Siegfried Berneis

Siegfried Berneis

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»Meine Würde wurde tausendfach mit Füßen getreten.«

Siegfried Berneis kommt am 23. Mai 1942 als jüngstes von vier Geschwistern in Kuhnau im Kreis Breslau zur Welt. Der Vater ist zum Kriegsdienst eingezogen. Als die Kampf­handlungen des Zweiten Weltkriegs Schlesien erreichen, flieht die Familie vor der Roten Armee bis nach Bad Kudowa.

Nach kurzer Zeit können sie zurückkehren, doch der Hausstand ist von sowjetischen Soldaten zerstört worden. Im August 1945 regelt das Potsdamer Abkommen, dass das oberschlesische Gebiet unter polnische Verwaltung fällt. Dadurch wird die Familie ein zweites Mal aus der Heimat vertrieben.

In Hoyerswerda verteilt man die Flüchtlingstrecks auf ganz Deutsch­land. Siegfrieds Familie gelangt in den Kreis Meißen, getrennt von den restlichen Verwandten, die nach Gotha, Leipzig und Hessen ziehen.

Die Bevölkerung ist verpflichtet, Flüchtlinge bei sich aufzunehmen. Siegfried kommt mit seiner Mutter und zwei Schwestern – die älteste ist in Schlesien verstorben – bei Klein­bauern in der Ortschaft Abend unter. Später ziehen sie ins nahe gelegene Stahna.

Familie Berneis fühlt sich von der sächsischen Bevölkerung alles andere als willkommen geheißen. Die karge Unterkunft der Flüchtlinge ist mit einem Stall vergleichbar, in dem bei Einbruch des Winters der Reif an den Wänden wächst und nachts die Bettdecke vor dem Mund gefriert. Nach der langen Flucht aus Schlesien ist die Familie nahezu mittel­los.

»Und die Bauern schämten sich nicht, den Flüchtlingen noch das letzte Bettzeug für ein paar Pfund Kartoffeln wegzunehmen.«

Ab 1948 besucht Siegfried die Grundschule. In seiner Zuckertüte stecken Kartoffeln und ein Brot. Die vier Kilometer Schulweg muss er stets laufen. In den ersten Jahren besitzt er nur Holzschuhe für den Winter, und im Sommer geht er barfuß, damit das Schuhwerk geschont wird.

Die Familie war schon in Schlesien nicht wohlhabend, nun sind sie noch eine Stufe tiefer gesunken. Aufgrund seiner Unterernährung wird Siegfried einige Wochen in ein Erho­lungsheim geschickt, wo er sich mit Weißbrot und Marmelade satt essen darf.

Nach seiner Rückkehr geht Siegfried Kartoffeln stoppeln und Ähren lesen, um die Mutter bei der Versorgung der Familie zu unter­stützen. Zusätzlich hilft er in den achtwöchigen Sommerferien in der Landwirtschaft aus. In dieser Zeit wird er von der Bauern­familie, bei der er arbeitet, verpflegt. Am Ende erhält er 20 DM, das erste selbst verdiente Geld. Er überreicht es seiner Mutter.

Siegfrieds Vater kehrt erst 1948 zurück und kann aufgrund seiner schweren Kriegsver­letzungen nicht mehr arbeiten.

Im Zuge der Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone SBZ werden Großgrund­besitzer mit mehr als 100 Hektar Fläche sowie Kriegsverbrecher und aktive Nationalso­zialisten ent­schä­di­gungs­­los enteignet. Mit der Aufteilung der Agrargrundstücke schafft man bis Anfang 1949 über 209 000 Neubauernstellen.

Die SED will diese privaten Betriebe ab 1952 in Landwirtschaft­lichen Pro­­duk­tions­­ge­nossen­­schaften (LPG) zusammenschließen. Unerfahrene Neubauern mit wenig technischer Ausstattung treten der LPG schnell bei, die flächen­deckende Kollektivierung erfolgt jedoch nur schleppend. Ab 1960 wird deshalb zunehmend ökonomischer und politischer Druck ausgeübt.

