Hartmut Brix

Hartmut Brix

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»Wir waren eben nicht harmlos genug.«

Hartmut Brix wird am 9. Februar 1941 im ostpreußischen Gröben im Kreis Osterode geboren. Mit einer jüngeren Schwester wächst er auf dem Bauernhof der Großeltern auf. Seine Mutter arbeitet als Lehrerin an der Dorfschule. Hartmuts Vater ist Funktionär bei der Deutschen Arbeitsfront, dem Einheitsverband der Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu Zeiten des NS-Regimes, und meldet sich zu Beginn des Zweiten Weltkriegs freiwillig an die Front.

Im Januar 1945 muss die Familie aus Ostpreußen flüchten, Hartmuts Mutter ist gerade mit seiner zweiten Schwester schwan­ger. Mit einem der letzten Züge fliehen sie aus dem umkämpften Gebiet und kommen bei den Eltern von Hartmuts Vater, die ein Einfamilienhaus in Leipzig-Gohlis besitzen, unter. Hartmuts Vater bleibt nach Kriegsende vermisst.

Ab 1947 besucht Hartmut die Schule. Zwei Jahre später wird die DDR gegründet und Hartmut, wie alle Kinder seines Alters, in die Organisation der Jungpioniere aufgenommen. Am 17. Juni 1953 beobachtet er, wie in der Ritterstraße aus dem Gebäude der FDJ-Bezirksleitung Propagandamaterial aus dem Fenster geworfen und auf der Straße angezündet wird. In den Straßen der Leipziger Innenstadt fahren sowjetische Panzer auf.

Am Tag darauf reißen die zwölfjährigen Jungen aus Protest im Klassenzimmer die Ulbricht- und Grotewohl-Bildnisse von den Wänden. Hartmut ist kein fleißiger Schüler, er bezeichnet sich selbst als eher schwatzhaft und widerspenstig. Nach seinem Schulabschluss lernt er bei einem Schlossermeister in Gohlis den Beruf des Bauschlossers und arbeitet nach der Lehre noch für weitere drei Jahre in dem Handwerksbetrieb.

In seiner Freizeit betreibt Hartmut intensiv Radsport. Er wird Gruppenleiter bei der Gesellschaft für Sport und Technik (GST) und beginnt im Juni 1959 als lizenzierter Amateurradrennfahrer bei der Betriebssportgemeinschaft (BSG) Rotation Leipzig-Ost.

»Wenn ich drei Tage nicht auf dem Rad saß, war ich krank. Ich musste selbst bei schlechtestem Wetter das Fahrrad rausholen und fahren.«

Neben seiner Arbeit als Schlossergehilfe besucht Hartmut die Volkshochschule, um die Mittlere Reife nachzuholen. Er lernt dort drei Jugendliche kennen, mit denen er sich befreundet. Sie fahren des Öfteren gemeinsam nach Westberlin. Was die Stadt bietet, entspricht so gar nicht dem Bild des »hungernden Kapitalismus«, das ihnen vom SED-Staat vermittelt wird. Die Westberliner Läden sind voll, in einem der Schaufenster steht sogar ein Motorrad. Die jungen Männer verschweigen ihrem Umfeld nicht, was sie sehen und hören. Wiederholt debattieren sie mit ihrem Geschichtslehrer.

Hartmut Brix in jugendlichen Jahren, 1959

Am 12. August 1961 wird einer der Jugendlichen festgenommen. Während der Verhöre recherchieren die Beamten der Staats­sicher­heit in Hartmuts Umfeld, und am 2. September verhaftet die Transportpolizei auch ihn. Das erste Verhör geht bis tief in die Nacht und ist von äußerst aggressivem Ton, doch trotz entsprechender Drohungen erfolgen zum Glück keine körperlichen Schikanen.

Es werden Haussuchungen durchgeführt und Namen erpresst, alles mit dem Ziel, »Staatsfeinde der DDR« ausfindig zu machen. Das SED-Regime hat mit dem Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 gerade die innerdeutsche Grenze noch dichter abge­riegelt, um dem Flüchtlings­strom aus der DDR in die Bundes­republik Einhalt zu gebieten. Nun ist den Beamten des Ministeriums für Staatssicherheit MfS jeder Kontakt nach Westdeutschland ein Dorn im Auge, jedes falsche Wort ein Indiz.

»Wäre der Mauerbau nicht gewesen, hätte uns kein Aas behelligt. Dann hätten wir weiter diskutieren und die Schule besuchen können.«

Auch bei Hartmut werden mehrere Haussuchungen durchgeführt. Aus Angst vor dem Bekanntwerden der NSDAP-Zugehörigkeit des Vaters verbrennt Hartmuts Mutter das Familienbuch. Die Volks­polizisten werden trotzdem fündig. Sie konfiszieren sogenannte Schundliteratur: Kriminal- und Wild-West-Romane, die Hartmut aus Westberlin mitgebracht hat.

