird als Gruppenführer eingesetzt und hält beschützend seine Hand über den 16-Jährigen. Auch ein Häftling aus dem Ordnungsdienst sieht in Thilo eine Art kleinen Bruder und hat ein wachsames Auge auf ihn.
Als Thilo eines Tages zu einem der Brigadiers bestellt wird und ihm in einen Kellerraum folgen soll, überkommt ihn ein mulmiges Gefühl. Doch wie sich herausstellt, nutzt der Brigadier den Abstellraum als Atelier. Seine Bilder sind beim Wachpersonal äußerst beliebt. Da er davon hörte, dass Thilo ebenfalls künstlerisch begabt sei und vermutlich Angst vor Konkurrenz hat, befielt er ihm, ihn zu porträtieren. Sollte er sich in dem Bild wiedererkennen, so nähme er ihn bis zum Haftende unter seinen Schutz, erklärt der Brigadier. Thilo bleibt keine Wahl, mit zitternder Hand stellt er sich der Herausforderung – und sie gelingt ihm.
Besonders nachhaltig prägen sich in Thilos Erinnerung die Besuche seiner Mutter ein, die ihn einmal im Monat für jeweils eine halbe Stunde sehen darf. Beim ersten Mal trifft Elfriede Groß tränenüberströmt im Besuchszimmer der StVE ein und schafft es die ganze Zeit über nicht, sich zu beruhigen. Thilo bekommt kaum Gelegenheit, ein Wort mit ihr zu wechseln. Bei den nachfolgenden Terminen spielt sich anfangs stets eine ähnliche Szenerie ab, doch dann gelingt es Thilos Mutter zeitiger, ihre Fassung wiederzuerlangen.
Erst viele Jahre später erfährt Thilo, dass seine Mutter bei ihrem ersten Besuch nicht allein angereist war. Sein Vater sah sich nicht in der Lage, die Haftanstalt zu betreten. Als Mitglied der kommunistischen Jugendpartei hatte er unter dem Nazi-Regime für einige Zeit im Gefängnis gesessen und fühlte sich nun beim bloßen Anblick des Geländes an diese traumatische Zeit erinnert. Diese Neuigkeit erschüttert Thilo, der seinen Vater stets als gefestigte Persönlichkeit erlebt hat.
Am 16. März 1972 hat Thilo die Freiheitsstrafe vollumfänglich abgesessen und wird nach Hause entlassen. Seine neue Herausforderung ist es, sich wieder in den Alltag und das Leben in der Freiheit zu integrieren.
Weil er beim Haftantritt kahlgeschoren wurde, lässt sich der 18-Jährige nun die Haare absichtlich lang wachsen.
Angesichts seiner langen Fehlzeit, die nahezu ein Schulhalbjahr umfasste, darf er nicht in seine alte Klasse zurückkehren. Ein Verlust, der den Jugendlichen wirklich schmerzt, denn mit seinen Mitschülern hat er sich außerordentlich gut verstanden. Nun wird er zurückgestuft. Die Eingewöhnung in den neuen Klassenverband ist jedoch leichter als erwartet. Thilo gewinnt neue Freunde. Zwei Jungen vertrauen ihm später an, er wäre ihnen damals so erschreckend angekündigt worden, dass sie mit einer Gestalt wie dem Glöckner von Notre Dame gerechnet hätten. Nun aber mussten sie feststellen, er sei ja ein ganz netter Kerl.
Die Ehrlichkeit seiner Mitschüler erleichtert Thilo. Er schämt sich nicht für seine Tat und kann anderen gegenüber selbstbewusst mit der Vorstrafe umgehen. Doch obwohl ihm im schulischen Umfeld ein guter Neustart gelingt, geht es Thilo psychisch nach der Entlassung sehr schlecht.
»Jahrelang wachte ich schweißgebadet in der Nacht auf, weil ich geträumt hatte, eingesperrt zu sein. Ich war froh, wenn ich begriff, dass es nur ein Traum war.«
Zeitnah nach seiner Entlassung nimmt Thilo auch wieder Kontakt zu seinem besten Freund auf – zur Verwunderung von dessen Eltern, die nach der ungleichen gerichtlichen Entscheidung und Thilos Hafterfahrungen ein schwieriges Verhältnis zwischen den Jungen erwartet haben.
Die Kameraden verbringen erneut viel Zeit miteinander. Nach dem Abschluss der 10. Klasse folgt er dem Vorbild seines Freundes, der seit einem Jahr in der Ausbildung zum Lokschlosser bei der Reichsbahn ist. Dieselbe Ausbildung wird in Thilos Abschlussjahr nicht angeboten, also macht er die Lehre als Fahrzeugschlosser und schließt die Wagenmeisterausbildung direkt an.