Im Mai 1960 sind nur noch etwa sieben Prozent der Nutzfläche in privater Hand. Ab 1968 erfolgen eine Industrialisierung des Agrarsektors sowie die Trennung von Tierzucht und Pflanzen­produktion. Die Einführung von geregelten Arbeits- und Urlaubszeiten und die Einbeziehung der Frauen in die Produktion führen zu einer gewissen Akzeptanz der LPG. Ein Austritt ist politisch unerwünscht.

1956 beendet Siegfried die Schule und beginnt eine land­wirt­schaft­liche Ausbildung. Die Familie ist seit Generationen mit Ackerbau und Viehzucht verbunden, und so liegt diese Berufswahl nahe. Mit Abschluss der Lehre 1958 tritt Siegfried in die LPG ein. Die Lebens­umstände der Familie verbessern sich, sie können sich nun Hühner und ein Schwein halten.

Mit dem Erwachsenwerden wird Siegfried auch bewusst, wie abgeschnitten er von der Welt ist. Um ins Dorfkino zu gehen, muss er vier Kilometer mit dem Fahrrad fahren. Anderen Zugang zu Medien oder Kultur hat er sonst kaum, denn die Familie bezieht keine Zeitung, hat kein Radio, kein Fernsehen.

»Ich war total desinformiert. Also fand jedes Argument Nährboden, das wir auf Seiten der Ostzone lernten.«

So setzt er sich ein, wenn in seiner Ortschaft für Verbesserungen gesorgt wird. Im Rahmen des Nationalen Aufbauwerks (NAW) hilft er beispielsweise beim Bau von Fuß­wegen oder einer Konsum-Verkaufsstelle mit. Jedes Projekt, an dem er mitwirkt, bedeutet für ihn auch eine Aufwertung seiner eigenen Lebensumstände. Die Ideologie der SED, welche unter anderem dazu auffordert, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen abzuschaffen, trifft bei Siegfried auf offene Ohren.

Schulkameraden, die freiwillig bei der Nationalen Volksarmee NVA dienen, schlagen Siegfried vor, zur Grenzpolizei zu gehen. Da ihn neue Aufgaben und ein höheres Ein­kommen locken, setzt er die Idee im Mai 1960 in die Tat um. Zudem tritt er in die SED ein.

Die Deutsche Grenzpolizei (DGP) ist eine bewaffnete und militärisch organisierte Forma­tion, die 1946 in der SBZ gegründet wird. Sie übernimmt am 1. Dezember 1955 die Auf­gabe der Außensicherung der DDR-Grenzen von den bisher zuständigen sowjetischen Truppen. Nach dem Mauerbau werden die Einheiten der DGP in militärische Verbände mit der Bezeichnung »Grenztruppen der NVA« umgewandelt. Um diese von Abrüstungs­verhandlungen auszuschließen, erfolgt die Umbenennung in »Grenztruppen der DDR«.

Siegfried wird in Waltersdorf stationiert. Nach seiner drei­monatigen Grund­ausbildung kommt er an einem Kontroll­passier­punkt (KPP) am »Ring um Berlin« zum Einsatz. Der Ring um Berlin schließt alle vier Besatzungssektoren ein. Hier kontrolliert die Deutsche Grenzpolizei die Migration zwischen dem Ost- und dem Westteil Berlins sowie zwischen Ost-Berlin und der DDR.

Siegfrieds Leben ändert sich nun grundlegend. Er hat Zugang zu Medien, Musik, hört sogar Westsender. In den zahlreichen Stunden, die er mit wechselnden Kameraden Posten zu stehen hat, unterhält er sich viel. Er findet eine Freundin und verlobt sich.

Doch im selben Maße, wie sich sein Horizont erweitert, registriert Siegfried auch immer mehr Gegebenheiten, an denen er sich stößt: Angesichts des zunehmenden Ausbaus der inner­deutschen Grenze und der wachsenden politischen Bevormundung seitens der SED verlassen immer mehr Menschen die DDR. Auch der wirt­schaft­liche Aufstieg der Bundes­republik in den 1950er- und 1960er-Jahren ist ein Anreiz zur Abwanderung.