Zudem wird Hartmuts Waffenarsenal beschlagnahmt. Aus Lieb­haberei hat Hartmut über die Jahre mehrere historische Schuss­waffen angesammelt, obwohl privater Waffenbesitz in der DDR verboten ist. Stolz hat er die Waffen manchmal bei sich getragen und seinen Freunden gezeigt.

Am nächsten Morgen führt die Transportpolizei Hartmut in Handschellen quer über den Hauptbahnhof ab und führt ihn auf diese Weise sämtlichen Bahn­reisenden vor. Man bringt ihn in die Unter­suchungs­haft­anstalt der Bezirks­verwaltung für Staats­sicher­heit Leipzig (BVfS), dem Gebäudekomplex zwischen der Dimitroff-, der Harkort- und der Beethovenstraße.

Die Haftumstände, die er nun zu ertragen hat, schockieren den 20-Jährigen. Mit drei weiteren Häftlingen sitzt er in einer kleinen Zelle, die außer den Schlafpritschen nur noch eine offene Toilette beherbergt. Seine Notdurft muss man vor den Augen und Ohren der Mitinsassen verrichten und dann an der Tür klopfen, damit der Wärter die außerhalb befindliche Spülung betätigt. Einmal in der Woche darf geduscht werden.

Insgesamt vier Wochen hält ihn das Ministerium für Staatssicherheit MfS in der Untersuchungshaft fest. In den ersten 14 Tagen unterzieht man ihn den immer gleichen Verhören. Zum Verhängnis wird ihm der Waffenbesitz, denn der soll Beweis für einen geplanten Mord sein. Die Vernehmer wollen von Hartmut unbedingt den Namen eines potentiellen Opfers hören. Obwohl er niemals die Absicht hatte, jemanden zu erschießen, nennt Hartmut unter dem Druck der zermürbenden Verhörtechniken schließlich den Namen seines Geschichtslehrers, denn das scheint ihm das geringste Übel zu sein.

»Ich dachte, da kann nicht allzu viel passieren, wenn ich den erschießen wollte. Ich hätte ihn ja nicht erschossen, selbst wenn ich eine richtige Pistole gehabt hätte.«

Auch gibt er zu, in Westberlin gewesen zu sein, den Kapitalismus verherrlicht, Westsender gehört und diese Nachrichten in der Bevölkerung verbreitet zu haben. Damit sind die Ermittlungen schnell abgeschlossen und Hartmut wird am 28. September in die Strafvollzugseinrichtung der Alfred-Kästner-Straße verlegt.

Die Presse nutzt den Fall, um die DDR-Ideologie zu propagieren und Ängste vor dem Einfluss der Westsender zu schüren. Einige Male bringen die Wärter Hartmut Zeitungen, die Artikel beinhalten, in denen sein Fall propagandistisch ausgeschlachtet wird. Die Presseberichte sind eine enorme seelische und moralische Belastung für Hartmut.

Artikel aus der Leipziger Volkszeitung vom 14. Oktober 1961

Am 9. November 1961 findet die Gerichtsverhandlung statt. Die Anklageschrift wirft den vier Jugendlichen vor, gemeinsam »die weitere ideologisch-politische Festigung der Arbeiter- und Bauern-Macht und die innere Sicherheit der DDR sowie das Leben der Bürger gefährdet zu haben« und »zum Sprachrohr der Feinde des Staates geworden zu sein«. Studentenklassen wohnen dem großen Prozess bei.

Am nächsten Tag fällt der Richter das Urteil: Hartmut wird wegen fortgesetzter staatsgefährdender Propaganda und Hetze nach Paragraf 19 des Straf­ergänzungs­gesetzes und wegen Verbrechen gemäß Paragraf 2 der Verordnung über die Bestrafung von illegalem Waffenbesitz und Waffenverlust zu insgesamt drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Auch seine drei Freunde erhalten mehr­jährige Haft­strafen.

Die ersten zehn Monate seiner Gefängnisstrafe sitzt Hartmut in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Waldheim ab. Die Einrichtung liegt etwa 30 Kilometer nördlich von Chemnitz. Im Jahre 1716 unter August dem Starken eröffnet, gilt sie als eines der ältesten Gefängnisse in Europa. Das Gebäude wird seit dem nationalsozialistischen Regime vor allem zur Inhaftierung politisch Verurteilter genutzt. 1950 finden hier die sogenannten Waldheimer Prozesse gegen mut­maß­liche NS-Verbrecher statt, bei denen 3385 Schnellverfahren durchgeführt werden, die zum Teil in Todesstrafen münden. Heute wird die Einrichtung noch immer als JVA des Freistaates Sachsen genutzt.