Als Thilo sich im zweiten Lehrjahr befindet und am Wochenende nach Hause kommt, erreicht ihn die schreckliche Nachricht, dass sein Freund einen Verkehrsunfall hatte. Die Verletzungen sind so gravierend, dass der junge Mann drei Wochen im Koma liegt. Jeden Tag klingelt Thilo bei den Eltern und fragt, ob sein Freund aus der Bewusstlosigkeit erwacht sei.
Als die Ärzte den Patienten aufgeben, wacht er schließlich doch auf. Thilo kann seinen Freund endlich besuchen, aber erkennt ihn kaum wieder. Aufgrund der Gehirnverletzungen bleibt der Freund Zeit seines Lebens eingeschränkt. Die Mutter seines Freundes teilt ihm einmal mit, das sei wohl die Strafe dafür, dass er nicht ins Gefängnis kam, während Thilo allein gehen musste.
Der jugendliche, unüberlegte Fluchtversuch soll Thilo noch Jahre später als Stigma anhängen und sich auch auf seine Familie auswirken, wie ein Folgeereignis aufzeigt. Etliche Jahre nach seiner Übersiedlung wird Thilos Vater wieder Besuch bei seinen Verwandten in Rheinland-Pfalz genehmigt. Schon seit Tagen stehen die Koffer fertig gepackt im Flur, denn Kunibert Groß freut sich auf das langersehnte Wiedersehen. Seine Abreise ist für 23 Uhr am Heiligabend vorgesehen. Als die Familienmitglieder am Vormittag traditionell den Weihnachtsbaum schmücken, klingelt es. Thilo öffnet die Wohnungstür, vor der eine junge Beamtin steht und Kunibert Groß sprechen will. Ihre Tonart verspricht nichts Gutes.
»Mein Vater kam nach wenigen Minuten wieder rein und weinte. Die lehnten ihn in letzter Sekunde ab, einen überzeugten Kommunisten, der freiwillig in die DDR gekommen war.«
Thilo ist sich sicher, dass die Verweigerung des Weihnachtsbesuchs mit seiner Haftstrafe zusammenhängt. Erneut bestraft ihn sein Vater mit mehreren Tagen Funkstille, in denen Thilo enorm unter Schuldgefühlen leidet.
Im Februar 1977 heiratet Thilo. Im Alter von 24 Jahren wird er zum Grundwehrdienst bei der NVA eingezogen, den er von Mai 1979 bis Oktober 1980 in Halle an der Saale absolviert. Die ersten sechs Wochen der Militärausbildung, in denen den Soldaten der Ausgang komplett untersagt ist, erinnern ihn stark an seine Haftzeit. Doch dank seines Lkw-Führerscheins wird er dem Divisionsstab als Fahrer zugeteilt und ist anschließend viel im Außeneinsatz. In den Jahren 1984 und 1989 werden Thilo und seine Frau Eltern von zwei Töchtern.
Immer wieder strebt Thilo einen beruflichen Aufstieg an, doch sein Weg ist von Niederlagen gepflastert. Wenngleich er im Verlauf der Jahre mehrere potenzielle Vorgesetzte von seiner fachlichen Kompetenz überzeugen kann, machen ihm die Eintragungen in der Kaderakte sämtliche Chancen zunichte. Auch seine Weigerung, in die SED einzutreten, ist alles andere als förderlich.
Um dem ständigen Druck aus dem Weg zu gehen, tritt Thilo 1985 gemeinsam mit seiner Frau in die CDU ein. Es ist eine naheliegende Alternative, da beide gute Verbindungen zur Kirche haben. Bis 1989 arbeitet Thilo als Wagenmeister bei der Reichsbahn. Er fühlt sich von seinen Aufgaben nicht genügend gefordert und sieht keine Perspektive.
1989 bringt die Friedliche Revolution erst den Fall der Mauer, dann das Ende der DDR und schließlich erfolgt am 3. Oktober 1990 die Wiedervereinigung Deutschlands. Die Vollendung der Verbindung von zwei Gesellschaften, die über 40 Jahre lang getrennt waren, dauert an. Für seinen Vater ist der Zusammenbruch der DDR eine riesige Enttäuschung.
