Karl-Heinz Carolus

Karl-Heinz Carolus

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»Wir hatten keinem Menschen was getan.«

Am 9. Dezember 1929 wird Karl-Heinz Carolus in der sächsischen Bergstadt Freiberg geboren, kurz darauf ziehen seine Eltern mit ihm und seiner älteren Schwester ins nahegelegene Halsbrücke. Der kleine Ort ist bekannt durch den Bergbau und seine Industrie zur Verhüttung der einheimischen Erze. Karl-Heinz besucht die Volksschule in Halsbrücke und ist ein aufgewecktes Kind.

Doch mit dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 beginnt der Zweite Weltkrieg und das Leben der Familie Carolus ändert sich grundlegend. Sein Vater Johannes Carolus muss als Soldat der deutschen Wehrmacht an die Front und Karl-Heinz, gerade zehnjährig, wird Teil des Deutschen Jungvolks der Hitlerjugend (HJ). Mit 14 Jahren wird er automatisch in die Hitlerjugend übernommen.

Nach dem Abschluss der 8. Klasse beginnt Karl-Heinz eine Bäckerlehre in Freiberg, muss diese aber nach knapp einem Jahr unterbrechen, da er im Frühjahr 1945 in ein Wehrertüchtigungslager berufen wird. Dort bildet man die Hitlerjungen allerdings nicht mehr aus. Schon kurze Zeit später, am 8. Mai 1945, finden mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht der Zweite Weltkrieg und die zwölfjährige NS-Herrschaft ihr Ende.

Karl-Heinz und seine Kameraden kehren nach Hause zurück und treffen unterwegs auf Soldaten der Roten Armee, doch niemand kontrolliert sie oder hält sie auf. Johannes Carolus bleibt nach Kriegsende zunächst verschollen.

Die sowjetische Militäradministration SMAD übernimmt die Kontrolle über die ihr zugeteilte Besatzungszone SBZ und Militärangehörige beziehen ihre Unterkünfte und Kommandanturen. Karl-Heinz führt seine Ausbildung in der Bäckerei fort. Ein zaghafter Nachkriegsalltag scheint einzukehren.

Doch im Herbst wird deutlich, dass immer wieder Jugendliche aus der Umgebung verhaftet werden oder spurlos verschwinden. Am Nachmittag des 6. November 1945 suchen Männer die Backstube auf und erkundigen sich nach Karl-Heinz, der jedoch bereits im Feierabend ist. Als der 15-Jährige gegen 19 Uhr zur Nachtschicht antritt, tauchen die Beamten erneut auf. Der deutsche Polizist und ein sowjetischer Militärangehöriger nehmen ihn zur Klärung eines Sachverhalts mit.

Über Nacht wird Karl-Heinz in eine Zelle gesperrt, die sich im Gefängnis hinter dem Freiberger Amtsgericht befindet. Als er am nächsten Tag zu einem Häftlings-Rundgang nach draußen geführt wird, trifft er etliche Jugendliche, die er kennt.

Dann beginnen wiederholte Vernehmungen durch einen russischen Offizier des NKWD, der Karl-Heinz die Mitgliedschaft in der nationalsozialistischen Partisanenorganisation »Werwolf« vorwirft. Durch schikanierende verbale Verhörtechniken und unter körperlicher Gewaltanwendung versucht man, ein Geständnis zu erpressen.

»Ich war aber nicht beim Werwolf!«

Acht Tage später, in den frühen Morgenstunden des 14. November 1945, verlädt man 14 Jugendliche auf einen Lkw. Es ist kalt, neblig und regnerisch, und die Jungen sitzen ungeschützt auf der blanken Ladefläche des Fahrzeugs.

Dann erreichen sie das Ziel des Transports: das sowjetische Speziallager Nr. 1 Mühlberg an der Elbe. Die Barackenstadt erwartet Karl-Heinz mit einem Bild des Elends. Rund 14.000 Männer und Frauen im Alter von 12 bis 82 Jahren sind hier eingepfercht. Je 250 Mann teilen sich eine der heruntergekommenen Baracken, schlafen dicht an dicht auf zweistöckigen Holzpritschen.

Die Internierten werden nur unzureichend und mit minderwertiger Nahrung versorgt, die vor allem aus kleinen Mengen Brot und dünner Suppe besteht. Die hygienischen Zustände in dem ständig überfüllten Lager sind würdelos. Wechselsachen gibt es für niemanden, geschweige denn Bettdecken, Zahnbürsten oder Toilettenpapier.

Karl-Heinz hat Glück und übersteht die Zeit im Speziallager Nr. 1 gesundheitlich stabil. Viele der Internierten erkranken jedoch schwer und können von den Lagerärzten nur mangelhaft bis gar nicht versorgt werden, da kaum medizinische Ausrüstung vorhanden ist. Über 6.700 Mann überleben die Gefangenschaft im Lager Mühlberg nicht, und so ist der Beerdigungstrupp ununterbrochen damit beschäftigt, die Toten einzusammeln und zu begraben. Angehörige werden weder über den Aufenthalt ihrer Verwandten informiert, noch erfolgt eine Benachrichtigung, wenn es zum Todesfall kommt.

Erneut finden Verhöre statt. Als Karl-Heinz zu seiner Vernehmung gerufen wird, sieht er sich demselben russischen Major gegenüber, der schon im Amtsgericht Freiberg ein Geständnis von ihm erzwingen wollte.

Im Frühjahr 1947 werden die Sicherheitsmaßnahmen auf dem Lagergelände deutlich erhöht. Kurz darauf findet eine Musterung der Gefangenen statt. Insgesamt 821 Mann, die gesündesten und kräftigsten der Internierten, werden aussortiert. Man stattet sie mit Winterkleidung aus und schickt sie am 8. Februar 1947 auf den sogenannten Pelzmützentransport: eine 33-tägige Zugfahrt über Warschau, Brest und Moskau bis nach Anschero-Sudschensk, in die sibirische Bergbauregion des Verwaltungsbezirks Kemerowo.

Der mittlerweile 17-jährige Karl-Heinz ist unter den Männern, die auf Befehl Stalins fortan für die Sowjetunion Zwangsarbeit leisten müssen. Im ersten Monat herrscht noch eine Quarantänezeit, danach beginnt die Aufteilung der Gefangenen zur Arbeit auf Baustellen und im Steinkohlebergbau unter Tage. Karl-Heinz meldet sich freiwillig für die Arbeit im Kohleschacht.