Hartmut teilt sich in Waldheim mit drei Mann eine Zelle sowie den Kübel für die Notdurft. Die Verpflegung ist karg und mangelhaft. Die Häftlinge werden als Dreher für die Produktion des VEB Union Gera angelernt. Hartmut erkrankt und kann die Norm nicht erfüllen. Sein Körper kommt nicht mit der Umstellung klar, wochenlang nur zu sitzen, nachdem er vor seiner Verhaftung nahezu täglich Radrennen gefahren ist.

Im Oktober 1962 verlegt man Hartmut in das MfS-Haftarbeitslager Lübben, wo er für die Produktion von Munition eingesetzt wird. Im Gegensatz zum Waldheimer Gefängnis haben die Wachhabenden in Lübben eine humanere Umgangsweise mit den Gefangenen.

»Für die Volkspolizei waren wir jedoch Staatsfeinde bis zum letzten Tag. Und so behandelten sie uns auch.«

In Lübben stellt der Betrieb das Essen, es erweist sich als schmack­haft und reichhaltig. Nach vier Monaten wird das Arbeits­kommando jedoch wieder eingestellt. Für die Männer gibt es einen dreiwöchigen Aufenthalt in den Kellerräumen der Straf­voll­zugs­anstalt Cottbus, dann geht es am 26. Februar 1963 nach Bautzen.

Das sächsische Bautzen beherbergt zwei Gefängnisse. Das Untersuchungsgefängnis, Bautzen II genannt, wird vom MfS kontrolliert und ist ein Hochsicherheitstrakt für Staatsverbrecher. Hartmut wird in Bautzen I inhaftiert, dem »Gelben Elend«. Das Gebäude mit der gelben Klinkerfassade ist zwischen Juni 1945 und Februar 1950 das Speziallager Nr. 4 der Abteilung Speziallager des NKWD der UdSSR in Deutschland. Ab dem 15. Februar 1950 untersteht Bautzen I dem Innenministerium der DDR und dient der Inhaftierung mehrfach Vorbestrafter und zu Langzeithaft Verurteilter.

In Bautzen kommt Hartmut nicht in einer Zelle, sondern einem großen Schlafsaal gemeinsam mit etwa 60 Mann unter. Jeder Häftling besitzt einen eigenen Schrank, es gibt eine Wasch­gelegen­heit sowie abgetrennte Toilettenräume. Die Haftarbeit erfolgt für den VEB Robur-Werke, ein Nutz­fahrzeug­hersteller aus Zittau. Im Dreischicht­system muss Hartmut Rundschleifarbeiten durch­führen. Mit dem Geld, das er bei dieser Tätigkeit verdient, kauft er sich Schweineschmalz und Zucker, denn in Bautzen ist die Verpflegung erneut minderwertig, und Hartmut ernährt sich vorwiegend von Brot.

Seine Mutter stellt mehrfach Anträge auf eine vorzeitige Entlassung Hartmuts aus dem Strafvollzug, die jedoch abschlägig beantwortet werden. Dann wird im Mai 1964 Hartmuts Haftstrafe überraschend zur Bewährung ausgesetzt. Am 20. Mai 1964 darf er die JVA Bautzen verlassen. Ein Vierteljahr Haft bleibt ihm somit erspart, allerdings ist er nun gezwungen, sich noch zwei Jahre lang monatlich beim Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei zu melden.

Hartmut arbeitet wieder als Schlosser beim Nachfolger des Betriebes, in dem er seine Ausbildung absolviert hat. Sein Verhalten wird monatlich von einem Beamten durch Befragung von Nach­barn und Kollegen kontrolliert. Aufgrund einer allgemeinen Amnestie für politisch Verurteilte wird Hartmuts Bewährungsstrafe im September 1964 jedoch aufgehoben.

Es fällt ihm schwer, sich in den Alltag einzufinden. Keiner seiner Freunde und Bekannten spricht ihn auf seine jüngste Vergangen­heit an, obwohl sie die Zeitungsartikel gelesen haben, die nach der Verhaftung erschienen sind. Hartmut widmet seine ganze Kraft dem Radsporttraining. Mit körperlicher Aktivität versucht er, sich von seinem angeschlagenen Gemütszustand abzulenken.

