Dieter Fährmann

Dieter Fährmann

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»Wenn die Familie hinter einem steht, kann nichts mehr schiefgehen.«

Dieter Fährmann kommt am 11. März 1953 in Leipzig zur Welt. Er hat zwei ältere Schwestern und sieben Jahre nach ihm wird sein Bruder Andreas geboren. Dieter wächst in einem starken Familienverband auf, behütet und geborgen.

Die Familie hat auch eine enge Bindung zu ihrer »West­verwandt­schaft«, der Familie von Dieters Mutter, die aus Hessen stammt. Die schulische Erziehung in der DDR, die Dieter ein Feindbild der kapitalistischen Bundesrepublik vermitteln will, irritiert den Jungen. Doch Politik interessiert ihn eigentlich wenig und er beschäftigt sich nicht weiter damit.

Nach der Meisterprüfung eröffnet Dieters Vater 1957 einen eigenen Malerbetrieb, auch eine seiner Töchter arbeitet in dem Privat­unternehmen. Dieter hegt seit der Kindheit den Wunsch, ebenfalls das Malerhandwerk zu lernen.

Mit 14 Jahren beendet er die Schule. Doch erst muss eine verwaltungs­mäßige Hürde überwunden werden, bevor Dieter die Lehre im väterlichen Betrieb aufnehmen kann. Der SED-Staat sieht nämlich vor, dass Lehrlinge ihre Ausbildung in einem Volkseigenen Betrieb (VEB) absolvieren.

Dieter erhält die Genehmigung, von seinem Vater ausgebildet werden zu dürfen und ist darüber sehr glücklich. 1967 beginnt er seine dreijährige Malerlehre. Der Vater stellt hohe Ansprüche an den Sohn, und Dieter ist äußerst bestrebt, ihnen zu genügen. Mit 17 hat er seinen Facharbeiterabschluss erreicht und arbeitet nun im väterlichen Betrieb. Das Handwerk ist für ihn Erfüllung.

Doch kaum ein Jahr später erreicht ihn der Einberufungsbescheid der Nationalen Volksarmee NVA. Da er keine älteren Brüder hat und von seinem Vater pazifistisch erzogen worden ist, hat Dieter keine Vorstellung davon, was ihn beim Grund­wehr­dienst erwartet.

»Ich war ein völlig unbelecktes Blatt, kannte mich nicht aus.«

Dieter Fährmanns Wehrdienstausweis, 1972

Die Volkskammer verabschiedet im Januar 1956 das Gesetz über die Gründung der NVA, der Armee der Deutschen Demokratischen Republik. Sie ist dem Ministerium für Nationale Verteidigung unterstellt. Die Mannschaftsstärke der Freiwilligenarmee liegt anfangs bei ca. 100 000 Soldaten.

1962 wird dann die Wehrpflicht eingeführt, die einen Grund­wehr­dienst von 18 Monaten vorsieht. Zum Grund­wehr­dienst werden Männer im Alter von 18 bis 26 Jahren eingezogen. Einen zivilen Wehrersatzdienst gibt es nicht, jedoch schafft man ab 1964 die Sonderform der Baueinheiten. Der waffenlose Dienst als Bausoldat kann Schikanen und negative Auswirkungen auf die Ausbildungschancen nach sich ziehen.

Am 3. Mai 1972 beginnt Dieter seinen Grund­wehr­dienst bei der Artillerie, den Landstreit kräften. Er ist in der Kaserne in der Olbrichtstraße im Norden Leipzigs stationiert. Wie alle Grund­wehr­dienst­leistenden wird er zunächst mit einer Uniform ausgestattet und findet sich dann umstandslos vor einer großen, russischen Kanone wieder. Dieter fühlt sich anfangs überfordert mit dem schweren Gerät, erfüllt aber seinen Dienst so gut er kann und versteht sich mit den Kameraden einwandfrei.

»Aber ich ging mit dem System, in das ich dort eingebunden war, nicht konform.«

Dieter widerstrebt die ihm erzwungene Auszeit von seinem frisch erlernten Handwerk, in das er sich eigentlich gerade mit ganzer Kraft und Herzblut einbringen wollte. Der Sommer 1972 hat schöne, warme Monate, doch der junge Mann ist wochenlang in der Kaserne festgesetzt und kann nicht nach Hause. Dabei sehnt er sich nach seiner Familie und vor allem nach seiner Freundin.

Mehrmals zieht er deshalb an den Sonntagen seine Ausgangs­uniform an und verlässt unautorisiert das Kasernengelände, um sie zu besuchen. Die Soldaten haben keinen Dienst, sie sitzen ihre freie Zeit nur auf der Stube ab, und da keine Überwachung stattfindet, gelingt es Dieter mühelos, sich davonzustehlen.

Der Tragweite seiner »unerlaubten Entfernung« ist er sich nicht bewusst. Auch andere Soldaten verlassen heimlich die Kaserne. Nachdem Dieter zum dritten Mal bei seiner Rückkehr von einem Kameraden verraten wird, stellt ihn der Batteriechef vor der gesamten Abteilung zur Rede und legt ihm eine 13-wöchige Ausgangs­sperre auf. Dieter ist von dieser Maßregelung schockiert.

»Irgendwann kam der Moment, da ging es nicht mehr. Ich hatte hier nichts verloren. Ich wollte hier weg und nicht wiederkommen.«

Am 12. Juli 1972 steigt Dieter nach Dienstschluss über den Zaun des Kasernengeländes und fährt nach Hause. Dort entledigt er sich seiner Uniform, packt eine Tasche und etwas Geld zusammen und begibt sich zum Bahnhof.