Zwar müssen die Zwangsarbeiter beim Steinkohleabbau eine Norm erfüllen, doch sie verdienen nun auch Geld. Als Vortriebshauer des Abschnitts erhält Karl-Heinz immerhin 2.000 Rubel. Dass die Summe bar ausgezahlt wird, macht ihm allerdings Sorgen, denn er weiß, dass die Wachhabenden des Lagers ihre Gefangenen durchsuchen. Hier hilft ihm sein russischer Brigadier weiter und organisiert, dass eine Schachtmitarbeiterin, die neben dem Lager wohnt, das Geld für ihn aufbewahrt.

»Die Motoristin hatte ein Auge auf mich geworfen. Aber wir durften nicht! Wenn das rausgekommen wäre… Die hätten sie sofort nach Workuta gebracht.«

Von dem Gehalt eines jeden Zwangsarbeiters gehen 450 Rubel für die Unterkunft im Lager und 200 Rubel als Reparationskosten ab, über das restliche Geld können sie frei verfügen. Karl-Heinz und seine Kameraden kaufen sich Brot, Graupen und Butter, um ihre Verpflegung zu bereichern, und leiden zum ersten Mal seit zwei Jahren keinen Hunger mehr.

Das Heimweh und das Bedürfnis nach Normalität sind unter den Internierten groß, deshalb schaffen sie eine gewisse Geselligkeit, indem sie sich in ihrer freien Zeit zusammensetzen, gemeinsam essen und dabei Lieder und Gedichte verfassen.

Der Umgang mit den russischen Wachhabenden und den anderen Schachtarbeitern verändert sich im Laufe der Jahre in Gefangenschaft zum Positiven. Nur das Verhältnis zu den Wolgadeutschen empfindet Karl-Heinz als angespannt.

Auch auf sowjetischem Terrain finden noch Verhöre statt, doch deren Methoden sind nicht mehr so drastisch wie im Amtsgericht Freiberg und im Speziallager Mühlberg. Trotzdem ist Karl-Heinz überrascht, als er 1948 zu einer Vernehmung gerufen wird. Zum dritten Mal sitzt ihm derselbe Mann gegenüber – nur ist dieser mittlerweile vom Major zum Oberstleutnant aufgestiegen.

1949 führt die Männer ein weiterer Transport in Richtung Süden, nach Stalinsk – dem heutigen Nowokusnezk. Auf der großen Baustelle eines Wasserkraftwerks werden die Internierten für verschiedene Tätigkeiten eingesetzt. Sie arbeiten hart und unter widrigen Bedingungen. Wenn der Boden durch die anhaltenden Minusgrade gefroren ist, wird er anstelle einer Hacke eben mit Hammer und Schlegel bearbeitet.

Ende April 1950 wird unvermittelt von Entlassung gesprochen. Die Internierten sind skeptisch, doch ihre Lagerkommandanten versichern ihnen, es gehe heimwärts. In der Tat fährt sie der Zug tausende Kilometer in Richtung Westen, passiert Moskau und Minsk und hält schließlich auf dem Bahnhof von Brest-Litowsk, wo die osteuropäische Spurweite von 1520 Millimeter und die mitteleuropäische Regelspurweite von 1435 Millimeter aufeinandertreffen und den Wechsel des Zuges notwendig machen.

Hoffnungsvoll treten die Männer vor dem zuständigen Offizier zum Abzählen an und werden in alphabetischer Reihenfolge namentlich aufgerufen. Da aber nicht genügend Waggons mit Normalspurweite zur Verfügung stehen, darf nur eine Hälfte nach Hause fahren, die andere muss auf unbestimmte Zeit in einem Lager in Brest bleiben. Wieder hat Karl-Heinz Pech.

»Was sollte ich machen? Der Russe schreibt mich mit ›K‹ und nicht mit ›C‹.«

Karl-Heinz wird einem Arbeitskommando auf dem Bahnhof zugeteilt, dessen Aufgabe es ist, Waren zwischen den Güterzügen umzuladen. Er ist mittlerweile 20 Jahre alt und befindet sich seit fast fünf Jahren in sowjetischer Gefangenschaft. Bislang war es ihm nicht möglich, seiner Familie ein Lebenszeichen zu senden oder in Erfahrung zu bringen, ob der Vater im Krieg gefallen oder mittlerweile heimgekehrt ist. Darum nutzen er und seine Kameraden ihre Tätigkeit sofort dazu aus, Briefe in die Waggons zu schmuggeln, die in Richtung Deutschland fahren.

Wie Karl-Heinz später erfahren wird, erreichen wirklich ein paar der Briefe ihr Ziel – offensichtlich weitergeleitet von wohlwollenden Bürgern. Allerdings werden die Nachrichten auch von den Wachhabenden entdeckt, und so findet der heimliche Briefverkehr ein jähes Ende. Die Internierten werden auf Lkw gesetzt und zurück in östliche Richtung gefahren.

Gemeinsam mit etwa 400 Mann kommt Karl-Heinz in einem Kriegsgefangenenlager in Minsk unter. Selbstverständlich werden sie auch hier wieder für Arbeiten auf Baustellen eingesetzt, unter anderem für die Errichtung eines großen Automobilwerks.

Weil von einer Heimfahrt nun gar keine Rede mehr ist, begehren die Gefangenen ein erstes Mal auf und treten Ende des Jahres 1950 in den Hungerstreik. Als Konsequenz werden sie erneut verladen und diesmal bei 40 Grad Hitze auf hermetisch verschlossenen Güterwaggons befördert. Die Fahrt führt sie nach Konstantinowka im Verwaltungsbezirk Donezk (früher Stalino).

»Wieder auf Baustellen. Was machten wir? Hungerstreik. Verluden sie uns wieder in die geschlossenen Waggons, ging es zurück nach Kiew.«

Es ist mittlerweile Winter zu Anfang des Jahres 1951, als etwa 100 Mann auf einer Baustelle in der Nähe von Kiew eingesetzt werden. Mehr als ein Jahr verbringen sie in dem abgelegenen Waldlager Darniza, wo ein Sanatorium aufgebaut werden soll.