»Ich trainierte oftmals wochenlang richtig scharf, war relativ gut beisammen, und dann kamen Phasen, wo ich zwei, drei Wochen lang nur aus dem Fenster starrte.«

Um sich beruflich weiterzubilden, beginnt Hartmut 1966 einen Vorbereitungs­lehrgang zur Aufnahme einer Meisterausbildung. Doch die Handwerks­kammer teilt ihm mit, dass er angesichts seiner Vorstrafe keine Chance auf den Erwerb dieses Berufsabschlusses habe. Es wird ihm gegenüber sogar geäußert, man hätte kein Problem damit, wäre er aufgrund eines Sittlichkeitsdelikts inhaftiert gewesen – Staatsfeinde hingegen würden bei ihnen keine Handwerksmeister werden. Eine Aussage, die ihm jeglichen Mut nimmt, beruflich etwas erreichen zu wollen.

Im Mai 1967 heiratet Hartmut und wechselt die Arbeitsstelle. Die Kaderleiterin beim VEB Stadtreinigung Leipzig vernichtet seinen alten Personalbogen, woraufhin er nicht länger als Vorbestrafter geführt ist. Am 8. August 1968 wird Hartmuts erster Sohn geboren, 1973 folgt der zweite. Hartmut gibt den Radsport nach und nach auf.

1974 erhält er einen Einberufungsbefehl der Nationalen Volksarmee NVA. Zweimal ist er während der Haft gemustert und stets für »unwürdig, das Ehrenkleid der NVA zu tragen«, erklärt worden. Einen Grundwehrdienst hat er deshalb nie ableisten müssen, doch nun fordert man ihn zu einem halbjährigen Reservedienst an.

Hartmut wechselt noch im Vorhinein den Betrieb, denn mit dem höheren Gehalt beim VEB Brühlpelz Leipzig ist seine Familie trotz der 20-prozentigen Abzüge während seiner Abwesenheit versorgt. Der Dienst als Reservist ist kräftezehrend. Hartmut wird für tagelange Wachdienste, Schachtarbeiten und zum Bombenstapeln eingesetzt.

Nach seiner Rückkehr arbeitet er noch bis zum Juli 1976 beim VEB Brühlpelz, danach wechselt er seine Anstellung häufig. Seine Haftvergangenheit rückt somit immer mehr in die Ferne. Ab 1977 baut Hartmut in Fuchshain ein Haus für die Familie. Die Material­beschaffung ist schwierig, und so dauert es vier Jahre bis zum Einzug.

Ab 1984 arbeitet Hartmut als Schlosser in Heimarbeit, da er die ständige Angst davor, in den sozialistischen Betrieben wieder mit der Staatsmacht in Konflikt zu kommen, nicht länger aushält.

Die Geschehnisse des Herbstes 1989 nimmt er erst relativ spät bewusst wahr, als er am 9. Oktober seinen Sohn zum Hauptbahnhof bringt und mitten in die Menschenmassen der Demonstranten gerät.

In den zehn Jahren nach der Wiedervereinigung arbeitet er als Leiharbeiter in Remscheider Betrieben. Nach seiner Rückkehr ist er arbeitslos, die Ehe geht schließlich in die Brüche.

Hartmut lebt bis heute in Trennung, ist aber nicht geschieden. Seine Frau bewohnt das Haus in Fuchshain. Die Söhne wissen erst seit 1990 von Hartmuts politischer Haftstrafe, denn er wollte sie unbelastet aufwachsen lassen.

Hartmut arbeitet seine Vergangenheit auf, erhält Einsicht in die Stasi-Akte und beantragt die Rehabilitation bei den bundes­deutschen Justiz­behörden. Er wird zuerst strafrechtlich und schließlich beruflich rehabilitiert und erhält soziale Ausgleichs­leistungen. Hartmut schließt sich dem Bund der stalinistisch Verfolgten an und ist seit 2004 Mitglied der Vereinigung der Opfer des Stalinismus e. V (VOS). Als aktives Mitglied wohnt er vielen Veranstaltungen der VOS bei und engagiert sich als Zeitzeuge auch für Ausstellungsprojekte, Dokumentationen und Fernseh­reportagen, wie beispielsweise über die JVA Waldheim. Dass ihn die Haftzeit verändert hat und sein Verhalten bis heute beeinflusst, darüber redet Hartmut ganz offen.

Er lebt heute in einer kleinen Wohnung in Liebertwolkwitz. Sein mittlerweile 56 Jahre altes Fahrrad hat er wieder hervorgeholt. 14 Jahre ist er damit nicht mehr gefahren, doch nun helfen ihm die regelmäßige Bewegung und die Freude, die ihm das Radfahren nach wie vor bereitet, fit zu bleiben und seine Krebserkrankung in Schach zu halten.