Der erstbeste Zug fährt nach Dresden, Dieter steigt ein. Weg von der Kaserne, weg vom Militär sind die einzigen Gedanken in seinem Kopf. Auf dem Bahnsteig in Dresden steht ein Zug in Richtung Bad Schandau, eine Kleinstadt im Elbsandsteingebirge. Auch hier fährt er mit.

Doch am Bahnhof von Bad Schandau fallen ihm Uniformen ins Auge, denn Grenz­soldaten sind an der Haltestelle unterwegs. Panisch verlässt er den Zug und läuft los, in das Dorf hinein. Dieter erreicht einen Gasthof und kehrt zum Mittagessen ein. Er fragt nach einer Unterkunft und kann eine kleine Blockhütte beziehen.

Vier Tage verbringt er allein in der Hütte, geht durch die Wälder der Sächsischen Schweiz spazieren und kommt langsam zur Ruhe und zur Besinnung. Nun wird ihm bewusst, dass er Fahnenflucht begangen hat.

Dieter bezahlt seine Unterkunft und besorgt sich eine Umgebungs­karte. Er ist mehr als 150 Kilometer in östlicher Richtung von Leipzig entfernt. Jetzt gilt seine Sorge dem Finden eines Rückwegs. In der Nähe befindet sich eine Bushaltestelle, dorthin macht er sich auf den Weg.

Doch er kommt nicht weit. Da es sich um Grenz­gebiet handelt, wird Dieter schon nach kurzer Zeit von einem patrouillierenden Grenz­beamten aufgegriffen. Der Mann nimmt ihn mit in sein Dienstzimmer, wo Dieter seine Geschichte erzählt.

Der Grenz­offizier reagiert durchaus verständnisvoll, unterrichtet Dieter aber auch davon, dass dieser bereits seit Tagen gesucht wird. Dann informiert er die zuständigen Stellen, damit die landesweite Fahndung eingestellt wird und bringt Dieter in den Militär­gewahrsam nach Pirna.

Am nächsten Morgen wird er dort von Angehörigen seiner Kompanie abgeholt. Ein Offizier richtet eine Waffe auf ihn und droht, Dieter bei dem geringsten Fluchtversuch zu erschießen. Eingeschüchtert und mit schlechtem Gewissen, einen solchen Trubel verursacht zu haben, gehorcht Dieter jeder Anweisung des bewaffneten Offiziers.

»Ich hatte einen Fehler gemacht und mir das selber eingebrockt. Warum ich ihn gemacht hatte, wusste ich immer noch nicht. Irgendwas war in mir passiert.«

Dieter wird in der Georg-Schumann-Kaserne in Leipzig-Möckern in Arrest gesetzt. Zwei Tage später, am 17. Juli 1972, übergibt ihn das Militär merkwürdigerweise an ein Zivilgefängnis, an die Straf­vollzugs­einrichtung in der Alfred-Kästner-Straße. Dieter unterhält sich mit den Männern in der Auffangzelle. Keiner von ihnen hat eine militärische Straftat begangen.

Etwa drei Wochen ist Dieter hier inhaftiert, immer wieder muss er zu Vernehmungen bei einem älteren, verständnisvollen Major. Dann verlegt man ihn in die Untersuchungshaftanstalt der Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit MfS in der Beethovenstraße. Als Mitte August der Termin für die Gerichts­verhandlung ansteht, wird er mit dem Zug nach Halle und erneut in ein ziviles Gefängnis gebracht.

Dieter hat mittlerweile schriftlich Kontakt zu seiner Familie aufnehmen dürfen. Der Vater spricht ihm Mut zu und rät, hinsichtlich seiner Bestrafung Vertrauen in die Justiz zu haben.

Zwei Gefängniswächter begleiten ihn auf der Fahrt zum Militär­gericht. Er wird in einen kleinen Verhandlungsraum geführt, der bereits mit zahlreichen Offizieren aus seiner Abteilung gefüllt ist. Auch die Soldaten seiner Stube und die FDJ-Vertretung sind anwesend.

Man wirft dem 19-Jährigen nicht nur die Fahnenflucht, sondern auch versuchte Republik flucht vor. Über die Tschechei und Österreich bis nach Hessen soll er versucht haben, zu seiner Großmutter zu gelangen.

»Ich stellte mir das vor, wie sollte denn das gehen? Ich war froh, dass ich den Rückweg nach Leipzig gefunden hatte.«

Er darf sich zu keinem Punkt der Anklage rechtfertigen. Seine einzigen Fürsprecher sind die Kameraden aus der Stube. Nach einer Stunde fällt das Urteil: Fahnenflucht im schweren Fall, zwei Jahre und zwei Monate schwerster Strafvollzug.

14 Tage später tritt er seine Strafe im Berliner Gefängnis Rummelsburg an. Das Gefängnis ist ein ehemaliges Arbeitslager, ursprünglich für Knaben des benachbarten Waisenhauses errichtet und später von den Nationalsozialisten als sogenannte Bewahrungs­anstalt übernommen. Nach dem Zweiten Weltkrieg werden die Gebäude als Haftanstalt genutzt. Mit Platz für etwa 900 Gefangene sollen sie den Gefängnismangel im Ostteil der Stadt ausgleichen.

Dieter wird dem Arbeitskommando Bücherei zugeteilt. Ein Glücksfall für ihn, denn hier lernt er das Buchbinden und kann seine handwerklichen Fertigkeiten weiterentwickeln. Mit den anderen Inhaftierten kann er sich gut arrangieren, zwei ältere Männer nehmen ihn väterlich unter ihre Fittiche.