Nach den langen Jahren der strikten Unterjochung wird der Alltag der Internierten mit kleinen Zugeständnissen bereichert. So ist es den Gefangenen gestattet, einmal im Monat einer Filmvorführung beizuwohnen. Das Verhältnis zu den sowjetischen Wachposten gestaltet sich weniger angespannt, und auch die Arbeitsverpflichtung verliert für Karl-Heinz im subjektiven Empfinden das streng Zwanghafte.

Auch dürfen die Männer mittlerweile Postkarten nach Hause schreiben. Der Kontakt mit den Angehörigen ist ein psychologisch bedeutsamer Faktor für die Häftlinge, der ihnen hilft, viele Widrigkeiten zu überstehen. Für die Daheimgebliebenen ist die Gefangenschaft ihrer Ehemänner, Söhne und Geschwister mit einer großen seelischen und oft auch materiellen Belastung verbunden. Karl-Heinz versteckt auf den Postkarten jedes Mal eine Botschaft, die verrät, wo er sich gerade befindet.

»Aber nicht offiziell. Da und da einen Buchstaben, und dort wieder einen: ›Grüß bitte meine Tante EW und die Familie KI, wo ich als Kind so gerne gewesen bin.‹«

Eines Samstags im April 1952 brodelt die Gerüchteküche des Lagers, erneut wird von baldiger Entlassung geredet. Karl-Heinz hat eine gute Vorahnung, er wettet sogar mit seinen Freunden darum, dass es dieses Mal wirklich nach Hause geht.

Eine Woche später ruft der Lagerleiter den Befehl aus, auf den alle seit Jahren gewartet haben. Nun muss alles schnell gehen. Karl-Heinz hat bereits seine Habseligkeiten gepackt. Mit nach Hause nehmen dürfen sie einen Koffer voller Zigaretten – eine begehrte Tauschware. Dann warten die Männer im Hauptlager in Kiew noch acht Tage lang auf ihren Transport.

Doch beim Erledigen der Entlassungsformalitäten treten plötzlich Ungereimtheiten auf. Der Oberleutnant, der Karl-Heinz‘ Identität mit seinen Personalakten vergleicht, zögert und lässt ihn mehrfach seinen Namen und das Geburtsdatum wiederholen. Karl-Heinz bekommt es mit der Angst zu tun. Doch es stellt sich heraus, dass sein Vater Johannes Carolus in demselben Lager in Kriegsgefangenschaft und dem Offizier aufgrund einer besonders geschickten Reparatur im Gedächtnis geblieben war. Erleichtert verspricht Karl-Heinz, die Grüße des Oberleutnants auszurichten.

Von Kiew aus geht es schließlich mit dem Zug über Polen bis nach Frankfurt/Oder, danach erreichen die Männer das Quarantänelager Bischofswerda. Es ist ein Mittwoch, der 28. Mai 1952, kurz vor dem Pfingstfest. Niemand weiß, wie lange der Aufenthalt währen soll, bis es endgültig nach Hause geht.

In seiner Ungeduld denkt sich Karl-Heinz einen Plan aus, der die Heimkehr beschleunigen könnte. Er überredet die zwei Kameraden dazu, sich abends gemeinsam aus dem Lager zu schleichen. Tatsächlich gelingt es ihnen. Mit zahlreichen Zigarettenschachteln suchen sie eine nahegelegene Poststelle auf und bitten deren Mitarbeiterin um ein Tauschgeschäft. Mit dem Wortlaut »Leute sind aus der Gefangenschaft nach Hause und wollen Pfingsten zuhause sein« senden sie ein Telegramm an den Präsidenten der Deutschen Demokratischen Republik DDR. Dann kehren sie zurück ins Quarantänelager.

Zwei Tage später herrscht große Aufregung. Alle Lagerinsassen müssen auf dem Platz antreten. Empört verlangt der Lagerkommandant von ihnen zu erfahren, wer das Telegramm aufgegeben habe. Karl-Heinz und seine zwei Kameraden stehen getrennt in der Menge und geben sich nicht zu erkennen. Der Grund für die Aufruhr ist mehr als erfreulich: das Antwort-Telegramm Wilhelm Piecks ordnet die sofortige Entlassung aller DDR-Bürger an. Hektisch werden die Formalitäten geregelt.

Dokument: Über seinen Aufenthalt im Quarantänelager wird Karl-Heinz eine Bescheinigung ausgehändigt, Mai 1952

Über seinen Aufenthalt im Quarantänelager wird Karl-Heinz eine Bescheinigung ausgehändigt, Mai 1952

Am frühen Morgen des 31. Mai 1952 sitzen Karl-Heinz und fünf Kameraden aus Freiberg in einem Zug nach Dresden. Ein Anschlusszug bringt sie nach Freiberg, und die Männer sind so aufgeregt, dass sie nicht bemerken, fälschlicherweise in einen Schnellzug gestiegen zu sein. Doch die drei Mark Strafe, die sie deshalb bei der Ankunft auf dem Freiberger Bahnhof zahlen müssen, nehmen sie lachend in Kauf.

Karl-Heinz geht die verbleibenden Kilometer in seinen Heimatort Halsbrücke zu Fuß. Unterwegs trifft er auf alte Bekannte, doch sie erkennen ihn nicht wieder, denn in den vergangenen sieben Jahren ist aus dem Jungen ein Mann geworden, den Gefangenschaft und Zwangsarbeit gezeichnet haben. Gegen elf Uhr erreicht Karl-Heinz sein Elternhaus und kann seine Mutter, seine Schwester und seinen Vater wieder in die Arme schließen.

Viel gibt es nun zu besprechen. Johannes Carolus bestätigt seine Kriegsgefangenschaft in Kiew und die Bekanntschaft mit dem sowjetischen Offizier. Karl-Heinz‘ Mutter hat alle Briefe aufgehoben und gibt zu, dass sie manches Mal kaum glauben wollte, woher die Karten stammen.

Der Neuanfang in der Heimat gestaltet sich emotional turbulent. Seine äußere Erscheinung macht Karl-Heinz als Heimkehrer deutlich erkennbar, er muss sich zunächst neu einkleiden. Trotzdem ist es belastend, die ständigen Blicke der Menschen zu ertragen, die sein Auftauchen kritisch beäugen.

