Petra Dietz

Petra Dietz

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»Mein ständiger Begleiter ist die Angst.«

Um das Schicksal von Petra Dietz zu erzählen, muss mit der Lebens­geschichte ihrer Mutter Inge Christine Fischer begonnen werden.

Inge Fischer wird am 17. Januar 1934 im vogtländischen Rodewisch geboren und wächst in einem strengen Elternhaus auf. Die Eltern betreiben eine Stickerei und haben noch zwei weitere Töchter. Inge ist die Älteste der Geschwister, sie ist intelligent und hegt den Wunsch, Sportlehrerin zu werden.

Im Alter von 16 Jahren läuft sie von Zuhause weg und hält sich eine Weile im geteilten Berlin auf, dessen Zonengrenzen zu jener Zeit noch relativ frei passierbar sind. Dort wird sie aufgegriffen und für anderthalb Jahre in einem Jugendwerkhof unter­gebracht, wo man der rebellischen Jugendlichen eine sozialistische Erziehung auf­zwin­gen will.

Doch als sie volljährig ist, kehrt Inge nach Berlin zurück und kommt in einem Flüchtlings­lager im West­berliner Bezirk Reinickendorf unter. Bei einer Tanz­veranstaltung im Alten Ballsaal macht sie am 6. Oktober 1952 Bekanntschaft mit dem Volkspolizisten Horst Lehmann. Offenbar gehen die beiden ein Verhältnis miteinander ein. Inge übernachtet vier Tage in der Wohnung des jungen Mannes, wobei sie auch dessen Eltern kennenlernt. Was in den darauf­folgenden Tagen passiert und wie die beiden auseinander gehen, ist nicht bekannt.

»Ein relativ kurzes Verhältnis wahrscheinlich. Aber das Ergebnis war ich.«

Am 24. Oktober 1952 verabredet sich Inge mit Horst im Café Wein­meister, um ihm mitzuteilen, dass sie von ihm schwanger ist. Der junge Mann kommt aber nicht allein zum Treff­punkt, sondern in Beglei­tung von Polizei­beamten, die Inge Fischer augen­blicklich fest­nehmen. Horst Lehmann hat nämlich zur Anzeige gebracht, dass Inge beim Verlassen der Wohnung zwei Uhren und diverse Wäsche­stücke seiner Mutter gestohlen habe.

Schon kurz nach der Festnahme schalten sich Beamte des Minis­te­ri­ums für Staats­sicherheit MfS ein und über­führen Inge in die Unter­suchungs­haft nach Hohen­schön­hausen. Der Fest­nahme­bericht formuliert den Grund für diese Verlegung: man habe bereits einen »Ent­wicklungs­vorgang über die Fischer in Arbeit«. Von einem Dieb­stahl ist im zwei Tage später datierten Haft­befehl keine Rede mehr. In dem Dokument wird Inge Fischer lediglich ihr Aufenthalt im West­berliner Flüchtlings­lager negativ ausgelegt.

 

Haftbefehl vom 26. Oktober 1952 und Festnahmebericht vom 10. November 1952

Aus den BStU-Akten geht hervor, dass Horst Lehmann noch bis zum 16. Oktober 1952 Angehöriger des »Wachbataillon A« ist – ein 1951 gegründetes Stasi-Regiment, welches nur Rekruten aus als politisch besonders zuverlässig geltenden Familien zu einem dreijährigen Wehr­ersatz­dienst einzieht. Das Wach­regiment ist in Berlin-Adlers­hof unter­gebracht und wird 1967 nach Feliks Dzierzynski benannt, der ab 1917 das erste sowjet­russische Staats­sicher­heits­organ, die Tscheka, leitete. Es ist an der Nieder­schlagung des Aufstands vom 17. Juni 1953 beteiligt und sichert den Mauerbau in Berlin 1961.

Fast ein ganzes Jahr verbringt die 18-jährige Inge Fischer nun in der zentralen Unter­suchungs­haft­anstalt des MfS der DDR, die sich in Berlin-Hohen­schön­hausen befindet. Hier werden vor allem politische Gefangene ein­gesperrt. Iso­lations­haft, Schlafentzug durch stundenlange nächtliche Verhöre sowie eine primitive Zellen­aus­stattung mit Holz­pritsche und Kübel sind gängige Methoden der Stasi, um die Gefangenen nach und nach psychisch zu zermürben und ihnen Geständnisse zu erpressen.