Das Verhältnis zwischen Wachposten und Häftlingen empfindet Dieter als harmonisch. Da sein verantwortlicher Erzieher, ein junger Offizier, ihn mit der Anfertigung von drei Bucheinbänden beauftragt, bietet sich Dieter die Chance, seine Handwerkskunst zu präsentieren.

Eines Tages, als er allein in einem abgelegenen Teil des Gefäng­nisses Aufräumarbeiten verrichtet, bricht sein Schließer mit Herzproblemen zusammen. Dieter bringt den alten Hauptmann in den Krankentrakt, schließt selbst jede einzelne Tür vor sich auf und hinter sich wieder zu. Der Wärter überlebt und bedankt sich hinterher persönlich bei Dieter.

Episoden wie diese sind es, die Dieter seine Haftzeit angenehm in Erinnerung behalten lassen. Er betrachtet den Strafvollzug als Auszeit, um etwas über das Leben und über andere zu lernen.

Dieter weiß auch, dass er mit der Haftanstalt Rummelsburg glimpflich davon gekommen ist, denn eigentlich hätte er mit seinem Vergehen nicht in einem Zivil­gefängnis landen dürfen – und in Militär­gefängnissen wie Schwedt/Oder herrschen ganz andere Umgangsformen.

Ein einziges Mal bekommt Dieter Besuch vom Vater. Der Maler­meister hat ein ganzes Paket mit Obst und Süßigkeiten mitge­bracht, darf aber nur eine Tafel Schokolade daraus über­reichen. Doch die moralische Unterstützung vom Vater und von der Familie ist für Dieter das Wichtigste, und er weiß nun, dass alle geschlossen hinter ihm stehen.

»Ich habe einen Brief von meinem Vater ins Gefängnis bekommen, in dem alles stand, was man für die ganze Zeit zum Durchhalten braucht.«

Brief von Dieter Fährmann an seine Familie, 15. August 1972

Im November 1972 erfahren die Häftlinge im Gefängnis Rummelsburg von der Amnestie, die Erich Honecker im Zuge seiner 1971 erfolgten Amtsnachfolge als Erster Sekretär des Zentral­komitees der SED erlässt.

Die DDR-Haftanstalten leeren sich rapide, und das Gefängnis­personal ist mit der Welle von Entlassungen überfordert. Dieters Erzieher bittet ihn um Verständnis, dass er Häftlinge mit Familie bei der Bearbeitung der Formalitäten vorrangig behandelt.

Dieter verbringt sein Weihnachtsfest mit den wenigen verbliebenen Häftlingen und darf am frühen Morgen des 3. Januar 1973 vor die Tore der Berliner Straf­vollzugs­anstalt treten. Mit sechs weiteren jungen Männern macht er sich auf den Heimweg.

Angekommen auf dem Leipziger Hauptbahnhof ist er mit der Situation überfordert. Er trägt die dünne Sommerkleidung, in der er im Juli verhaftet worden ist, und fühlt sich darin unangenehm auffällig. Die zahlreichen Menschen, die auf den Straßen unterwegs sind, ist er nicht mehr gewöhnt. Trotzdem realisiert Dieter, dass es nun bergauf für ihn geht.

»Frei. Nicht mehr eingesperrt. Das war schön.«

Dieters Familie nimmt ihn mit offenen Armen auf. Mit ihrer Hilfe verarbeitet er die Geschehnisse, auch wenn er ihnen gegenüber nicht alles thematisiert. Alltag kehrt wieder ein.

Erneut muss sich Dieter allerdings erst erkämpfen, wieder bei seinem Vater arbeiten zu dürfen, denn die Bewährungs­auflagen weisen ihm eine Arbeitsstelle in einem Dessauer VEB zu. Doch der Arbeitsvertrag mit dem väterlichen Betrieb hat rechtliche Gültigkeit, und so wird die Angelegenheit zu seinen Gunsten geklärt.

Die offene Rechnung für seine Fahndung begleicht Dieter anstandslos, denn dies bedeutet für ihn, mit der Vergangenheit abzuschließen. Drei Jahre dauert die Bewährungs­frist.

»Mein Vater sagte: ›Junge, du musst drei Jahre lang deine Schnauze halten.‹«

Dass es ihm verboten ist, Kontakt zu seiner Freundin aufzunehmen, nimmt Dieter sehr mit. Von weiteren Auflagen bleibt er jedoch unbehelligt.

Dieter widmet sich nun mit vollem Einsatz dem Arbeitsleben. Der Malerbetrieb spezialisiert sich zunehmend auf Restaurierungen. Mit jedem Auftrag verschafft sich Dieters Vater Bekanntheit und knüpft freundschaftliche Verbindungen – ein wichtiger Vorteil angesichts der sich ausbreitenden Mangelwirtschaft in der DDR.

Dieter ist mittlerweile verlobt und erwartet mit seiner Rosemarie ein Kind. Auf behördlichem Weg hat er keinen Erfolg, eine Wohnung zu bekommen, da erweisen sich die Beziehungen des Vaters als hilfreich. Der Vermittler der neuen Unterkunft ist Ehrengast auf Dieters Hochzeit am 4. Oktober 1974.

Am 12. Februar 1975 wird Tochter Kati geboren. Die Bewährungs­zeit geht für Dieter wie im Flug vorbei. Seine Frau bringt am 23. April 1977 die zweite Tochter Anja zur Welt.