Gesundheitlich hat er glücklicherweise keine Probleme davongetragen. Auch der berufliche Wiedereinstieg gestaltet sich unkompliziert, denn obwohl er noch keinen Berufsabschluss hat, übernimmt ihn die Konsumbäckerei in Halsbrücke anstandslos. Bereits zwei Tage nach seiner Rückkehr steht Karl-Heinz wieder in der Backstube.

Problematischer ist jedoch seine Anmeldung auf dem Gemeindeamt, wo ihn der Bürgermeister fragt, aus welchem Grund er damals verhaftet worden sei. Karl-Heinz weiß keine Antwort.

»Da sagte der Bürgermeister zu mir: ›Deinen Vater kriegten wir nicht, da haben wir eben dich geholt. Du warst doch sowieso ein Kriegsverbrecher.‹ Da schluckt man.«

Eingeschüchtert von dieser Aussage hält sich Karl-Heinz gewissenhaft an das Redeverbot, dass man den Internierten bei ihrer Entlassung auferlegt hat. Als ihn eine Frau aus dem Ort inständig bittet, eine Aussage über den Verbleib ihres Mannes zu machen, schweigt er, obwohl er weiß, dass der Mann im Lager Mühlberg interniert und dort vermutlich verstorben ist. Doch aus Angst vor Konsequenzen verrät er nichts.

Karl-Heinz absolviert erfolgreich seine Gesellenprüfung als Bäcker, wechselt jedoch 1953 zum Volkseigenen Betrieb (VEB) Bergbau und Hüttenkombinat »Albert Funk«. In den Bleierz-Gruben arbeiten bereits sein Onkel und sein Cousin, und aufgrund der Kenntnisse, die sich Karl-Heinz in sowjetischer Gefangenschaft im Bergbau angeeignet hat, gelingt der Einstieg unproblematisch. Innerhalb von zwei Jahren erzielt er alle relevanten Qualifikationen, wie den Sprengerlaubnisschein, und arbeitet als Vortriebshauer.

Obwohl er aufgrund seiner Erfahrungen mit dem kommunistischen Regime die Mitgliedschaften in der SED und ihren Organisationen vehement ablehnt, tritt Karl-Heinz 1954 in die Kampfgruppe seines Betriebs ein. Deutlich hat man ihm gezeigt, dass er bei einer Weigerung mit beruflichen Sanktionen zu rechnen hat.
1954 heiratet er. Karl-Heinz und seine Frau Isolde bekommen zwei Söhne und eine Tochter und führen eine glückliche Ehe. Außerdem engagiert Karl-Heinz sich bei der AWG und leistet in den folgenden Jahren beim Bau einer Siedlung in Halsbrücke mehr als 3.000 Arbeitsstunden, zusätzlich zu seiner Schichtarbeit in den Bleierz-Gruben.

Als das Kombinat »Albert Funk« die Förderung von Blei- und Zinkerzen im Freiberger Revier 1969 einstellt, wechselt Karl-Heinz als Bleischweißer in den Verarbeitungsbetrieb. Mit 50 Jahren erhält er die Teilrente, und im Alter von 60 bekommt er die volle Bergbaurente.

Nach den friedlichen Protesten der DDR-Bürger im Herbst 1989 kommt es zum Zerfall des politischen Systems der DDR und zur Deutschen Wiedervereinigung. Karl-Heinz ist erleichtert über den Umbruch und bezeichnet ihn als zweite Heimkehr aus Russland.

Dass Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit MfS politisch brisante Bürger wie ihn beobachteten, hatte er stets unterschwellig bemerkt. Seine Stasi-Akte hat Karl-Heinz bislang jedoch noch nicht beantragt. Allerdings leitet er seine politische Rehabilitierung bei den bundesdeutschen Behörden in die Wege und erhält für seine 79 Monate währende Zeit in sowjetischer Gefangenschaft eine Haftentschädigung sowie die Opferrente.

Karl-Heinz schließt sich kurz nach deren Gründung der Bezirksgruppe Freiberg der Vereinigung der Opfer des Stalinismus e. V. (VOS) und der Initiativgruppe Lager Mühlberg e. V. an, nimmt an den Arbeitseinsätzen auf dem ehemaligen Lagergelände teil und besucht bis heute regelmäßig die Mitgliedertreffen.

»Wir waren 18 Mann aus Halsbrücke in Mühlberg. Einer war in Bautzen. Vier davon kamen nicht wieder. Und die hatten keinem Menschen was getan.«

Jetzt kann er auch der Frau, die ihn damals um Auskunft bat, die Wahrheit über den Verbleib ihres Mannes sagen. Sie zeigt Verständnis für seine einstige Verschlossenheit und schließt sich ebenfalls der VOS an.

Karl-Heinz hat mittlerweile sechs Enkel und neun Urenkel. Im März 2012 verstirbt seine Frau Isolde und hinterlässt ihn in großer Trauer. Der Witwer besucht ihr Grab seitdem täglich. Trotzdem versucht er, sein Leben weiterhin mit den Dingen zu füllen, die ihm Freude machen, und pflegt die ehemals gemeinsamen Freizeitbeschäftigungen wie das Pilze sammeln.

Die sieben Jahre Gefangenschaft hat Karl-Heinz für sich weitestgehend gut verarbeitet. An die Lieder und Gedichte, die er gemeinsam mit seinen gefangenen Kameraden in Sibirien verfasste, erinnert er sich bis heute gut:

Sieben Jahre gefangen und gefesselt,
sieben Jahre nur Elend und Leid.
Sieben Jahre sibirische Steppe,
oh Heimat, wie bist du so weit!

Gefangen, bewacht wie Verbrecher,
in einsame Lande verbannt.
Da stehen wir, trotz Hunger und Kälte,
an Pickel und Schaufel die Hand.

Als Kind schon der Heimat entrissen,
des schönsten der Orte geraubt,
weil wir für die Heimat gestritten,
den Worten der Älteren geglaubt.

Des Nachts seh ich all deine Sterne,
zum Greifen sind sie mir so nah,
doch sind sie in unendlicher Ferne,
oh Heimat, wie bist du doch so weit!

Vaterland, du kannst uns nicht ernähren,
nicht mit Kabusta [Kohlgericht] und nicht mit Sauerkohl,
drum schick uns lieber in die Heimat,
aber nicht zum Pieck und Grotewohl.

In den Stuben 100.000 Wanzen,
auf der Straße meterhoch der Dreck,
so lebt er doch in schönsten Freuden,
denn das ist der russkij [russische] chelovek [Mensch].