Die Hälfte der Flüchtlinge ist unter 25 Jahre alt, und der ent­stehende Mangel an Arbeits­kräften setzt der Wirtschaft in der DDR schwer zu. Viele Ost-Berliner arbeiten in den West­sektoren Berlins und erhalten einen Teil ihres Einkommens in D-Mark-West ausge­zahlt. Im Unterschied zu ihren Mitbürgern in der DDR können sie dadurch Urlaubsreisen finanzieren oder sich hochwertige »Westwaren« anschaffen. Die Zahl dieser »Grenz­gänger« erreicht mit etwa 50 000 im Frühjahr 1961 einen Höchststand.

Siegfried zweifelt, ob so viele Menschen mit ihren Bedürfnissen im Unrecht sein können. Auch stört er sich daran, jedes Mal eine Genehmi­gung für das Passieren des Berliner Ostteils beantragen zu müssen, um seine Verlobte zu besuchen oder in den Urlaub zu fahren.

Bei den massiven Personenkontrollen erlebt er mit, wie ein Vater von drei Kindern verhört und unter Druck gesetzt wird, weil er ein paar Bananen in der Tasche hat.

»Die Kleinen fängt man und die Großen lässt man laufen. Da bin ich menschlich in Konflikte gekommen.«

Siegfried ist bewusst, dass die Dienst­ausübung jedes Grenz­polizisten regelmäßig ver­deckt kontrolliert wird. Auch untereinander reden die Männer darüber, wer seine Arbeit gewissenhaft macht und wer etwas durchgehen lässt.

Dann naht der 13. August 1961, der Tag des Mauerbaus. Siegfried und seine Kameraden werden nicht darüber informiert, welchem Zweck die Betonteile dienen, die sie aus Lkws ausladen sollen. Sie sind angewiesen, Befehle ohne Nachfrage auszuführen.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Aufteilung Deutsch­lands in vier Besatz­ungszonen werden Zonengrenzen gezogen, die teilweise nur durch Farbmarkierungen an Bäumen gekennzeichnet sind. Um die Zonengrenzen zu überschreiten, sind Genehmi­gungen erforderlich.

Im Jahr 1952 beginnt die DDR dann, die deutsch-deutsche Grenze mit Zäunen, Wachpos­ten und Alarmvorrichtungen zu sichern, und richtet eine fünf Kilometer breite Sperrzone ein. Teilweise finden Umsiedlungen von Bewohnern des Grenzgebietes statt. In Berlin werden auf vielen in die Westsektoren führenden Straßen und in öffentlichen Verkehrs­mitteln Personenkontrollen durchgeführt, um Fluchtverdächtige und Schmuggler aufzu­greifen. Eine vollständige Kontrolle der kilometerlangen Stadtgrenze ist jedoch unmöglich.

Nachdem sich die sowjetische Führung lange gegen ein solches Vorhaben verwahrt hat, fällt am 3. August 1961 bei einer Besprechung zwischen Nikita S. Chruschtschow und Walter Ulbricht die Entscheidung zur Schließung der Berliner Sektoren­grenze. Der 13. August wird zum Symbol des Mauerbaus, die eigentlichen Bauarbeiten dauern mehrere Tage. Die Berliner Mauer ergänzt die 1378 Kilometer lange innerdeutsche Grenze und soll nun den Flüchtlingsstrom aus der DDR in die Bundesrepublik stoppen.

Nur wenige Tage später, am 26. August 1961, holt man Siegfried nachts von seinem Posten weg und verhaftet ihn. Der Kompanie­chef stellt ihn zur Rede.

Da sich in Siegfried eine große Unzufriedenheit mit dem sozia­listischen System breit gemacht hat, hält er sich gegenüber seinem Vernehmer nicht zurück. Er stellt alles infrage: die Wahlen in der DDR, die Notwendigkeit des Mauerbaus, die Berlin-Genehmi­gung und die Methoden der LPG.

»Ich dachte, jetzt ist die Gelegenheit, hier kannst du Luft ablassen und deine Meinung sagen. Ich hatte den Kanal voll.«

Doch was die Vernehmer ihm dann vorwerfen, überrascht Siegfried. Er wird der geplan­ten Fahnenflucht bezichtigt. Zehn Tage hält man ihn in einer Arrestzelle der Grenz­kompanie Waltersdorf fest. Dann verbringt man ihn nach Königs Wusterhausen in die Kreis-Untersuchungshaftanstalt.