Im Sommer 1978 erreicht Dieter ein Brief: Die Nationale Volks­armee beruft ihn zum Reservedienst ein. Bis zur Vollendung des 50. Lebensjahres gehört ein gedienter oder ungedienter Wehrpflichtiger zur Reserve der NVA und kann dementsprechend zu militärischen Übungen eingezogen werden.

Dieter ist nun 25 Jahre alt und zweifacher Familienvater, er trägt Verantwortung.

»Ich hatte nun schon ein paar Jahre was gelernt. Jetzt war ich gewappnet und dachte, das passiert mir nicht noch mal mit euch.«

Er wird erneut in der Artillerie eingesetzt. Dieter fügt sich jeder Anweisung, er will sich nichts zuschulden kommen lassen, auch wenn es ihm nach wie vor unangenehm ist, die sowjetischen 130-mm-Kanonen zu bedienen.

Schnell merkt er, dass ein Reservist deutlich bevorzugt gegenüber den Soldaten behandelt wird, die ihren Grundwehrdienst ableisten. So wird Dieter einmal sogar von Schießübungen auf dem Feld weggeholt, als ihn seine Familie unangekündigt besucht.

Nachdem die Ausbildungseinheiten absolviert sind, werden die letzten Wochen des dreimonatigen Reservedienstes langatmig. Um dem lästigen Waffenputzen zu entkommen, meldet sich Dieter freiwillig für die Gestaltung der Treppenhäuser der frisch renovierten Kaserne. Die Kommandeure sind von seinen Wand­tafeln so begeistert, dass Dieter für die gesamte Abteilung Werbetafeln kreieren soll.

»Ich hatte einen Nerv getroffen.«

Die restlichen acht Wochen verbringt Dieter nur noch mit den Dekorationsarbeiten und genießt diverse Freiheiten. Er darf am Wochenende zu Hause schlafen und erhält in der letzten Woche seines Reservedienstes Urlaub. Zudem wird er für seine Arbeit ausge zeichnet und verlässt die NVA Ende Oktober 1978 als Gefreiter.

Dieter und Rosemarie bekommen ein drittes Kind, es ist wieder eine Tochter. Um die Familie versorgen zu können, arbeitet er viel, auch nach Feierabend und am Wochenende.

Unvermittelt verstirbt seine Frau an einer falsch dosierten Medikamenten­einnahme. Wieder steht Dieters Familie ihm sofort zur Seite. Seine Eltern ziehen in die Nachbar wohnung, und da seine Mutter sich nun um die Mädchen kümmern kann, fährt Dieter wieder mit dem Vater auf die Baustellen.

Während ihrer Arbeit in der Frohburger Kirche im Spätsommer 1989 entstehen erste Plakate für die Montagsdemonstrationen. Von nun an malen Dieter und seine Kollegen jeden Montag Trans­pa­rente mit Losungen zu allem, was ihnen aktuell wichtig erscheint: Reisefreiheit, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, soziale Gleich­berechtigung. Dann schließen sie sich den Demonstrations­zügen auf dem Leipziger Ring an.

Dass sich unter den Demonstranten Spitzel der Staatssicherheit befinden, weiß Dieter genau, doch es macht ihm keine Angst. In der Masse der Menschen, die für ein gemeinsames Ziel auf die Straße gehen, fühlt er sich geschützt. Dieter zeigt sich als selbstbewusster Demonstrant und ist beeindruckt von der friedlichen Eigendynamik der Protestmärsche. Nach jeder Demonstration hängt er die Plakate an den Hausfassaden seines Wohngebiets auf.

Der 2. Oktober 1989 bleibt ein unvergesslicher Montag für ihn. An diesem Tag erreicht die Teilnehmerzahl etwa 20 000, zum ersten Mal wird »Wir sind das Volk!« gerufen. Beim Eingreifen der Volkspolizei gibt es Verletzte.

Dieters Bruder Andreas ist unter den Demonstranten, er selbst und sein Vater haben es vor deren Absperrung nicht mehr in die Innenstadt geschafft. Sie laden ihr Auto mit brennbaren Flüssig­keiten aus der Malerwerkstatt voll und bewaffnen sich mit Knüppeln. Dann verfolgen sie die Berichterstattung am Autoradio.

»Wir sagten: Wenn die auf unsere Familien­mitglieder schießen, müssen sämtliche öffentlichen Gebäude oder Parteihäuser brennen.«

Nach der Wiedervereinigung erklärt Dieters Vater ihn für ausgelernt. 1993 schließt er den Malerbetrieb. Dieter arbeitet in verschiedenen Firmen weiter und übernimmt schließlich einen Hausmeisterposten, den er bis zur Rente auf verkürzter Basis ausüben will. Er lernt seine spätere zweite Frau kennen, 1996 heiraten sie.

Vor wenigen Jahren hat er eine ungewöhnliche Form der Vergangenheits­bewältigung begonnen: Dieter hat sich eine Sammlung von Panzermodellen bestellt. Er liest alles über den technischen und geschichtlichen Hintergrund des Kriegsgeräts und bringt sich so bei, was er zu Zeiten seines Grundwehrdienstes nicht gewusst und was ihn damals so erschreckt und überfordert hat.

Heute kann er ganz offen über sein Schicksal reden. Er ist sich sicher, dass er ohne seinen starken Familienverband, der ihm geholfen hat, sich wieder in das Leben zu integrieren, auf der Strecke geblieben wäre.

Dieter ist Mitglied der Vereinigung der Opfer des Stalinismus e. V. (VOS). Seine Rehabilitation hat er beantragt.