»Da muss man ja als Baby irgendwas mitkriegen, wenn die Mutter so was durchmacht.«

Petra kommt am 6. Mai 1953 im Haft­kranken­haus Klein-Meusdorf als Früh­geborenes zur Welt. Ihre Mutter wird wieder zurück ins Gefängnis Hohen­schön­hausen gebracht, bis im September 1953 in Rostock die Gerichts­verhand­lung stattfindet, in der Inge Fischer zu drei Jahren Straf­voll­zug verurteilt wird.

Wegen ihrer gesund­heit­lichen Probleme verbleibt der Säugling zunächst im Haft­krankenhaus. Petra ist mit nur einer Niere zur Welt gekommen und körperlich unter­entwickelt. Erst einen Monat nach der Entbindung, am 10. Juni 1953, meldet man das Kind im Standesamt Treuen. Eine Geburts­urkunde wird allerdings nicht ausgestellt. Im September 1953 wird Petra in die Obhut des Kinder­heims Rodewisch gegeben.

Inge Fischer sitzt ihre Haftstrafe in Bützow-Dreibergen ab und wird am 04. November 1955 entlassen, steht aber weiterhin unter strenger Beobachtung des MfS. Obwohl sie ihre Strafe voll ver­büßt hat, darf Inge ihre Tochter Petra nicht zu sich holen. Sie geht zurück ins Vogtland, wo sie mit der Gerüchte­küche des Ortes kon­frontiert wird, die ihre Haft­vergangen­heit abwertend be­trach­tet.

Bald darauf wird Inge Fischer erneut schwanger, der Vater ist ein ver­heirateter Mann. Kurzer­hand leiht sie sich ein Fahrrad und schafft es damit erneut nach Berlin, meldet sich im Flüchtlings­lager Marienfelde und siedelt schließlich in die Bundes­republik über. Petras Halbbruder Uwe wird 1956 geboren. Inge lernt Ingo Rosseck kennen und heiratet ihn ein Jahr später.

Inge, die nun den Nach­namen Rosseck trägt, ist schon seit ihrer ersten Schwanger­schaft mit Petra gesund­heit­lich ange­schlagen. Vermutlich in Erwartung ihres bevor­stehenden Todes kehrt sie 1958 noch einmal zurück in ihre vogt­ländische Heimat und stirbt dort.

Nach Inges Tod können nun Petras Großeltern die Vor­mund­schaft für das Mädchen übernehmen und holen Petra am 11. Juli 1959 zu sich nach Schreiersgrün. Zuerst fühlt sich die Sechs­jährige erleich­tert, denn im Kinderheim Rodewisch hat sie sich alles andere als wohl gefühlt. Auch wenn es nur wenige ver­schwommene Er­inne­run­gen an die Zeit gibt, weiß Petra noch, dass sie ein zutiefst ver­ängstigtes Kind war.

»Vermutlich hab ich alles ausgeblendet. Alles, was mit Heim zu tun hat, ist bei mir wie eine Leere.«

Doch eine unbe­schwerte Kindheit bleibt ihr auch jetzt verwehrt, denn als Kind einer politisch Inhaf­tierten ist sie vorver­urteilt und bekommt die Zurück­weisung der Gesell­schaft überall zu spüren. Das Mädchen bemüht sich fortan, bloß nirgendwo anzuecken. Sie lernt fleißig für die Schule, verhält sich der Familie gegenüber stets brav und hilfsbereit, putzt das Haus und arbeitet in der Stickerei mit. Die Großeltern erziehen sie kirchlich und mit strenger Hand.

Petra träumt davon, Kinder­gärtnerin zu werden. Ihre Bewerbung wird jedoch abgelehnt und deshalb absolviert sie nach der 10. Klasse zunächst eine Ausbildung in der Stickerei in Plauen. Aber ihr eigent­licher Berufs­wunsch ist zu stark ausgeprägt, um ihn auf­zu­ge­ben, und so verfolgt Petra zielstrebig ihren Weg. Schließlich studiert sie am Institut für Lehrer­bildung in Auerbach den Beruf der Heimerzieherin. Als sie eine Arbeits­stelle im Hort bekommt, ist Petra glücklich.