Das Gefängnis ist überbelegt. Siegfried wird mit neun Männern in eine Drei-Mann-Zelle gesteckt. Für alle soll ein Kübel zum Verrichten der Notdurft reichen. Mehrere Monate ist er hier inhaftiert, immer wieder wird er von Beamten des Ministeriums für Staats­sicherheit MfS vernommen. Das Kreisgericht in Königs Wusterhausen erweist sich schließlich als nicht zuständig für das Strafmaß, das Siegfried zustehen soll.

Man fährt ihn nach Potsdam in das Stasi-Untersuchungsgefängnis. Ein Vierteljahr muss er dort auf seine Ver­urtei­lung warten, während erneut unangenehme Verhöre stattfinden. Aus der SED ist Siegfried mittlerweile ausgeschlossen, denn die DDR stellt keine Genossen vor Gericht.

Siegfried rechnet mit einer simplen Disziplinarstrafe, da er sich ja keines Verbrechens schuldig gemacht, sondern lediglich seine Meinung geäußert hat. Eine halbe Stunde vor der Verhandlung wird Siegfried die Anklageschrift vorgelegt. Seinen Pflicht­verteidiger lernt er erst im Warteraum kennen. Der Anwalt rät ihm, alles zuzugeben, damit sich das Strafmaß reduziert.

In Handschellen führt man ihn vor das Bezirksgericht Potsdam. Das Urteil lautet zwei Jahre und drei Monate Zuchthaus nach Paragraf 19 des Strafrechtsergänzungsgesetzes: Staatsgefährdende Propa­ganda und Hetze. Die Zuchthausstrafe gilt als entehrend und hat soziale Konsequenzen, wie etwa bei der späteren Wohnungs- oder Arbeitssuche. Siegfrieds regelmäßige Unterhaltungen mit anderen Grenzern werden bei der Urteils­begründung als zielstrebiger Manipulationsversuch bewertet.

»Ich hatte mich selber in die Scheiße geritten. Ich war so naiv, dass ich meinte, wenn man sich mit diesem oder jenem unterhält, kann das ja nichts Schlechtes sein.«

Die Eltern seiner Verlobten verhört man im Zuge seiner Ver­urtei­lung ebenfalls. Sie werden für seinen Zugang zum Westradio verantwortlich gemacht und auf Bewährung bestraft.

Siegfrieds Strafvollzug soll in Berndshof/Ueckermünde stattfinden, in einer Vorläuferein­richtung des Militärgefängnisses Schwedt. Mit dem Lkw geht es zum Bahnhof Potsdam, wo die weitere Fahrt im sogenannten Grotewohl-Express stattfindet. Mit drei Männern sitzt Siegfried auf engstem Raum, sie tragen weiterhin Handfesseln, obwohl der Waggon verschlossen ist und keine Fenster, sondern nur Lüftungsschlitze besitzt.

Der Transport wird in Cottbus unterbrochen. In der dortigen Strafvollzugsanstalt findet eine menschenunwürdige Untersuchung statt. Alle Gefangenen müssen sich ausziehen. Ein Sanitäter inspiziert jeden Einzelnen mit der Lupe, kontrolliert auch alle Körperöff­nungen und den Schambereich.

»Noch heute empfinde ich diese Behandlung als Demütigung. Man wollte und hat uns gebrochen.«

Nach zwei Tagen im Gefängnis Cottbus setzt sich der Gefangenen­transport in Richtung Berndshof fort, doch schon acht Tage später wird Siegfried ins sächsische Torgau an der Elbe verlegt.

Das Fort Zinna in Torgau wird Anfang des 19. Jahrhunderts unter napoleonischer Herr­schaft als unabhängiges Vorwerk der Festung Torgau errichtet und erfährt seitdem eine fast ausschließliche Nutzung als Gefängnis.

Ab September 1945 richtet die sowjetische Geheimpolizei im Fort Zinna das Speziallager Nr. 8 und später auch das Speziallager Nr. 10 ein. Tausende sind hier inhaftiert und wer­den von diesem Ort aus in das Speziallager Mühlberg oder in sowjetische Arbeits­lager transportiert. Von 1950 bis 1990 dient das Fort Zinna als Straf­vollzugs­anstalt der Deut­schen Volkspolizei.