»Wir hatten keinem Menschen was getan.«

Am 9. Dezember 1929 wird Karl-Heinz Carolus in der sächsischen Bergstadt Freiberg geboren, kurz darauf ziehen seine Eltern mit ihm und seiner älteren Schwester ins nahegelegene Halsbrücke. Der kleine Ort ist bekannt durch den Bergbau und seine Industrie zur Verhüttung der einheimischen Erze. Karl-Heinz besucht die Volksschule in Halsbrücke und ist ein aufgewecktes Kind.

Doch mit dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 beginnt der Zweite Weltkrieg und das Leben der Familie Carolus ändert sich grundlegend. Sein Vater Johannes Carolus muss als Soldat der deutschen Wehrmacht an die Front und Karl-Heinz, gerade zehnjährig, wird Teil des Deutschen Jungvolks der Hitlerjugend (HJ). Mit 14 Jahren wird er automatisch in die Hitlerjugend übernommen.

Nach dem Abschluss der 8. Klasse beginnt Karl-Heinz eine Bäckerlehre in Freiberg, muss diese aber nach knapp einem Jahr unterbrechen, da er im Frühjahr 1945 in ein Wehrertüchtigungslager berufen wird. Dort bildet man die Hitlerjungen allerdings nicht mehr aus. Schon kurze Zeit später, am 8. Mai 1945, finden mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht der Zweite Weltkrieg und die zwölfjährige NS-Herrschaft ihr Ende.

Karl-Heinz und seine Kameraden kehren nach Hause zurück und treffen unterwegs auf Soldaten der Roten Armee, doch niemand kontrolliert sie oder hält sie auf. Johannes Carolus bleibt nach Kriegsende zunächst verschollen.

Die sowjetische Militäradministration SMAD übernimmt die Kontrolle über die ihr zugeteilte Besatzungszone SBZ und Militärangehörige beziehen ihre Unterkünfte und Kommandanturen. Karl-Heinz führt seine Ausbildung in der Bäckerei fort. Ein zaghafter Nachkriegsalltag scheint einzukehren.

Doch im Herbst wird deutlich, dass immer wieder Jugendliche aus der Umgebung verhaftet werden oder spurlos verschwinden. Am Nachmittag des 6. November 1945 suchen Männer die Backstube auf und erkundigen sich nach Karl-Heinz, der jedoch bereits im Feierabend ist. Als der 15-Jährige gegen 19 Uhr zur Nachtschicht antritt, tauchen die Beamten erneut auf. Der deutsche Polizist und ein sowjetischer Militärangehöriger nehmen ihn zur Klärung eines Sachverhalts mit.

Über Nacht wird Karl-Heinz in eine Zelle gesperrt, die sich im Gefängnis hinter dem Freiberger Amtsgericht befindet. Als er am nächsten Tag zu einem Häftlings-Rundgang nach draußen geführt wird, trifft er etliche Jugendliche, die er kennt.

Dann beginnen wiederholte Vernehmungen durch einen russischen Offizier des NKWD, der Karl-Heinz die Mitgliedschaft in der nationalsozialistischen Partisanenorganisation »Werwolf« vorwirft. Durch schikanierende verbale Verhörtechniken und unter körperlicher Gewaltanwendung versucht man, ein Geständnis zu erpressen.

»Ich war aber nicht beim Werwolf!«

Acht Tage später, in den frühen Morgenstunden des 14. November 1945, verlädt man 14 Jugendliche auf einen Lkw. Es ist kalt, neblig und regnerisch, und die Jungen sitzen ungeschützt auf der blanken Ladefläche des Fahrzeugs.

Dann erreichen sie das Ziel des Transports: das sowjetische Speziallager Nr. 1 Mühlberg an der Elbe. Die Barackenstadt erwartet Karl-Heinz mit einem Bild des Elends. Rund 14.000 Männer und Frauen im Alter von 12 bis 82 Jahren sind hier eingepfercht. Je 250 Mann teilen sich eine der heruntergekommenen Baracken, schlafen dicht an dicht auf zweistöckigen Holzpritschen.

Die Internierten werden nur unzureichend und mit minderwertiger Nahrung versorgt, die vor allem aus kleinen Mengen Brot und dünner Suppe besteht. Die hygienischen Zustände in dem ständig überfüllten Lager sind würdelos. Wechselsachen gibt es für niemanden, geschweige denn Bettdecken, Zahnbürsten oder Toilettenpapier.

Karl-Heinz hat Glück und übersteht die Zeit im Speziallager Nr. 1 gesundheitlich stabil. Viele der Internierten erkranken jedoch schwer und können von den Lagerärzten nur mangelhaft bis gar nicht versorgt werden, da kaum medizinische Ausrüstung vorhanden ist. Über 6.700 Mann überleben die Gefangenschaft im Lager Mühlberg nicht, und so ist der Beerdigungstrupp ununterbrochen damit beschäftigt, die Toten einzusammeln und zu begraben. Angehörige werden weder über den Aufenthalt ihrer Verwandten informiert, noch erfolgt eine Benachrichtigung, wenn es zum Todesfall kommt.

Erneut finden Verhöre statt. Als Karl-Heinz zu seiner Vernehmung gerufen wird, sieht er sich demselben russischen Major gegenüber, der schon im Amtsgericht Freiberg ein Geständnis von ihm erzwingen wollte.

Im Frühjahr 1947 werden die Sicherheitsmaßnahmen auf dem Lagergelände deutlich erhöht. Kurz darauf findet eine Musterung der Gefangenen statt. Insgesamt 821 Mann, die gesündesten und kräftigsten der Internierten, werden aussortiert. Man stattet sie mit Winterkleidung aus und schickt sie am 8. Februar 1947 auf den sogenannten Pelzmützentransport: eine 33-tägige Zugfahrt über Warschau, Brest und Moskau bis nach Anschero-Sudschensk, in die sibirische Bergbauregion des Verwaltungsbezirks Kemerowo.

Der mittlerweile 17-jährige Karl-Heinz ist unter den Männern, die auf Befehl Stalins fortan für die Sowjetunion Zwangsarbeit leisten müssen. Im ersten Monat herrscht noch eine Quarantänezeit, danach beginnt die Aufteilung der Gefangenen zur Arbeit auf Baustellen und im Steinkohlebergbau unter Tage. Karl-Heinz meldet sich freiwillig für die Arbeit im Kohleschacht.