»Wir waren eben nicht harmlos genug.«

Hartmut Brix wird am 9. Februar 1941 im ostpreußischen Gröben im Kreis Osterode geboren. Mit einer jüngeren Schwester wächst er auf dem Bauernhof der Großeltern auf. Seine Mutter arbeitet als Lehrerin an der Dorfschule. Hartmuts Vater ist Funktionär bei der Deutschen Arbeitsfront, dem Einheitsverband der Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu Zeiten des NS-Regimes, und meldet sich zu Beginn des Zweiten Weltkriegs freiwillig an die Front.

Im Januar 1945 muss die Familie aus Ostpreußen flüchten, Hartmuts Mutter ist gerade mit seiner zweiten Schwester schwan­ger. Mit einem der letzten Züge fliehen sie aus dem umkämpften Gebiet und kommen bei den Eltern von Hartmuts Vater, die ein Einfamilienhaus in Leipzig-Gohlis besitzen, unter. Hartmuts Vater bleibt nach Kriegsende vermisst.

Ab 1947 besucht Hartmut die Schule. Zwei Jahre später wird die DDR gegründet und Hartmut, wie alle Kinder seines Alters, in die Organisation der Jungpioniere aufgenommen. Am 17. Juni 1953 beobachtet er, wie in der Ritterstraße aus dem Gebäude der FDJ-Bezirksleitung Propagandamaterial aus dem Fenster geworfen und auf der Straße angezündet wird. In den Straßen der Leipziger Innenstadt fahren sowjetische Panzer auf.

Am Tag darauf reißen die zwölfjährigen Jungen aus Protest im Klassenzimmer die Ulbricht- und Grotewohl-Bildnisse von den Wänden. Hartmut ist kein fleißiger Schüler, er bezeichnet sich selbst als eher schwatzhaft und widerspenstig. Nach seinem Schulabschluss lernt er bei einem Schlossermeister in Gohlis den Beruf des Bauschlossers und arbeitet nach der Lehre noch für weitere drei Jahre in dem Handwerksbetrieb.

In seiner Freizeit betreibt Hartmut intensiv Radsport. Er wird Gruppenleiter bei der Gesellschaft für Sport und Technik (GST) und beginnt im Juni 1959 als lizenzierter Amateurradrennfahrer bei der Betriebssportgemeinschaft (BSG) Rotation Leipzig-Ost.

»Wenn ich drei Tage nicht auf dem Rad saß, war ich krank. Ich musste selbst bei schlechtestem Wetter das Fahrrad rausholen und fahren.«

Neben seiner Arbeit als Schlossergehilfe besucht Hartmut die Volkshochschule, um die Mittlere Reife nachzuholen. Er lernt dort drei Jugendliche kennen, mit denen er sich befreundet. Sie fahren des Öfteren gemeinsam nach Westberlin. Was die Stadt bietet, entspricht so gar nicht dem Bild des »hungernden Kapitalismus«, das ihnen vom SED-Staat vermittelt wird. Die Westberliner Läden sind voll, in einem der Schaufenster steht sogar ein Motorrad. Die jungen Männer verschweigen ihrem Umfeld nicht, was sie sehen und hören. Wiederholt debattieren sie mit ihrem Geschichtslehrer.

Hartmut Brix in jugendlichen Jahren, 1959

Am 12. August 1961 wird einer der Jugendlichen festgenommen. Während der Verhöre recherchieren die Beamten der Staats­sicher­heit in Hartmuts Umfeld, und am 2. September verhaftet die Transportpolizei auch ihn. Das erste Verhör geht bis tief in die Nacht und ist von äußerst aggressivem Ton, doch trotz entsprechender Drohungen erfolgen zum Glück keine körperlichen Schikanen.

Es werden Haussuchungen durchgeführt und Namen erpresst, alles mit dem Ziel, »Staatsfeinde der DDR« ausfindig zu machen. Das SED-Regime hat mit dem Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 gerade die innerdeutsche Grenze noch dichter abge­riegelt, um dem Flüchtlings­strom aus der DDR in die Bundes­republik Einhalt zu gebieten. Nun ist den Beamten des Ministeriums für Staatssicherheit MfS jeder Kontakt nach Westdeutschland ein Dorn im Auge, jedes falsche Wort ein Indiz.

»Wäre der Mauerbau nicht gewesen, hätte uns kein Aas behelligt. Dann hätten wir weiter diskutieren und die Schule besuchen können.«

Auch bei Hartmut werden mehrere Haussuchungen durchgeführt. Aus Angst vor dem Bekanntwerden der NSDAP-Zugehörigkeit des Vaters verbrennt Hartmuts Mutter das Familienbuch. Die Volks­polizisten werden trotzdem fündig. Sie konfiszieren sogenannte Schundliteratur: Kriminal- und Wild-West-Romane, die Hartmut aus Westberlin mitgebracht hat.