»Wenn die Familie hinter einem steht, kann nichts mehr schiefgehen.«

Dieter Fährmann kommt am 11. März 1953 in Leipzig zur Welt. Er hat zwei ältere Schwestern und sieben Jahre nach ihm wird sein Bruder Andreas geboren. Dieter wächst in einem starken Familienverband auf, behütet und geborgen.

Die Familie hat auch eine enge Bindung zu ihrer »West­verwandt­schaft«, der Familie von Dieters Mutter, die aus Hessen stammt. Die schulische Erziehung in der DDR, die Dieter ein Feindbild der kapitalistischen Bundesrepublik vermitteln will, irritiert den Jungen. Doch Politik interessiert ihn eigentlich wenig und er beschäftigt sich nicht weiter damit.

Nach der Meisterprüfung eröffnet Dieters Vater 1957 einen eigenen Malerbetrieb, auch eine seiner Töchter arbeitet in dem Privat­unternehmen. Dieter hegt seit der Kindheit den Wunsch, ebenfalls das Malerhandwerk zu lernen.

Mit 14 Jahren beendet er die Schule. Doch erst muss eine verwaltungs­mäßige Hürde überwunden werden, bevor Dieter die Lehre im väterlichen Betrieb aufnehmen kann. Der SED-Staat sieht nämlich vor, dass Lehrlinge ihre Ausbildung in einem Volkseigenen Betrieb (VEB) absolvieren.

Dieter erhält die Genehmigung, von seinem Vater ausgebildet werden zu dürfen und ist darüber sehr glücklich. 1967 beginnt er seine dreijährige Malerlehre. Der Vater stellt hohe Ansprüche an den Sohn, und Dieter ist äußerst bestrebt, ihnen zu genügen. Mit 17 hat er seinen Facharbeiterabschluss erreicht und arbeitet nun im väterlichen Betrieb. Das Handwerk ist für ihn Erfüllung.

Doch kaum ein Jahr später erreicht ihn der Einberufungsbescheid der Nationalen Volksarmee NVA. Da er keine älteren Brüder hat und von seinem Vater pazifistisch erzogen worden ist, hat Dieter keine Vorstellung davon, was ihn beim Grund­wehr­dienst erwartet.

»Ich war ein völlig unbelecktes Blatt, kannte mich nicht aus.«

Dieter Fährmanns Wehrdienstausweis, 1972

Die Volkskammer verabschiedet im Januar 1956 das Gesetz über die Gründung der NVA, der Armee der Deutschen Demokratischen Republik. Sie ist dem Ministerium für Nationale Verteidigung unterstellt. Die Mannschaftsstärke der Freiwilligenarmee liegt anfangs bei ca. 100 000 Soldaten.

1962 wird dann die Wehrpflicht eingeführt, die einen Grund­wehr­dienst von 18 Monaten vorsieht. Zum Grund­wehr­dienst werden Männer im Alter von 18 bis 26 Jahren eingezogen. Einen zivilen Wehrersatzdienst gibt es nicht, jedoch schafft man ab 1964 die Sonderform der Baueinheiten. Der waffenlose Dienst als Bausoldat kann Schikanen und negative Auswirkungen auf die Ausbildungschancen nach sich ziehen.

Am 3. Mai 1972 beginnt Dieter seinen Grund­wehr­dienst bei der Artillerie, den Landstreit kräften. Er ist in der Kaserne in der Olbrichtstraße im Norden Leipzigs stationiert. Wie alle Grund­wehr­dienst­leistenden wird er zunächst mit einer Uniform ausgestattet und findet sich dann umstandslos vor einer großen, russischen Kanone wieder. Dieter fühlt sich anfangs überfordert mit dem schweren Gerät, erfüllt aber seinen Dienst so gut er kann und versteht sich mit den Kameraden einwandfrei.

»Aber ich ging mit dem System, in das ich dort eingebunden war, nicht konform.«

Dieter widerstrebt die ihm erzwungene Auszeit von seinem frisch erlernten Handwerk, in das er sich eigentlich gerade mit ganzer Kraft und Herzblut einbringen wollte. Der Sommer 1972 hat schöne, warme Monate, doch der junge Mann ist wochenlang in der Kaserne festgesetzt und kann nicht nach Hause. Dabei sehnt er sich nach seiner Familie und vor allem nach seiner Freundin.

Mehrmals zieht er deshalb an den Sonntagen seine Ausgangs­uniform an und verlässt unautorisiert das Kasernengelände, um sie zu besuchen. Die Soldaten haben keinen Dienst, sie sitzen ihre freie Zeit nur auf der Stube ab, und da keine Überwachung stattfindet, gelingt es Dieter mühelos, sich davonzustehlen.

Der Tragweite seiner »unerlaubten Entfernung« ist er sich nicht bewusst. Auch andere Soldaten verlassen heimlich die Kaserne. Nachdem Dieter zum dritten Mal bei seiner Rückkehr von einem Kameraden verraten wird, stellt ihn der Batteriechef vor der gesamten Abteilung zur Rede und legt ihm eine 13-wöchige Ausgangs­sperre auf. Dieter ist von dieser Maßregelung schockiert.

»Irgendwann kam der Moment, da ging es nicht mehr. Ich hatte hier nichts verloren. Ich wollte hier weg und nicht wiederkommen.«

Am 12. Juli 1972 steigt Dieter nach Dienstschluss über den Zaun des Kasernengeländes und fährt nach Hause. Dort entledigt er sich seiner Uniform, packt eine Tasche und etwas Geld zusammen und begibt sich zum Bahnhof.