Zwar müssen die Zwangsarbeiter beim Steinkohleabbau eine Norm erfüllen, doch sie verdienen nun auch Geld. Als Vortriebshauer des Abschnitts erhält Karl-Heinz immerhin 2.000 Rubel. Dass die Summe bar ausgezahlt wird, macht ihm allerdings Sorgen, denn er weiß, dass die Wachhabenden des Lagers ihre Gefangenen durchsuchen. Hier hilft ihm sein russischer Brigadier weiter und organisiert, dass eine Schachtmitarbeiterin, die neben dem Lager wohnt, das Geld für ihn aufbewahrt.

»Die Motoristin hatte ein Auge auf mich geworfen. Aber wir durften nicht! Wenn das rausgekommen wäre… Die hätten sie sofort nach Workuta gebracht.«

Von dem Gehalt eines jeden Zwangsarbeiters gehen 450 Rubel für die Unterkunft im Lager und 200 Rubel als Reparationskosten ab, über das restliche Geld können sie frei verfügen. Karl-Heinz und seine Kameraden kaufen sich Brot, Graupen und Butter, um ihre Verpflegung zu bereichern, und leiden zum ersten Mal seit zwei Jahren keinen Hunger mehr.

Das Heimweh und das Bedürfnis nach Normalität sind unter den Internierten groß, deshalb schaffen sie eine gewisse Geselligkeit, indem sie sich in ihrer freien Zeit zusammensetzen, gemeinsam essen und dabei Lieder und Gedichte verfassen.

Der Umgang mit den russischen Wachhabenden und den anderen Schachtarbeitern verändert sich im Laufe der Jahre in Gefangenschaft zum Positiven. Nur das Verhältnis zu den Wolgadeutschen empfindet Karl-Heinz als angespannt.

Auch auf sowjetischem Terrain finden noch Verhöre statt, doch deren Methoden sind nicht mehr so drastisch wie im Amtsgericht Freiberg und im Speziallager Mühlberg. Trotzdem ist Karl-Heinz überrascht, als er 1948 zu einer Vernehmung gerufen wird. Zum dritten Mal sitzt ihm derselbe Mann gegenüber – nur ist dieser mittlerweile vom Major zum Oberstleutnant aufgestiegen.

1949 führt die Männer ein weiterer Transport in Richtung Süden, nach Stalinsk – dem heutigen Nowokusnezk. Auf der großen Baustelle eines Wasserkraftwerks werden die Internierten für verschiedene Tätigkeiten eingesetzt. Sie arbeiten hart und unter widrigen Bedingungen. Wenn der Boden durch die anhaltenden Minusgrade gefroren ist, wird er anstelle einer Hacke eben mit Hammer und Schlegel bearbeitet.

Ende April 1950 wird unvermittelt von Entlassung gesprochen. Die Internierten sind skeptisch, doch ihre Lagerkommandanten versichern ihnen, es gehe heimwärts. In der Tat fährt sie der Zug tausende Kilometer in Richtung Westen, passiert Moskau und Minsk und hält schließlich auf dem Bahnhof von Brest-Litowsk, wo die osteuropäische Spurweite von 1520 Millimeter und die mitteleuropäische Regelspurweite von 1435 Millimeter aufeinandertreffen und den Wechsel des Zuges notwendig machen.

Hoffnungsvoll treten die Männer vor dem zuständigen Offizier zum Abzählen an und werden in alphabetischer Reihenfolge namentlich aufgerufen. Da aber nicht genügend Waggons mit Normalspurweite zur Verfügung stehen, darf nur eine Hälfte nach Hause fahren, die andere muss auf unbestimmte Zeit in einem Lager in Brest bleiben. Wieder hat Karl-Heinz Pech.

»Was sollte ich machen? Der Russe schreibt mich mit ›K‹ und nicht mit ›C‹.«

Karl-Heinz wird einem Arbeitskommando auf dem Bahnhof zugeteilt, dessen Aufgabe es ist, Waren zwischen den Güterzügen umzuladen. Er ist mittlerweile 20 Jahre alt und befindet sich seit fast fünf Jahren in sowjetischer Gefangenschaft. Bislang war es ihm nicht möglich, seiner Familie ein Lebenszeichen zu senden oder in Erfahrung zu bringen, ob der Vater im Krieg gefallen oder mittlerweile heimgekehrt ist. Darum nutzen er und seine Kameraden ihre Tätigkeit sofort dazu aus, Briefe in die Waggons zu schmuggeln, die in Richtung Deutschland fahren.

Wie Karl-Heinz später erfahren wird, erreichen wirklich ein paar der Briefe ihr Ziel – offensichtlich weitergeleitet von wohlwollenden Bürgern. Allerdings werden die Nachrichten auch von den Wachhabenden entdeckt, und so findet der heimliche Briefverkehr ein jähes Ende. Die Internierten werden auf Lkw gesetzt und zurück in östliche Richtung gefahren.

Gemeinsam mit etwa 400 Mann kommt Karl-Heinz in einem Kriegsgefangenenlager in Minsk unter. Selbstverständlich werden sie auch hier wieder für Arbeiten auf Baustellen eingesetzt, unter anderem für die Errichtung eines großen Automobilwerks.

Weil von einer Heimfahrt nun gar keine Rede mehr ist, begehren die Gefangenen ein erstes Mal auf und treten Ende des Jahres 1950 in den Hungerstreik. Als Konsequenz werden sie erneut verladen und diesmal bei 40 Grad Hitze auf hermetisch verschlossenen Güterwaggons befördert. Die Fahrt führt sie nach Konstantinowka im Verwaltungsbezirk Donezk (früher Stalino).

»Wieder auf Baustellen. Was machten wir? Hungerstreik. Verluden sie uns wieder in die geschlossenen Waggons, ging es zurück nach Kiew.«

Es ist mittlerweile Winter zu Anfang des Jahres 1951, als etwa 100 Mann auf einer Baustelle in der Nähe von Kiew eingesetzt werden. Mehr als ein Jahr verbringen sie in dem abgelegenen Waldlager Darniza, wo ein Sanatorium aufgebaut werden soll.