Zudem wird Hartmuts Waffenarsenal beschlagnahmt. Aus Lieb­haberei hat Hartmut über die Jahre mehrere historische Schuss­waffen angesammelt, obwohl privater Waffenbesitz in der DDR verboten ist. Stolz hat er die Waffen manchmal bei sich getragen und seinen Freunden gezeigt.

Am nächsten Morgen führt die Transportpolizei Hartmut in Handschellen quer über den Hauptbahnhof ab und führt ihn auf diese Weise sämtlichen Bahn­reisenden vor. Man bringt ihn in die Unter­suchungs­haft­anstalt der Bezirks­verwaltung für Staats­sicher­heit Leipzig (BVfS), dem Gebäudekomplex zwischen der Dimitroff-, der Harkort- und der Beethovenstraße.

Die Haftumstände, die er nun zu ertragen hat, schockieren den 20-Jährigen. Mit drei weiteren Häftlingen sitzt er in einer kleinen Zelle, die außer den Schlafpritschen nur noch eine offene Toilette beherbergt. Seine Notdurft muss man vor den Augen und Ohren der Mitinsassen verrichten und dann an der Tür klopfen, damit der Wärter die außerhalb befindliche Spülung betätigt. Einmal in der Woche darf geduscht werden.

Insgesamt vier Wochen hält ihn das Ministerium für Staatssicherheit MfS in der Untersuchungshaft fest. In den ersten 14 Tagen unterzieht man ihn den immer gleichen Verhören. Zum Verhängnis wird ihm der Waffenbesitz, denn der soll Beweis für einen geplanten Mord sein. Die Vernehmer wollen von Hartmut unbedingt den Namen eines potentiellen Opfers hören. Obwohl er niemals die Absicht hatte, jemanden zu erschießen, nennt Hartmut unter dem Druck der zermürbenden Verhörtechniken schließlich den Namen seines Geschichtslehrers, denn das scheint ihm das geringste Übel zu sein.

»Ich dachte, da kann nicht allzu viel passieren, wenn ich den erschießen wollte. Ich hätte ihn ja nicht erschossen, selbst wenn ich eine richtige Pistole gehabt hätte.«

Auch gibt er zu, in Westberlin gewesen zu sein, den Kapitalismus verherrlicht, Westsender gehört und diese Nachrichten in der Bevölkerung verbreitet zu haben. Damit sind die Ermittlungen schnell abgeschlossen und Hartmut wird am 28. September in die Strafvollzugseinrichtung der Alfred-Kästner-Straße verlegt.

Die Presse nutzt den Fall, um die DDR-Ideologie zu propagieren und Ängste vor dem Einfluss der Westsender zu schüren. Einige Male bringen die Wärter Hartmut Zeitungen, die Artikel beinhalten, in denen sein Fall propagandistisch ausgeschlachtet wird. Die Presseberichte sind eine enorme seelische und moralische Belastung für Hartmut.

Artikel aus der Leipziger Volkszeitung vom 14. Oktober 1961

Am 9. November 1961 findet die Gerichtsverhandlung statt. Die Anklageschrift wirft den vier Jugendlichen vor, gemeinsam »die weitere ideologisch-politische Festigung der Arbeiter- und Bauern-Macht und die innere Sicherheit der DDR sowie das Leben der Bürger gefährdet zu haben« und »zum Sprachrohr der Feinde des Staates geworden zu sein«. Studentenklassen wohnen dem großen Prozess bei.

Am nächsten Tag fällt der Richter das Urteil: Hartmut wird wegen fortgesetzter staatsgefährdender Propaganda und Hetze nach Paragraf 19 des Straf­ergänzungs­gesetzes und wegen Verbrechen gemäß Paragraf 2 der Verordnung über die Bestrafung von illegalem Waffenbesitz und Waffenverlust zu insgesamt drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Auch seine drei Freunde erhalten mehr­jährige Haft­strafen.

Die ersten zehn Monate seiner Gefängnisstrafe sitzt Hartmut in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Waldheim ab. Die Einrichtung liegt etwa 30 Kilometer nördlich von Chemnitz. Im Jahre 1716 unter August dem Starken eröffnet, gilt sie als eines der ältesten Gefängnisse in Europa. Das Gebäude wird seit dem nationalsozialistischen Regime vor allem zur Inhaftierung politisch Verurteilter genutzt. 1950 finden hier die sogenannten Waldheimer Prozesse gegen mut­maß­liche NS-Verbrecher statt, bei denen 3385 Schnellverfahren durchgeführt werden, die zum Teil in Todesstrafen münden. Heute wird die Einrichtung noch immer als JVA des Freistaates Sachsen genutzt.