Siegfried kommt zusammen mit einem älteren Mann in eine Zelle. Der Häftling wird ihm im Laufe der Zeit zum väterlichen Freund. Er schult Siegfried im Exportwesen und im Allgemeinwissen und sorgt dafür, dass beide Arbeitskommandos zugeteilt werden.

Siegfried führt Reinigungsarbeiten durch, sortiert Briefpapier und fertigt Betonteile im Flachgas­kombinat Torgau. Die Arbeit ist eine Erleichterung innerhalb der Gefangen­schaft, denn sie bedeutet, für eine gewisse Zeit die Zelle verlassen zu können.

Die Eltern wissen seit einem Dreivierteljahr nichts über Siegfrieds Verbleib. Einmal im Monat darf er nun einen Brief schreiben. Pro Quartal hat jeder Gefangene zudem eine halbe Stunde Sprech­erlaubnis, Siegfrieds Schwester besucht ihn in der Strafvollzugs­anstalt Torgau.

Er darf ihr nicht verraten, was der Grund für seine Haftstrafe ist. Dennoch teilt er ihr mit, dass er niemanden erschossen oder bestohlen habe, sondern wegen seiner politi­schen Überzeugung verurteilt wurde, und riskiert damit den Abbruch des Gesprächs.

Der Haftalltag ist von Kontrollen geprägt. Erhält Siegfried ein Paket, so wird dessen In­halt vor seinen Augen geöffnet und auseinander­genommen, um mögliche einge­schmug­gelte Gegen­stände zu finden. Manchmal wird ihm danach das Überbleibsel mit der Aus­sage, er sei hier ja ausreichend versorgt, nicht einmal ausgehändigt.

Jeden Tag gibt es eine halbe Stunde Freigang auf dem Hof, in dieser Zeit werden meis­tens die Zellen gefilzt. Auch nach den Arbeits­einsätzen finden immer wieder Durchsuch­ungen der Inhaftierten statt.

Die hygienischen Verhältnisse des Gefängnisses, besonders im Krankentrakt und in den Waschräumen, sind miserabel. Siegfried sieht es jedoch als Verbesserung an, dass in den Zellen nun Toiletten anstelle der aus der Untersuchungs­haft bekannten Kübel stehen.

Am 10. August 1962, etwa ein Jahr nach seiner Verhaftung, wird Siegfried aufgrund einer allgemeinen Amnestie entlassen. Nun muss er wieder zurück in das kleine sächsische Dorf und arbeitet in der LPG. In der Ortschaft ist seine Inhaftierung allen bekannt, aller­dings hält man versuchte Fahnenflucht für den Grund.

Nach der Zeit im Gefängnis fällt es ihm schwer, wieder Fuß zu fassen. Er leidet unter Ängsten und massiven Schlafstörungen. Zu seinem eigenen Schutz bindet die Mutter nachts alle Fenster zu. Die Verlobung mit seiner Freundin in Berlin ist gelöst, was Sieg­fried stark mitnimmt.

Verurteilt aufgrund von Zeugenaussagen und auch im Strafvollzug stets von Zellen­spitzeln umgeben, hegt er die Absicht, niemandem mehr zu vertrauen. Tatsächlich wird er auch jetzt von einem Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) des MfS überwacht, der regelmäßig Berichte über sein Verhalten schreiben muss.

Nach dem Ende der zweijährigen Bewährungszeit wechselt er die Arbeit und geht nach Dresden zum Handelstransport. Dort lernt er seine spätere Frau kennen. Sehr offen setzt er sie über seine Vergangenheit in Kenntnis und trifft auf Verständnis, auch seitens der künftigen Schwiegereltern. 1963 heiraten sie und bekommen drei Kinder.

Entgegen seiner Überzeugung engagiert sich Siegfried im »Sozialistischen Kollektiv« seines Betriebes, denn es ist zur damaligen Zeit der einzige Weg, zu einer Genossen­schaftswohnung zu kommen.