»Die Lehre aus Heim und keine Mutti und einem unbekannten Vater … Das ist schon schwer, und vielleicht nachvollziehbar, dass ich dann mit Kindern arbeiten wollte.«

Obwohl es ihr deutlich nahegelegt wird, tritt Petra nicht aus der Kirche aus. Auch in der Erziehung der Hortkinder verfolgt sie ihre eigenen Wert­maß­stäbe und hält sich nicht an die vorge­gebenen sozia­listischen Richtlinien, darum bangt sie jedes Mal um ihre Stelle, wenn eine Fach­beraterin zu Kontroll­terminen kommt.

Während einer Tätigkeit im Ferienlager 1971 hat sich die damals 19-jährige Petra in den Lagerleiter verliebt. Nun heiratet das Paar und bekommt 1975 eine Tochter. Petra zieht außerdem eins der zwei Kinder mit auf, die ihr Mann mit in die Ehe bringt. Die Partner­schaft verläuft unglücklich, doch ihrer Tochter zuliebe trennt Petra sich nicht.

Als im Herbst 1989 die Ereignisse der Friedlichen Revolution in Gang kommen, wird auch Petra aktiv und läuft bei etlichen Montags­demons­trationen in Leipzig und Plauen mit. Dann beginnt sie, sich mit ihrer Kindheit zu beschäftigen. Sie sucht eine ehemalige Heim­erzieherin auf, um mehr über die vergessene Zeit im Kinderheim Rodewisch zu erfahren. Doch die Frau möchte sich keinen Fragen stellen und schlägt ihr die Tür vor der Nase zu.

In den Stasi-Akten von Inge Rosseck sieht Petra zum ersten Mal ein Foto ihrer Mutter und bricht zusammen, überwältigt von ihren Gefühlen. Nach etlichen Behörden­gängen erhält sie am 14. Oktober 1991 eine Geburts­urkunde – nach 38 Jahren.

Foto von Inge Fischer aus ihrer Stasi-Akte

1990 liest Petra in der Zeitung, dass es eine Organisation gibt, an die sie sich wenden kann. Auf einer Ver­anstaltung der Vereinigung der Opfer des Stalinismus e. V. (VOS) begegnet sie zum ersten Mal dem damaligen Landes­vorsitzenden Werner Dietz, der sie angesichts seines eigenen Schicksals in NKWD-Gefangen­schaft und der Ein­satz­­bereit­schaft, die er gegenüber anderen Opfern politischer Haft aufbringt, tief beeindruckt. Begeistert von der Hilfe, die ihr von der VOS zuteil wird, beschließt sie, sich auch zu engagieren und tritt in den Vorstand der Bezirks­gruppe Falkenstein ein.

Während ihrer jahrelangen Zusammenarbeit verlieben sich Werner Dietz und Petra ineinander. Nachdem Werner eine Darm­krebs­erkrankung überstanden hat, gestehen sie sich 1997 ihre Gefühle. Petras Tochter ist mittlerweile volljährig, also entschließen sie sich, gemeinsam ihre Familien und das Vogtland zu verlassen.

Mehrere Jahre lebt das Paar in Würzburg. Petra blüht auf. Werner ist für sie gleichzeitig Vater, Mann, Freund und Vorbild, und gibt ihr die Unter­stützung und eine Unbe­schwert­heit, die sie bislang ver­misst hat. Aufgrund ihrer gesund­heit­lichen Probleme wird Petras Haft­schaden auf 80 Prozent hochgestuft und ihrer Opfer­rente angerechnet. Sie bringt nun auch den Mut auf, sich in psycho­lo­gische Behandlung zu begeben, um ihre Ängste behandeln zu lassen.

»Meine frühkindlichen Erfahrungen prägten mich: Scheu vor Menschen, vor allem vor Ärzten. Mein ständiger Begleiter in meinem gesamten Leben ist die Angst.«

Petra nimmt Kontakt zu Ingo Rosseck auf, dem Mann, der mit Inge bis zu deren Tod verheiratet war. Von ihm erfährt sie viele liebe­volle Details über die ihr unbekannte Mutter. Auch zu ihrem leiblichen Vater stellt sie Recherchen an, gibt dies aber nach kurzer Zeit aus Angst vor weiteren Ent­täuschungen auf. Petra beantragt die politische Reha­bi­li­tierung ihrer Mutter bei den bundes­deut­schen Justiz­behörden, und der positive Bescheid stellt eine große seelische Erleichterung dar.