Der erstbeste Zug fährt nach Dresden, Dieter steigt ein. Weg von der Kaserne, weg vom Militär sind die einzigen Gedanken in seinem Kopf. Auf dem Bahnsteig in Dresden steht ein Zug in Richtung Bad Schandau, eine Kleinstadt im Elbsandsteingebirge. Auch hier fährt er mit.

Doch am Bahnhof von Bad Schandau fallen ihm Uniformen ins Auge, denn Grenz­soldaten sind an der Haltestelle unterwegs. Panisch verlässt er den Zug und läuft los, in das Dorf hinein. Dieter erreicht einen Gasthof und kehrt zum Mittagessen ein. Er fragt nach einer Unterkunft und kann eine kleine Blockhütte beziehen.

Vier Tage verbringt er allein in der Hütte, geht durch die Wälder der Sächsischen Schweiz spazieren und kommt langsam zur Ruhe und zur Besinnung. Nun wird ihm bewusst, dass er Fahnenflucht begangen hat.

Dieter bezahlt seine Unterkunft und besorgt sich eine Umgebungs­karte. Er ist mehr als 150 Kilometer in östlicher Richtung von Leipzig entfernt. Jetzt gilt seine Sorge dem Finden eines Rückwegs. In der Nähe befindet sich eine Bushaltestelle, dorthin macht er sich auf den Weg.

Doch er kommt nicht weit. Da es sich um Grenz­gebiet handelt, wird Dieter schon nach kurzer Zeit von einem patrouillierenden Grenz­beamten aufgegriffen. Der Mann nimmt ihn mit in sein Dienstzimmer, wo Dieter seine Geschichte erzählt.

Der Grenz­offizier reagiert durchaus verständnisvoll, unterrichtet Dieter aber auch davon, dass dieser bereits seit Tagen gesucht wird. Dann informiert er die zuständigen Stellen, damit die landesweite Fahndung eingestellt wird und bringt Dieter in den Militär­gewahrsam nach Pirna.

Am nächsten Morgen wird er dort von Angehörigen seiner Kompanie abgeholt. Ein Offizier richtet eine Waffe auf ihn und droht, Dieter bei dem geringsten Fluchtversuch zu erschießen. Eingeschüchtert und mit schlechtem Gewissen, einen solchen Trubel verursacht zu haben, gehorcht Dieter jeder Anweisung des bewaffneten Offiziers.

»Ich hatte einen Fehler gemacht und mir das selber eingebrockt. Warum ich ihn gemacht hatte, wusste ich immer noch nicht. Irgendwas war in mir passiert.«

Dieter wird in der Georg-Schumann-Kaserne in Leipzig-Möckern in Arrest gesetzt. Zwei Tage später, am 17. Juli 1972, übergibt ihn das Militär merkwürdigerweise an ein Zivilgefängnis, an die Straf­vollzugs­einrichtung in der Alfred-Kästner-Straße. Dieter unterhält sich mit den Männern in der Auffangzelle. Keiner von ihnen hat eine militärische Straftat begangen.

Etwa drei Wochen ist Dieter hier inhaftiert, immer wieder muss er zu Vernehmungen bei einem älteren, verständnisvollen Major. Dann verlegt man ihn in die Untersuchungshaftanstalt der Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit MfS in der Beethovenstraße. Als Mitte August der Termin für die Gerichts­verhandlung ansteht, wird er mit dem Zug nach Halle und erneut in ein ziviles Gefängnis gebracht.

Dieter hat mittlerweile schriftlich Kontakt zu seiner Familie aufnehmen dürfen. Der Vater spricht ihm Mut zu und rät, hinsichtlich seiner Bestrafung Vertrauen in die Justiz zu haben.

Zwei Gefängniswächter begleiten ihn auf der Fahrt zum Militär­gericht. Er wird in einen kleinen Verhandlungsraum geführt, der bereits mit zahlreichen Offizieren aus seiner Abteilung gefüllt ist. Auch die Soldaten seiner Stube und die FDJ-Vertretung sind anwesend.

Man wirft dem 19-Jährigen nicht nur die Fahnenflucht, sondern auch versuchte Republik flucht vor. Über die Tschechei und Österreich bis nach Hessen soll er versucht haben, zu seiner Großmutter zu gelangen.

»Ich stellte mir das vor, wie sollte denn das gehen? Ich war froh, dass ich den Rückweg nach Leipzig gefunden hatte.«

Er darf sich zu keinem Punkt der Anklage rechtfertigen. Seine einzigen Fürsprecher sind die Kameraden aus der Stube. Nach einer Stunde fällt das Urteil: Fahnenflucht im schweren Fall, zwei Jahre und zwei Monate schwerster Strafvollzug.

14 Tage später tritt er seine Strafe im Berliner Gefängnis Rummelsburg an. Das Gefängnis ist ein ehemaliges Arbeitslager, ursprünglich für Knaben des benachbarten Waisenhauses errichtet und später von den Nationalsozialisten als sogenannte Bewahrungs­anstalt übernommen. Nach dem Zweiten Weltkrieg werden die Gebäude als Haftanstalt genutzt. Mit Platz für etwa 900 Gefangene sollen sie den Gefängnismangel im Ostteil der Stadt ausgleichen.

Dieter wird dem Arbeitskommando Bücherei zugeteilt. Ein Glücksfall für ihn, denn hier lernt er das Buchbinden und kann seine handwerklichen Fertigkeiten weiterentwickeln. Mit den anderen Inhaftierten kann er sich gut arrangieren, zwei ältere Männer nehmen ihn väterlich unter ihre Fittiche.