»Er sagte: ›Ich gab meine Heimat auf – an der ich so hing, in der ich so anerkannt war – für diese kommunistische Idee. Und mich betrogen sie genauso wie alle anderen.‹«
Die Initiativen der Bürger während der Friedlichen Revolution stoßen auch die Schaffung einer neuen Einrichtung an, die den Zugang zu den Unterlagen des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit der DDR ermöglicht. 1991 beginnt die Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen ihre Arbeit und ist nicht nur dafür verantwortlich, das Aktenmaterial zu erhalten, sondern es auch für eine gesellschaftliche Nutzung zu öffnen. Thilo beantragt Einsicht, doch zu seiner Person wird nichts Aussagekräftiges gefunden.
Mit der Übernahme in die Dienststellenleitung in seinem Betrieb gelingt Thilo im Jahr 1992 der Karriereaufstieg. Der verantwortungsvolle Posten hat ein hohes Arbeitspensum und ist zwei Gehaltsgruppen besser bezahlt. Doch bereits 1995 wird seine Stelle aufgrund der Fusionierung von der Reichsbahn mit der Bundesbahn zur Bahn AG gestrichen. Der Verlust dieser erfüllenden Tätigkeit und die Zukunftsängste belasten ihn stark.
Thilo erkrankt an einem Magengeschwür. Seine Genesung dauert unverhältnismäßig lange und ist über viele Wochen von weiteren körperlichen Beschwerden begleitet. Schließlich wird klar, dass es sich hier um ein seelisch bedingtes Problem handelt und Thilo begibt sich in psychotherapeutische Behandlung, in der er sein Trauma aufarbeitet.
»Das war eine ganz wichtige Lebenserfahrung.«
Nach Thilos Therapie bessern sich seine Schlafstörungen und die Häufigkeit der Albträume. Die berufliche Weiterentwicklung verfolgt er beharrlich in Eigeninitiative. Abhängig von mehreren Standortschließungen ist der Pfad noch immer holprig, doch letztlich findet Thilo seinen Platz in der Ersatzteilwirtschaft und wird Technischer Inspektor bei der Deutschen Bahn.
2019 geht Thilo in Rente – doch in den Ruhestand möchte er noch nicht treten. Über zwei Jahrzehnte lang hat er sich schon als ehrenamtlicher Richter engagiert, ab 1992 am Arbeitsgericht und später am Jugendstrafgericht.
Deutlich erinnert er sich an die erste Verhandlung im Jugendstrafrecht, der er beiwohnt. Es fällt ihm unendlich schwer, mitverantwortlich für die Haftstrafe des angeklagten Jugendlichen zu sein, auch wenn diese gerechtfertigt ist. Thilo plant, sich für eine weitere Amtsperiode zu bewerben. Seine Motivation ist nicht nur, sich im Ruhestand sinnvoll zu beschäftigen, sondern auch seinen Berufswunsch aus Kindertagen zu verfolgen.
Im Großen und Ganzen gibt sich Thilo zufrieden mit der Möglichkeit, seine Interessen im ehrenamtlichen Bereich auszuüben. Dennoch hat es einen bitteren Nachgeschmack, über die verpassten Gelegenheiten in seinem Leben nachzudenken: Während der 1980er Jahre wird ihm bei der Reichsbahndirektion Berlin eine Stellung bei der Planung der Studenteneinsätze angeboten, seine Bewerbung jedoch aufgrund der Vorstrafe abgelehnt. Anlässlich der ersten freien Wahlen 1990 wirbt sein CDU-Verbandsvorsitzender um Freiwillige für die zu besetzenden Posten in der Lokalpolitik, doch Thilo fehlt das Selbstbewusstsein, sich zu melden. Von der Option, zu Anfang der 1990er Jahre mit finanziell gefördertem Studium zum Gewerkschaftsjuristen umzusatteln, erfährt er leider erst Jahre später.
»Drei wunderbare Chancen, die ich verpasste. Doch was ich nicht ändern kann, muss ich beiseiteschieben und mich über das freuen, was Tatsache ist.«
Weil das Vergessen seiner Erfahrungen mit der politischen Haft in der DDR nicht gelingt, entschließt sich Thilo im Sommer 2019 dazu, seine Vergangenheit erneut aufzuarbeiten. Er tritt dem sächsischen Landesverband der VOS bei. Nach der Beratung durch den Landesvorsitzenden Frank Nemetz beantragt er seine Rehabilitierung und die sogenannte Opferpension bei den bundesdeutschen Behörden.
Thilo stellt auch einen erneuten Antrag auf Aktenansicht bei der BStU und spekuliert darauf, dass dort aufgrund von Querverweisen neue Informationen aufgefunden werden.
»Ich zögerte lange mit dem Antrag auf Opferrente, weil es Zeiten gab, da wollte ich es einfach vergessen. Nun hoffe ich, dass das wenigstens als kleine Entschädigung funktioniert.«