Nach den langen Jahren der strikten Unterjochung wird der Alltag der Internierten mit kleinen Zugeständnissen bereichert. So ist es den Gefangenen gestattet, einmal im Monat einer Filmvorführung beizuwohnen. Das Verhältnis zu den sowjetischen Wachposten gestaltet sich weniger angespannt, und auch die Arbeitsverpflichtung verliert für Karl-Heinz im subjektiven Empfinden das streng Zwanghafte.

Auch dürfen die Männer mittlerweile Postkarten nach Hause schreiben. Der Kontakt mit den Angehörigen ist ein psychologisch bedeutsamer Faktor für die Häftlinge, der ihnen hilft, viele Widrigkeiten zu überstehen. Für die Daheimgebliebenen ist die Gefangenschaft ihrer Ehemänner, Söhne und Geschwister mit einer großen seelischen und oft auch materiellen Belastung verbunden. Karl-Heinz versteckt auf den Postkarten jedes Mal eine Botschaft, die verrät, wo er sich gerade befindet.

»Aber nicht offiziell. Da und da einen Buchstaben, und dort wieder einen: ›Grüß bitte meine Tante EW und die Familie KI, wo ich als Kind so gerne gewesen bin.‹«

Eines Samstags im April 1952 brodelt die Gerüchteküche des Lagers, erneut wird von baldiger Entlassung geredet. Karl-Heinz hat eine gute Vorahnung, er wettet sogar mit seinen Freunden darum, dass es dieses Mal wirklich nach Hause geht.

Eine Woche später ruft der Lagerleiter den Befehl aus, auf den alle seit Jahren gewartet haben. Nun muss alles schnell gehen. Karl-Heinz hat bereits seine Habseligkeiten gepackt. Mit nach Hause nehmen dürfen sie einen Koffer voller Zigaretten – eine begehrte Tauschware. Dann warten die Männer im Hauptlager in Kiew noch acht Tage lang auf ihren Transport.

Doch beim Erledigen der Entlassungsformalitäten treten plötzlich Ungereimtheiten auf. Der Oberleutnant, der Karl-Heinz‘ Identität mit seinen Personalakten vergleicht, zögert und lässt ihn mehrfach seinen Namen und das Geburtsdatum wiederholen. Karl-Heinz bekommt es mit der Angst zu tun. Doch es stellt sich heraus, dass sein Vater Johannes Carolus in demselben Lager in Kriegsgefangenschaft und dem Offizier aufgrund einer besonders geschickten Reparatur im Gedächtnis geblieben war. Erleichtert verspricht Karl-Heinz, die Grüße des Oberleutnants auszurichten.

Von Kiew aus geht es schließlich mit dem Zug über Polen bis nach Frankfurt/Oder, danach erreichen die Männer das Quarantänelager Bischofswerda. Es ist ein Mittwoch, der 28. Mai 1952, kurz vor dem Pfingstfest. Niemand weiß, wie lange der Aufenthalt währen soll, bis es endgültig nach Hause geht.

In seiner Ungeduld denkt sich Karl-Heinz einen Plan aus, der die Heimkehr beschleunigen könnte. Er überredet die zwei Kameraden dazu, sich abends gemeinsam aus dem Lager zu schleichen. Tatsächlich gelingt es ihnen. Mit zahlreichen Zigarettenschachteln suchen sie eine nahegelegene Poststelle auf und bitten deren Mitarbeiterin um ein Tauschgeschäft. Mit dem Wortlaut »Leute sind aus der Gefangenschaft nach Hause und wollen Pfingsten zuhause sein« senden sie ein Telegramm an den Präsidenten der Deutschen Demokratischen Republik DDR. Dann kehren sie zurück ins Quarantänelager.

Zwei Tage später herrscht große Aufregung. Alle Lagerinsassen müssen auf dem Platz antreten. Empört verlangt der Lagerkommandant von ihnen zu erfahren, wer das Telegramm aufgegeben habe. Karl-Heinz und seine zwei Kameraden stehen getrennt in der Menge und geben sich nicht zu erkennen. Der Grund für die Aufruhr ist mehr als erfreulich: das Antwort-Telegramm Wilhelm Piecks ordnet die sofortige Entlassung aller DDR-Bürger an. Hektisch werden die Formalitäten geregelt.

Dokument: Über seinen Aufenthalt im Quarantänelager wird Karl-Heinz eine Bescheinigung ausgehändigt, Mai 1952

Über seinen Aufenthalt im Quarantänelager wird Karl-Heinz eine Bescheinigung ausgehändigt, Mai 1952

Am frühen Morgen des 31. Mai 1952 sitzen Karl-Heinz und fünf Kameraden aus Freiberg in einem Zug nach Dresden. Ein Anschlusszug bringt sie nach Freiberg, und die Männer sind so aufgeregt, dass sie nicht bemerken, fälschlicherweise in einen Schnellzug gestiegen zu sein. Doch die drei Mark Strafe, die sie deshalb bei der Ankunft auf dem Freiberger Bahnhof zahlen müssen, nehmen sie lachend in Kauf.

Karl-Heinz geht die verbleibenden Kilometer in seinen Heimatort Halsbrücke zu Fuß. Unterwegs trifft er auf alte Bekannte, doch sie erkennen ihn nicht wieder, denn in den vergangenen sieben Jahren ist aus dem Jungen ein Mann geworden, den Gefangenschaft und Zwangsarbeit gezeichnet haben. Gegen elf Uhr erreicht Karl-Heinz sein Elternhaus und kann seine Mutter, seine Schwester und seinen Vater wieder in die Arme schließen.

Viel gibt es nun zu besprechen. Johannes Carolus bestätigt seine Kriegsgefangenschaft in Kiew und die Bekanntschaft mit dem sowjetischen Offizier. Karl-Heinz‘ Mutter hat alle Briefe aufgehoben und gibt zu, dass sie manches Mal kaum glauben wollte, woher die Karten stammen.

Der Neuanfang in der Heimat gestaltet sich emotional turbulent. Seine äußere Erscheinung macht Karl-Heinz als Heimkehrer deutlich erkennbar, er muss sich zunächst neu einkleiden. Trotzdem ist es belastend, die ständigen Blicke der Menschen zu ertragen, die sein Auftauchen kritisch beäugen.

Gesundheitlich hat er glücklicherweise keine Probleme davongetragen. Auch der berufliche Wiedereinstieg gestaltet sich unkompliziert, denn obwohl er noch keinen Berufsabschluss hat, übernimmt ihn die Konsumbäckerei in Halsbrücke anstandslos. Bereits zwei Tage nach seiner Rückkehr steht Karl-Heinz wieder in der Backstube.