Das Verhältnis zwischen Wachposten und Häftlingen empfindet Dieter als harmonisch. Da sein verantwortlicher Erzieher, ein junger Offizier, ihn mit der Anfertigung von drei Bucheinbänden beauftragt, bietet sich Dieter die Chance, seine Handwerkskunst zu präsentieren.

Eines Tages, als er allein in einem abgelegenen Teil des Gefäng­nisses Aufräumarbeiten verrichtet, bricht sein Schließer mit Herzproblemen zusammen. Dieter bringt den alten Hauptmann in den Krankentrakt, schließt selbst jede einzelne Tür vor sich auf und hinter sich wieder zu. Der Wärter überlebt und bedankt sich hinterher persönlich bei Dieter.

Episoden wie diese sind es, die Dieter seine Haftzeit angenehm in Erinnerung behalten lassen. Er betrachtet den Strafvollzug als Auszeit, um etwas über das Leben und über andere zu lernen.

Dieter weiß auch, dass er mit der Haftanstalt Rummelsburg glimpflich davon gekommen ist, denn eigentlich hätte er mit seinem Vergehen nicht in einem Zivil­gefängnis landen dürfen – und in Militär­gefängnissen wie Schwedt/Oder herrschen ganz andere Umgangsformen.

Ein einziges Mal bekommt Dieter Besuch vom Vater. Der Maler­meister hat ein ganzes Paket mit Obst und Süßigkeiten mitge­bracht, darf aber nur eine Tafel Schokolade daraus über­reichen. Doch die moralische Unterstützung vom Vater und von der Familie ist für Dieter das Wichtigste, und er weiß nun, dass alle geschlossen hinter ihm stehen.

»Ich habe einen Brief von meinem Vater ins Gefängnis bekommen, in dem alles stand, was man für die ganze Zeit zum Durchhalten braucht.«

Brief von Dieter Fährmann an seine Familie, 15. August 1972

Im November 1972 erfahren die Häftlinge im Gefängnis Rummelsburg von der Amnestie, die Erich Honecker im Zuge seiner 1971 erfolgten Amtsnachfolge als Erster Sekretär des Zentral­komitees der SED erlässt.

Die DDR-Haftanstalten leeren sich rapide, und das Gefängnis­personal ist mit der Welle von Entlassungen überfordert. Dieters Erzieher bittet ihn um Verständnis, dass er Häftlinge mit Familie bei der Bearbeitung der Formalitäten vorrangig behandelt.

Dieter verbringt sein Weihnachtsfest mit den wenigen verbliebenen Häftlingen und darf am frühen Morgen des 3. Januar 1973 vor die Tore der Berliner Straf­vollzugs­anstalt treten. Mit sechs weiteren jungen Männern macht er sich auf den Heimweg.

Angekommen auf dem Leipziger Hauptbahnhof ist er mit der Situation überfordert. Er trägt die dünne Sommerkleidung, in der er im Juli verhaftet worden ist, und fühlt sich darin unangenehm auffällig. Die zahlreichen Menschen, die auf den Straßen unterwegs sind, ist er nicht mehr gewöhnt. Trotzdem realisiert Dieter, dass es nun bergauf für ihn geht.

»Frei. Nicht mehr eingesperrt. Das war schön.«

Dieters Familie nimmt ihn mit offenen Armen auf. Mit ihrer Hilfe verarbeitet er die Geschehnisse, auch wenn er ihnen gegenüber nicht alles thematisiert. Alltag kehrt wieder ein.

Erneut muss sich Dieter allerdings erst erkämpfen, wieder bei seinem Vater arbeiten zu dürfen, denn die Bewährungs­auflagen weisen ihm eine Arbeitsstelle in einem Dessauer VEB zu. Doch der Arbeitsvertrag mit dem väterlichen Betrieb hat rechtliche Gültigkeit, und so wird die Angelegenheit zu seinen Gunsten geklärt.

Die offene Rechnung für seine Fahndung begleicht Dieter anstandslos, denn dies bedeutet für ihn, mit der Vergangenheit abzuschließen. Drei Jahre dauert die Bewährungs­frist.

»Mein Vater sagte: ›Junge, du musst drei Jahre lang deine Schnauze halten.‹«

Dass es ihm verboten ist, Kontakt zu seiner Freundin aufzunehmen, nimmt Dieter sehr mit. Von weiteren Auflagen bleibt er jedoch unbehelligt.

Dieter widmet sich nun mit vollem Einsatz dem Arbeitsleben. Der Malerbetrieb spezialisiert sich zunehmend auf Restaurierungen. Mit jedem Auftrag verschafft sich Dieters Vater Bekanntheit und knüpft freundschaftliche Verbindungen – ein wichtiger Vorteil angesichts der sich ausbreitenden Mangelwirtschaft in der DDR.

Dieter ist mittlerweile verlobt und erwartet mit seiner Rosemarie ein Kind. Auf behördlichem Weg hat er keinen Erfolg, eine Wohnung zu bekommen, da erweisen sich die Beziehungen des Vaters als hilfreich. Der Vermittler der neuen Unterkunft ist Ehrengast auf Dieters Hochzeit am 4. Oktober 1974.

Am 12. Februar 1975 wird Tochter Kati geboren. Die Bewährungs­zeit geht für Dieter wie im Flug vorbei. Seine Frau bringt am 23. April 1977 die zweite Tochter Anja zur Welt.