Hartmut teilt sich in Waldheim mit drei Mann eine Zelle sowie den Kübel für die Notdurft. Die Verpflegung ist karg und mangelhaft. Die Häftlinge werden als Dreher für die Produktion des VEB Union Gera angelernt. Hartmut erkrankt und kann die Norm nicht erfüllen. Sein Körper kommt nicht mit der Umstellung klar, wochenlang nur zu sitzen, nachdem er vor seiner Verhaftung nahezu täglich Radrennen gefahren ist.

Im Oktober 1962 verlegt man Hartmut in das MfS-Haftarbeitslager Lübben, wo er für die Produktion von Munition eingesetzt wird. Im Gegensatz zum Waldheimer Gefängnis haben die Wachhabenden in Lübben eine humanere Umgangsweise mit den Gefangenen.

»Für die Volkspolizei waren wir jedoch Staatsfeinde bis zum letzten Tag. Und so behandelten sie uns auch.«

In Lübben stellt der Betrieb das Essen, es erweist sich als schmack­haft und reichhaltig. Nach vier Monaten wird das Arbeits­kommando jedoch wieder eingestellt. Für die Männer gibt es einen dreiwöchigen Aufenthalt in den Kellerräumen der Straf­voll­zugs­anstalt Cottbus, dann geht es am 26. Februar 1963 nach Bautzen.

Das sächsische Bautzen beherbergt zwei Gefängnisse. Das Untersuchungsgefängnis, Bautzen II genannt, wird vom MfS kontrolliert und ist ein Hochsicherheitstrakt für Staatsverbrecher. Hartmut wird in Bautzen I inhaftiert, dem »Gelben Elend«. Das Gebäude mit der gelben Klinkerfassade ist zwischen Juni 1945 und Februar 1950 das Speziallager Nr. 4 der Abteilung Speziallager des NKWD der UdSSR in Deutschland. Ab dem 15. Februar 1950 untersteht Bautzen I dem Innenministerium der DDR und dient der Inhaftierung mehrfach Vorbestrafter und zu Langzeithaft Verurteilter.

In Bautzen kommt Hartmut nicht in einer Zelle, sondern einem großen Schlafsaal gemeinsam mit etwa 60 Mann unter. Jeder Häftling besitzt einen eigenen Schrank, es gibt eine Wasch­gelegen­heit sowie abgetrennte Toilettenräume. Die Haftarbeit erfolgt für den VEB Robur-Werke, ein Nutz­fahrzeug­hersteller aus Zittau. Im Dreischicht­system muss Hartmut Rundschleifarbeiten durch­führen. Mit dem Geld, das er bei dieser Tätigkeit verdient, kauft er sich Schweineschmalz und Zucker, denn in Bautzen ist die Verpflegung erneut minderwertig, und Hartmut ernährt sich vorwiegend von Brot.

Seine Mutter stellt mehrfach Anträge auf eine vorzeitige Entlassung Hartmuts aus dem Strafvollzug, die jedoch abschlägig beantwortet werden. Dann wird im Mai 1964 Hartmuts Haftstrafe überraschend zur Bewährung ausgesetzt. Am 20. Mai 1964 darf er die JVA Bautzen verlassen. Ein Vierteljahr Haft bleibt ihm somit erspart, allerdings ist er nun gezwungen, sich noch zwei Jahre lang monatlich beim Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei zu melden.

Hartmut arbeitet wieder als Schlosser beim Nachfolger des Betriebes, in dem er seine Ausbildung absolviert hat. Sein Verhalten wird monatlich von einem Beamten durch Befragung von Nach­barn und Kollegen kontrolliert. Aufgrund einer allgemeinen Amnestie für politisch Verurteilte wird Hartmuts Bewährungsstrafe im September 1964 jedoch aufgehoben.

Es fällt ihm schwer, sich in den Alltag einzufinden. Keiner seiner Freunde und Bekannten spricht ihn auf seine jüngste Vergangen­heit an, obwohl sie die Zeitungsartikel gelesen haben, die nach der Verhaftung erschienen sind. Hartmut widmet seine ganze Kraft dem Radsporttraining. Mit körperlicher Aktivität versucht er, sich von seinem angeschlagenen Gemütszustand abzulenken.