»Mein ganzes Leben kämpfte ich darum, das, was sie ihr angetan haben, gut zu machen. Und das tat ich. Das war für mich das Allerwichtigste.«

1999 kehren Petra und Werner Dietz zurück ins Vogtland, um Petras Tochter und deren drei Kinder zu unterstützen. Mehrere Jahre wohnen sie gemeinsam in einem Haus in Pfaffengrün, dann zieht das Paar, das 2004 geheiratet hat, in eine Wohnung nach Treuen. Sie nehmen die befreundete Wally Tröger bei sich auf, die ein ähnliches Haft­schicksal wie Petras Mutter hat. Petra pflegt die alte Dame bis zu deren Tod.

Dann erleidet Werner einen Schlaganfall und benötigt ebenfalls Hilfe. In einer neuen Wohnung in Auerbach übernimmt Petra Werners Pflege. Am 15. Januar 2014 stirbt Werner Dietz.

Petra verliert zunächst ihren ganzen Halt. Erst nach und nach und mit der Hilfe einer guten Freundin schafft sie es, wieder Lebensmut zu sammeln. Sie lässt die Wohnung und sämtliches Mobiliar hinter sich und zieht nach Plauen.

In der VOS-Bezirksgruppe Reichenbach erfüllt sie Werners Amt seit dessen Tod, doch auch Petras Gesund­heits­zustand verschlechtert sich zusehends. Weil sie körperlich nicht mehr in der Lage ist, vollen Einsatz zu zeigen, beschließt sie schweren Herzens, den Vereins­vorsitz abzugeben. Am 25. November 2016 gibt Petra Dietz ihren Rücktritt bekannt und verab­schiedet sich nach mehr als 25 Jahren Engagement emotional von ihren Vereins­kameraden.

»Meine Geschichte kann ich nicht anders erzählen. Ich bin als Baby anerkannter politischer Häftling. Ich musste einfach kämpfen, überleben, und ich schaffte es.«

»Mein ständiger Begleiter ist die Angst.«

Um das Schicksal von Petra Dietz zu erzählen, muss mit der Lebens­geschichte ihrer Mutter Inge Christine Fischer begonnen werden.

Inge Fischer wird am 17. Januar 1934 im vogtländischen Rodewisch geboren und wächst in einem strengen Elternhaus auf. Die Eltern betreiben eine Stickerei und haben noch zwei weitere Töchter. Inge ist die Älteste der Geschwister, sie ist intelligent und hegt den Wunsch, Sportlehrerin zu werden.

Im Alter von 16 Jahren läuft sie von Zuhause weg und hält sich eine Weile im geteilten Berlin auf, dessen Zonengrenzen zu jener Zeit noch relativ frei passierbar sind. Dort wird sie aufgegriffen und für anderthalb Jahre in einem Jugendwerkhof unter­gebracht, wo man der rebellischen Jugendlichen eine sozialistische Erziehung auf­zwin­gen will.

Doch als sie volljährig ist, kehrt Inge nach Berlin zurück und kommt in einem Flüchtlings­lager im West­berliner Bezirk Reinickendorf unter. Bei einer Tanz­veranstaltung im Alten Ballsaal macht sie am 6. Oktober 1952 Bekanntschaft mit dem Volkspolizisten Horst Lehmann. Offenbar gehen die beiden ein Verhältnis miteinander ein. Inge übernachtet vier Tage in der Wohnung des jungen Mannes, wobei sie auch dessen Eltern kennenlernt. Was in den darauf­folgenden Tagen passiert und wie die beiden auseinander gehen, ist nicht bekannt.

»Ein relativ kurzes Verhältnis wahrscheinlich. Aber das Ergebnis war ich.«

Am 24. Oktober 1952 verabredet sich Inge mit Horst im Café Wein­meister, um ihm mitzuteilen, dass sie von ihm schwanger ist. Der junge Mann kommt aber nicht allein zum Treff­punkt, sondern in Beglei­tung von Polizei­beamten, die Inge Fischer augen­blicklich fest­nehmen. Horst Lehmann hat nämlich zur Anzeige gebracht, dass Inge beim Verlassen der Wohnung zwei Uhren und diverse Wäsche­stücke seiner Mutter gestohlen habe.