Problematischer ist jedoch seine Anmeldung auf dem Gemeindeamt, wo ihn der Bürgermeister fragt, aus welchem Grund er damals verhaftet worden sei. Karl-Heinz weiß keine Antwort.

»Da sagte der Bürgermeister zu mir: ›Deinen Vater kriegten wir nicht, da haben wir eben dich geholt. Du warst doch sowieso ein Kriegsverbrecher.‹ Da schluckt man.«

Eingeschüchtert von dieser Aussage hält sich Karl-Heinz gewissenhaft an das Redeverbot, dass man den Internierten bei ihrer Entlassung auferlegt hat. Als ihn eine Frau aus dem Ort inständig bittet, eine Aussage über den Verbleib ihres Mannes zu machen, schweigt er, obwohl er weiß, dass der Mann im Lager Mühlberg interniert und dort vermutlich verstorben ist. Doch aus Angst vor Konsequenzen verrät er nichts.

Karl-Heinz absolviert erfolgreich seine Gesellenprüfung als Bäcker, wechselt jedoch 1953 zum Volkseigenen Betrieb (VEB) Bergbau und Hüttenkombinat »Albert Funk«. In den Bleierz-Gruben arbeiten bereits sein Onkel und sein Cousin, und aufgrund der Kenntnisse, die sich Karl-Heinz in sowjetischer Gefangenschaft im Bergbau angeeignet hat, gelingt der Einstieg unproblematisch. Innerhalb von zwei Jahren erzielt er alle relevanten Qualifikationen, wie den Sprengerlaubnisschein, und arbeitet als Vortriebshauer.

Obwohl er aufgrund seiner Erfahrungen mit dem kommunistischen Regime die Mitgliedschaften in der SED und ihren Organisationen vehement ablehnt, tritt Karl-Heinz 1954 in die Kampfgruppe seines Betriebs ein. Deutlich hat man ihm gezeigt, dass er bei einer Weigerung mit beruflichen Sanktionen zu rechnen hat.
1954 heiratet er. Karl-Heinz und seine Frau Isolde bekommen zwei Söhne und eine Tochter und führen eine glückliche Ehe. Außerdem engagiert Karl-Heinz sich bei der AWG und leistet in den folgenden Jahren beim Bau einer Siedlung in Halsbrücke mehr als 3.000 Arbeitsstunden, zusätzlich zu seiner Schichtarbeit in den Bleierz-Gruben.

Als das Kombinat »Albert Funk« die Förderung von Blei- und Zinkerzen im Freiberger Revier 1969 einstellt, wechselt Karl-Heinz als Bleischweißer in den Verarbeitungsbetrieb. Mit 50 Jahren erhält er die Teilrente, und im Alter von 60 bekommt er die volle Bergbaurente.

Nach den friedlichen Protesten der DDR-Bürger im Herbst 1989 kommt es zum Zerfall des politischen Systems der DDR und zur Deutschen Wiedervereinigung. Karl-Heinz ist erleichtert über den Umbruch und bezeichnet ihn als zweite Heimkehr aus Russland.

Dass Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit MfS politisch brisante Bürger wie ihn beobachteten, hatte er stets unterschwellig bemerkt. Seine Stasi-Akte hat Karl-Heinz bislang jedoch noch nicht beantragt. Allerdings leitet er seine politische Rehabilitierung bei den bundesdeutschen Behörden in die Wege und erhält für seine 79 Monate währende Zeit in sowjetischer Gefangenschaft eine Haftentschädigung sowie die Opferrente.

Karl-Heinz schließt sich kurz nach deren Gründung der Bezirksgruppe Freiberg der Vereinigung der Opfer des Stalinismus e. V. (VOS) und der Initiativgruppe Lager Mühlberg e. V. an, nimmt an den Arbeitseinsätzen auf dem ehemaligen Lagergelände teil und besucht bis heute regelmäßig die Mitgliedertreffen.

»Wir waren 18 Mann aus Halsbrücke in Mühlberg. Einer war in Bautzen. Vier davon kamen nicht wieder. Und die hatten keinem Menschen was getan.«

Jetzt kann er auch der Frau, die ihn damals um Auskunft bat, die Wahrheit über den Verbleib ihres Mannes sagen. Sie zeigt Verständnis für seine einstige Verschlossenheit und schließt sich ebenfalls der VOS an.

Karl-Heinz hat mittlerweile sechs Enkel und neun Urenkel. Im März 2012 verstirbt seine Frau Isolde und hinterlässt ihn in großer Trauer. Der Witwer besucht ihr Grab seitdem täglich. Trotzdem versucht er, sein Leben weiterhin mit den Dingen zu füllen, die ihm Freude machen, und pflegt die ehemals gemeinsamen Freizeitbeschäftigungen wie das Pilze sammeln.

Die sieben Jahre Gefangenschaft hat Karl-Heinz für sich weitestgehend gut verarbeitet. An die Lieder und Gedichte, die er gemeinsam mit seinen gefangenen Kameraden in Sibirien verfasste, erinnert er sich bis heute gut:

Sieben Jahre gefangen und gefesselt,
sieben Jahre nur Elend und Leid.
Sieben Jahre sibirische Steppe,
oh Heimat, wie bist du so weit!

Gefangen, bewacht wie Verbrecher,
in einsame Lande verbannt.
Da stehen wir, trotz Hunger und Kälte,
an Pickel und Schaufel die Hand.

Als Kind schon der Heimat entrissen,
des schönsten der Orte geraubt,
weil wir für die Heimat gestritten,
den Worten der Älteren geglaubt.

Des Nachts seh ich all deine Sterne,
zum Greifen sind sie mir so nah,
doch sind sie in unendlicher Ferne,
oh Heimat, wie bist du doch so weit!

Vaterland, du kannst uns nicht ernähren,
nicht mit Kabusta [Kohlgericht] und nicht mit Sauerkohl,
drum schick uns lieber in die Heimat,
aber nicht zum Pieck und Grotewohl.

In den Stuben 100.000 Wanzen,
auf der Straße meterhoch der Dreck,
so lebt er doch in schönsten Freuden,
denn das ist der russkij [russische] chelovek [Mensch].