Im Sommer 1978 erreicht Dieter ein Brief: Die Nationale Volks­armee beruft ihn zum Reservedienst ein. Bis zur Vollendung des 50. Lebensjahres gehört ein gedienter oder ungedienter Wehrpflichtiger zur Reserve der NVA und kann dementsprechend zu militärischen Übungen eingezogen werden.

Dieter ist nun 25 Jahre alt und zweifacher Familienvater, er trägt Verantwortung.

»Ich hatte nun schon ein paar Jahre was gelernt. Jetzt war ich gewappnet und dachte, das passiert mir nicht noch mal mit euch.«

Er wird erneut in der Artillerie eingesetzt. Dieter fügt sich jeder Anweisung, er will sich nichts zuschulden kommen lassen, auch wenn es ihm nach wie vor unangenehm ist, die sowjetischen 130-mm-Kanonen zu bedienen.

Schnell merkt er, dass ein Reservist deutlich bevorzugt gegenüber den Soldaten behandelt wird, die ihren Grundwehrdienst ableisten. So wird Dieter einmal sogar von Schießübungen auf dem Feld weggeholt, als ihn seine Familie unangekündigt besucht.

Nachdem die Ausbildungseinheiten absolviert sind, werden die letzten Wochen des dreimonatigen Reservedienstes langatmig. Um dem lästigen Waffenputzen zu entkommen, meldet sich Dieter freiwillig für die Gestaltung der Treppenhäuser der frisch renovierten Kaserne. Die Kommandeure sind von seinen Wand­tafeln so begeistert, dass Dieter für die gesamte Abteilung Werbetafeln kreieren soll.

»Ich hatte einen Nerv getroffen.«

Die restlichen acht Wochen verbringt Dieter nur noch mit den Dekorationsarbeiten und genießt diverse Freiheiten. Er darf am Wochenende zu Hause schlafen und erhält in der letzten Woche seines Reservedienstes Urlaub. Zudem wird er für seine Arbeit ausge zeichnet und verlässt die NVA Ende Oktober 1978 als Gefreiter.

Dieter und Rosemarie bekommen ein drittes Kind, es ist wieder eine Tochter. Um die Familie versorgen zu können, arbeitet er viel, auch nach Feierabend und am Wochenende.

Unvermittelt verstirbt seine Frau an einer falsch dosierten Medikamenten­einnahme. Wieder steht Dieters Familie ihm sofort zur Seite. Seine Eltern ziehen in die Nachbar wohnung, und da seine Mutter sich nun um die Mädchen kümmern kann, fährt Dieter wieder mit dem Vater auf die Baustellen.

Während ihrer Arbeit in der Frohburger Kirche im Spätsommer 1989 entstehen erste Plakate für die Montagsdemonstrationen. Von nun an malen Dieter und seine Kollegen jeden Montag Trans­pa­rente mit Losungen zu allem, was ihnen aktuell wichtig erscheint: Reisefreiheit, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, soziale Gleich­berechtigung. Dann schließen sie sich den Demonstrations­zügen auf dem Leipziger Ring an.

Dass sich unter den Demonstranten Spitzel der Staatssicherheit befinden, weiß Dieter genau, doch es macht ihm keine Angst. In der Masse der Menschen, die für ein gemeinsames Ziel auf die Straße gehen, fühlt er sich geschützt. Dieter zeigt sich als selbstbewusster Demonstrant und ist beeindruckt von der friedlichen Eigendynamik der Protestmärsche. Nach jeder Demonstration hängt er die Plakate an den Hausfassaden seines Wohngebiets auf.

Der 2. Oktober 1989 bleibt ein unvergesslicher Montag für ihn. An diesem Tag erreicht die Teilnehmerzahl etwa 20 000, zum ersten Mal wird »Wir sind das Volk!« gerufen. Beim Eingreifen der Volkspolizei gibt es Verletzte.

Dieters Bruder Andreas ist unter den Demonstranten, er selbst und sein Vater haben es vor deren Absperrung nicht mehr in die Innenstadt geschafft. Sie laden ihr Auto mit brennbaren Flüssig­keiten aus der Malerwerkstatt voll und bewaffnen sich mit Knüppeln. Dann verfolgen sie die Berichterstattung am Autoradio.

»Wir sagten: Wenn die auf unsere Familien­mitglieder schießen, müssen sämtliche öffentlichen Gebäude oder Parteihäuser brennen.«

Nach der Wiedervereinigung erklärt Dieters Vater ihn für ausgelernt. 1993 schließt er den Malerbetrieb. Dieter arbeitet in verschiedenen Firmen weiter und übernimmt schließlich einen Hausmeisterposten, den er bis zur Rente auf verkürzter Basis ausüben will. Er lernt seine spätere zweite Frau kennen, 1996 heiraten sie.

Vor wenigen Jahren hat er eine ungewöhnliche Form der Vergangenheits­bewältigung begonnen: Dieter hat sich eine Sammlung von Panzermodellen bestellt. Er liest alles über den technischen und geschichtlichen Hintergrund des Kriegsgeräts und bringt sich so bei, was er zu Zeiten seines Grundwehrdienstes nicht gewusst und was ihn damals so erschreckt und überfordert hat.

Heute kann er ganz offen über sein Schicksal reden. Er ist sich sicher, dass er ohne seinen starken Familienverband, der ihm geholfen hat, sich wieder in das Leben zu integrieren, auf der Strecke geblieben wäre.

Dieter ist Mitglied der Vereinigung der Opfer des Stalinismus e. V. (VOS). Seine Rehabilitation hat er beantragt.