Schon kurz nach der Festnahme schalten sich Beamte des Minis­te­ri­ums für Staats­sicherheit MfS ein und über­führen Inge in die Unter­suchungs­haft nach Hohen­schön­hausen. Der Fest­nahme­bericht formuliert den Grund für diese Verlegung: man habe bereits einen »Ent­wicklungs­vorgang über die Fischer in Arbeit«. Von einem Dieb­stahl ist im zwei Tage später datierten Haft­befehl keine Rede mehr. In dem Dokument wird Inge Fischer lediglich ihr Aufenthalt im West­berliner Flüchtlings­lager negativ ausgelegt.

 

Haftbefehl vom 26. Oktober 1952 und Festnahmebericht vom 10. November 1952

Aus den BStU-Akten geht hervor, dass Horst Lehmann noch bis zum 16. Oktober 1952 Angehöriger des »Wachbataillon A« ist – ein 1951 gegründetes Stasi-Regiment, welches nur Rekruten aus als politisch besonders zuverlässig geltenden Familien zu einem dreijährigen Wehr­ersatz­dienst einzieht. Das Wach­regiment ist in Berlin-Adlers­hof unter­gebracht und wird 1967 nach Feliks Dzierzynski benannt, der ab 1917 das erste sowjet­russische Staats­sicher­heits­organ, die Tscheka, leitete. Es ist an der Nieder­schlagung des Aufstands vom 17. Juni 1953 beteiligt und sichert den Mauerbau in Berlin 1961.

Fast ein ganzes Jahr verbringt die 18-jährige Inge Fischer nun in der zentralen Unter­suchungs­haft­anstalt des MfS der DDR, die sich in Berlin-Hohen­schön­hausen befindet. Hier werden vor allem politische Gefangene ein­gesperrt. Iso­lations­haft, Schlafentzug durch stundenlange nächtliche Verhöre sowie eine primitive Zellen­aus­stattung mit Holz­pritsche und Kübel sind gängige Methoden der Stasi, um die Gefangenen nach und nach psychisch zu zermürben und ihnen Geständnisse zu erpressen.

»Da muss man ja als Baby irgendwas mitkriegen, wenn die Mutter so was durchmacht.«

Petra kommt am 6. Mai 1953 im Haft­kranken­haus Klein-Meusdorf als Früh­geborenes zur Welt. Ihre Mutter wird wieder zurück ins Gefängnis Hohen­schön­hausen gebracht, bis im September 1953 in Rostock die Gerichts­verhand­lung stattfindet, in der Inge Fischer zu drei Jahren Straf­voll­zug verurteilt wird.

Wegen ihrer gesund­heit­lichen Probleme verbleibt der Säugling zunächst im Haft­krankenhaus. Petra ist mit nur einer Niere zur Welt gekommen und körperlich unter­entwickelt. Erst einen Monat nach der Entbindung, am 10. Juni 1953, meldet man das Kind im Standesamt Treuen. Eine Geburts­urkunde wird allerdings nicht ausgestellt. Im September 1953 wird Petra in die Obhut des Kinder­heims Rodewisch gegeben.

Inge Fischer sitzt ihre Haftstrafe in Bützow-Dreibergen ab und wird am 04. November 1955 entlassen, steht aber weiterhin unter strenger Beobachtung des MfS. Obwohl sie ihre Strafe voll ver­büßt hat, darf Inge ihre Tochter Petra nicht zu sich holen. Sie geht zurück ins Vogtland, wo sie mit der Gerüchte­küche des Ortes kon­frontiert wird, die ihre Haft­vergangen­heit abwertend be­trach­tet.

Bald darauf wird Inge Fischer erneut schwanger, der Vater ist ein ver­heirateter Mann. Kurzer­hand leiht sie sich ein Fahrrad und schafft es damit erneut nach Berlin, meldet sich im Flüchtlings­lager Marienfelde und siedelt schließlich in die Bundes­republik über. Petras Halbbruder Uwe wird 1956 geboren. Inge lernt Ingo Rosseck kennen und heiratet ihn ein Jahr später.