»Ich trainierte oftmals wochenlang richtig scharf, war relativ gut beisammen, und dann kamen Phasen, wo ich zwei, drei Wochen lang nur aus dem Fenster starrte.«

Um sich beruflich weiterzubilden, beginnt Hartmut 1966 einen Vorbereitungs­lehrgang zur Aufnahme einer Meisterausbildung. Doch die Handwerks­kammer teilt ihm mit, dass er angesichts seiner Vorstrafe keine Chance auf den Erwerb dieses Berufsabschlusses habe. Es wird ihm gegenüber sogar geäußert, man hätte kein Problem damit, wäre er aufgrund eines Sittlichkeitsdelikts inhaftiert gewesen – Staatsfeinde hingegen würden bei ihnen keine Handwerksmeister werden. Eine Aussage, die ihm jeglichen Mut nimmt, beruflich etwas erreichen zu wollen.

Im Mai 1967 heiratet Hartmut und wechselt die Arbeitsstelle. Die Kaderleiterin beim VEB Stadtreinigung Leipzig vernichtet seinen alten Personalbogen, woraufhin er nicht länger als Vorbestrafter geführt ist. Am 8. August 1968 wird Hartmuts erster Sohn geboren, 1973 folgt der zweite. Hartmut gibt den Radsport nach und nach auf.

1974 erhält er einen Einberufungsbefehl der Nationalen Volksarmee NVA. Zweimal ist er während der Haft gemustert und stets für »unwürdig, das Ehrenkleid der NVA zu tragen«, erklärt worden. Einen Grundwehrdienst hat er deshalb nie ableisten müssen, doch nun fordert man ihn zu einem halbjährigen Reservedienst an.

Hartmut wechselt noch im Vorhinein den Betrieb, denn mit dem höheren Gehalt beim VEB Brühlpelz Leipzig ist seine Familie trotz der 20-prozentigen Abzüge während seiner Abwesenheit versorgt. Der Dienst als Reservist ist kräftezehrend. Hartmut wird für tagelange Wachdienste, Schachtarbeiten und zum Bombenstapeln eingesetzt.

Nach seiner Rückkehr arbeitet er noch bis zum Juli 1976 beim VEB Brühlpelz, danach wechselt er seine Anstellung häufig. Seine Haftvergangenheit rückt somit immer mehr in die Ferne. Ab 1977 baut Hartmut in Fuchshain ein Haus für die Familie. Die Material­beschaffung ist schwierig, und so dauert es vier Jahre bis zum Einzug.

Ab 1984 arbeitet Hartmut als Schlosser in Heimarbeit, da er die ständige Angst davor, in den sozialistischen Betrieben wieder mit der Staatsmacht in Konflikt zu kommen, nicht länger aushält.

Die Geschehnisse des Herbstes 1989 nimmt er erst relativ spät bewusst wahr, als er am 9. Oktober seinen Sohn zum Hauptbahnhof bringt und mitten in die Menschenmassen der Demonstranten gerät.

In den zehn Jahren nach der Wiedervereinigung arbeitet er als Leiharbeiter in Remscheider Betrieben. Nach seiner Rückkehr ist er arbeitslos, die Ehe geht schließlich in die Brüche.

Hartmut lebt bis heute in Trennung, ist aber nicht geschieden. Seine Frau bewohnt das Haus in Fuchshain. Die Söhne wissen erst seit 1990 von Hartmuts politischer Haftstrafe, denn er wollte sie unbelastet aufwachsen lassen.

Hartmut arbeitet seine Vergangenheit auf, erhält Einsicht in die Stasi-Akte und beantragt die Rehabilitation bei den bundes­deutschen Justiz­behörden. Er wird zuerst strafrechtlich und schließlich beruflich rehabilitiert und erhält soziale Ausgleichs­leistungen. Hartmut schließt sich dem Bund der stalinistisch Verfolgten an und ist seit 2004 Mitglied der Vereinigung der Opfer des Stalinismus e. V (VOS). Als aktives Mitglied wohnt er vielen Veranstaltungen der VOS bei und engagiert sich als Zeitzeuge auch für Ausstellungsprojekte, Dokumentationen und Fernseh­reportagen, wie beispielsweise über die JVA Waldheim. Dass ihn die Haftzeit verändert hat und sein Verhalten bis heute beeinflusst, darüber redet Hartmut ganz offen.

Er lebt heute in einer kleinen Wohnung in Liebertwolkwitz. Sein mittlerweile 56 Jahre altes Fahrrad hat er wieder hervorgeholt. 14 Jahre ist er damit nicht mehr gefahren, doch nun helfen ihm die regelmäßige Bewegung und die Freude, die ihm das Radfahren nach wie vor bereitet, fit zu bleiben und seine Krebserkrankung in Schach zu halten.