Inge, die nun den Nach­namen Rosseck trägt, ist schon seit ihrer ersten Schwanger­schaft mit Petra gesund­heit­lich ange­schlagen. Vermutlich in Erwartung ihres bevor­stehenden Todes kehrt sie 1958 noch einmal zurück in ihre vogt­ländische Heimat und stirbt dort.

Nach Inges Tod können nun Petras Großeltern die Vor­mund­schaft für das Mädchen übernehmen und holen Petra am 11. Juli 1959 zu sich nach Schreiersgrün. Zuerst fühlt sich die Sechs­jährige erleich­tert, denn im Kinderheim Rodewisch hat sie sich alles andere als wohl gefühlt. Auch wenn es nur wenige ver­schwommene Er­inne­run­gen an die Zeit gibt, weiß Petra noch, dass sie ein zutiefst ver­ängstigtes Kind war.

»Vermutlich hab ich alles ausgeblendet. Alles, was mit Heim zu tun hat, ist bei mir wie eine Leere.«

Doch eine unbe­schwerte Kindheit bleibt ihr auch jetzt verwehrt, denn als Kind einer politisch Inhaf­tierten ist sie vorver­urteilt und bekommt die Zurück­weisung der Gesell­schaft überall zu spüren. Das Mädchen bemüht sich fortan, bloß nirgendwo anzuecken. Sie lernt fleißig für die Schule, verhält sich der Familie gegenüber stets brav und hilfsbereit, putzt das Haus und arbeitet in der Stickerei mit. Die Großeltern erziehen sie kirchlich und mit strenger Hand.

Petra träumt davon, Kinder­gärtnerin zu werden. Ihre Bewerbung wird jedoch abgelehnt und deshalb absolviert sie nach der 10. Klasse zunächst eine Ausbildung in der Stickerei in Plauen. Aber ihr eigent­licher Berufs­wunsch ist zu stark ausgeprägt, um ihn auf­zu­ge­ben, und so verfolgt Petra zielstrebig ihren Weg. Schließlich studiert sie am Institut für Lehrer­bildung in Auerbach den Beruf der Heimerzieherin. Als sie eine Arbeits­stelle im Hort bekommt, ist Petra glücklich.

»Die Lehre aus Heim und keine Mutti und einem unbekannten Vater … Das ist schon schwer, und vielleicht nachvollziehbar, dass ich dann mit Kindern arbeiten wollte.«

Obwohl es ihr deutlich nahegelegt wird, tritt Petra nicht aus der Kirche aus. Auch in der Erziehung der Hortkinder verfolgt sie ihre eigenen Wert­maß­stäbe und hält sich nicht an die vorge­gebenen sozia­listischen Richtlinien, darum bangt sie jedes Mal um ihre Stelle, wenn eine Fach­beraterin zu Kontroll­terminen kommt.

Während einer Tätigkeit im Ferienlager 1971 hat sich die damals 19-jährige Petra in den Lagerleiter verliebt. Nun heiratet das Paar und bekommt 1975 eine Tochter. Petra zieht außerdem eins der zwei Kinder mit auf, die ihr Mann mit in die Ehe bringt. Die Partner­schaft verläuft unglücklich, doch ihrer Tochter zuliebe trennt Petra sich nicht.

Als im Herbst 1989 die Ereignisse der Friedlichen Revolution in Gang kommen, wird auch Petra aktiv und läuft bei etlichen Montags­demons­trationen in Leipzig und Plauen mit. Dann beginnt sie, sich mit ihrer Kindheit zu beschäftigen. Sie sucht eine ehemalige Heim­erzieherin auf, um mehr über die vergessene Zeit im Kinderheim Rodewisch zu erfahren. Doch die Frau möchte sich keinen Fragen stellen und schlägt ihr die Tür vor der Nase zu.

In den Stasi-Akten von Inge Rosseck sieht Petra zum ersten Mal ein Foto ihrer Mutter und bricht zusammen, überwältigt von ihren Gefühlen. Nach etlichen Behörden­gängen erhält sie am 14. Oktober 1991 eine Geburts­urkunde – nach 38 Jahren.

Foto von Inge Fischer aus ihrer Stasi-Akte

1990 liest Petra in der Zeitung, dass es eine Organisation gibt, an die sie sich wenden kann. Auf einer Ver­anstaltung der Vereinigung der Opfer des Stalinismus e. V. (VOS) begegnet sie zum ersten Mal dem damaligen Landes­vorsitzenden Werner Dietz, der sie angesichts seines eigenen Schicksals in NKWD-Gefangen­schaft und der Ein­satz­­bereit­schaft, die er gegenüber anderen Opfern politischer Haft aufbringt, tief beeindruckt. Begeistert von der Hilfe, die ihr von der VOS zuteil wird, beschließt sie, sich auch zu engagieren und tritt in den Vorstand der Bezirks­gruppe Falkenstein ein.

Während ihrer jahrelangen Zusammenarbeit verlieben sich Werner Dietz und Petra ineinander. Nachdem Werner eine Darm­krebs­erkrankung überstanden hat, gestehen sie sich 1997 ihre Gefühle. Petras Tochter ist mittlerweile volljährig, also entschließen sie sich, gemeinsam ihre Familien und das Vogtland zu verlassen.

Mehrere Jahre lebt das Paar in Würzburg. Petra blüht auf. Werner ist für sie gleichzeitig Vater, Mann, Freund und Vorbild, und gibt ihr die Unter­stützung und eine Unbe­schwert­heit, die sie bislang ver­misst hat. Aufgrund ihrer gesund­heit­lichen Probleme wird Petras Haft­schaden auf 80 Prozent hochgestuft und ihrer Opfer­rente angerechnet. Sie bringt nun auch den Mut auf, sich in psycho­lo­gische Behandlung zu begeben, um ihre Ängste behandeln zu lassen.

»Meine frühkindlichen Erfahrungen prägten mich: Scheu vor Menschen, vor allem vor Ärzten. Mein ständiger Begleiter in meinem gesamten Leben ist die Angst.«

Petra nimmt Kontakt zu Ingo Rosseck auf, dem Mann, der mit Inge bis zu deren Tod verheiratet war. Von ihm erfährt sie viele liebe­volle Details über die ihr unbekannte Mutter. Auch zu ihrem leiblichen Vater stellt sie Recherchen an, gibt dies aber nach kurzer Zeit aus Angst vor weiteren Ent­täuschungen auf. Petra beantragt die politische Reha­bi­li­tierung ihrer Mutter bei den bundes­deut­schen Justiz­behörden, und der positive Bescheid stellt eine große seelische Erleichterung dar.

»Mein ganzes Leben kämpfte ich darum, das, was sie ihr angetan haben, gut zu machen. Und das tat ich. Das war für mich das Allerwichtigste.«

1999 kehren Petra und Werner Dietz zurück ins Vogtland, um Petras Tochter und deren drei Kinder zu unterstützen. Mehrere Jahre wohnen sie gemeinsam in einem Haus in Pfaffengrün, dann zieht das Paar, das 2004 geheiratet hat, in eine Wohnung nach Treuen. Sie nehmen die befreundete Wally Tröger bei sich auf, die ein ähnliches Haft­schicksal wie Petras Mutter hat. Petra pflegt die alte Dame bis zu deren Tod.

Dann erleidet Werner einen Schlaganfall und benötigt ebenfalls Hilfe. In einer neuen Wohnung in Auerbach übernimmt Petra Werners Pflege. Am 15. Januar 2014 stirbt Werner Dietz.

Petra verliert zunächst ihren ganzen Halt. Erst nach und nach und mit der Hilfe einer guten Freundin schafft sie es, wieder Lebensmut zu sammeln. Sie lässt die Wohnung und sämtliches Mobiliar hinter sich und zieht nach Plauen.

In der VOS-Bezirksgruppe Reichenbach erfüllt sie Werners Amt seit dessen Tod, doch auch Petras Gesund­heits­zustand verschlechtert sich zusehends. Weil sie körperlich nicht mehr in der Lage ist, vollen Einsatz zu zeigen, beschließt sie schweren Herzens, den Vereins­vorsitz abzugeben. Am 25. November 2016 gibt Petra Dietz ihren Rücktritt bekannt und verab­schiedet sich nach mehr als 25 Jahren Engagement emotional von ihren Vereins­kameraden.

»Meine Geschichte kann ich nicht anders erzählen. Ich bin als Baby anerkannter politischer Häftling. Ich musste einfach kämpfen, überleben, und ich schaffte es.«