Siegfrieds Ehe wird geschieden. 1988 zieht er nach Leipzig, wo er später ein zweites Mal heiraten wird. Beim Handelstransport hat er mittlerweile eine leitende Stellung inne und der Vermerk über seine Vorstrafe ist aus der Personalakte entfernt.

Seit dem 4. September 1989 gehen die Menschen in Leipzig jeden Montag auf die Straße, um gegen die politischen Verhältnisse zu protestieren, am Ende werden sie die Fried­liche Revolution erreicht haben. Siegfried ringt sehr lange mit der Entscheidung, ob er sich den Montagsdemonstrationen anschließen soll oder nicht, doch sein Wille dabei zu sein siegt schließlich über die Angst vor den möglichen Konsequenzen, die er als poli­tisch Vorbestrafter zu erwarten hätte.

»Es war für mich ein Wagnis, dort hinzugehen und mich einzureihen.«

Nach der deutschen Wiedervereinigung wird der Handelstransport aufgelöst. Siegfrieds ehemaliger sozialistischer Leiter gründet eine neue Spedition und stellt ihn ein. Doch die Überstunden, die Siegfried laut Arbeits­vertrag zu leisten hat, nehmen überhand. Also wechselt er zu einer Sicherheitsfirma, bei der er bis zu seiner Rente arbeitet.

Siegfried beginnt, sich mit seiner Vergangenheit zu beschäftigen. Als er Einsicht in seine Stasi-Akte nimmt, erhält er Dokumente im Zusammenhang mit seiner Ver­urtei­­lung und kann die Vorgänge von damals nun nachvollziehen.

Seine Rehabilitierung erfolgt am 23. Juli 1992. Er bezieht eine Opferrente und kritisiert, dass die Verabschiedung dieses Gesetzes so lange gedauert hat, obwohl schon im Einigungsvertrag beschlossen.

»Ich bin enttäuscht von der Handhabung der Bundesregierung mit unserem Zustand. Jahrelang hat man uns hingehalten und die biologische Regelung walten lassen.«

Bis zur Veröffentlichung seiner Lebensgeschichte in der VOS-Publikation »›Ich sah die Mühlen Spuren mahlen, den Menschen tief ins Angesicht.‹ – Erinnerungen aus Zwangs­arbeit und politischer Haft« hat Siegfried Berneis nicht mit seinen Töchtern darüber gesprochen, was ihm 1961 widerfuhr.

Nach dem Erscheinen des Buches hat er seinen Töchtern je ein Exemplar ausgehändigt, und nach dem Lesen der biografischen Darstellung und klärenden Gesprächen ist ihre Meinung zur Vergangenheit des Vaters durchaus positiv ausgefallen.

Die Haft hatte vor seiner Ehe und der Geburt seiner Kinder stattgefunden, aber Siegfried ist vor allem wichtig gewesen, seine Töchter unbeeinflusst ihren eigenen Weg gehen zu lassen und gegenüber der Gesellschaft, in der sie aufgewachsen sind, nicht in Konflikte zu bringen. Heute ist er sehr stolz darauf, dass sie Persönlichkeiten geworden sind, die fest im Leben stehen und ihren Platz gefunden haben.

»Meine Würde wurde tausendfach mit Füßen getreten.«

Siegfried Berneis kommt am 23. Mai 1942 als jüngstes von vier Geschwistern in Kuhnau im Kreis Breslau zur Welt. Der Vater ist zum Kriegsdienst eingezogen. Als die Kampf­handlungen des Zweiten Weltkriegs Schlesien erreichen, flieht die Familie vor der Roten Armee bis nach Bad Kudowa.

Nach kurzer Zeit können sie zurückkehren, doch der Hausstand ist von sowjetischen Soldaten zerstört worden. Im August 1945 regelt das Potsdamer Abkommen, dass das oberschlesische Gebiet unter polnische Verwaltung fällt. Dadurch wird die Familie ein zweites Mal aus der Heimat vertrieben.

In Hoyerswerda verteilt man die Flüchtlingstrecks auf ganz Deutsch­land. Siegfrieds Familie gelangt in den Kreis Meißen, getrennt von den restlichen Verwandten, die nach Gotha, Leipzig und Hessen ziehen.

Die Bevölkerung ist verpflichtet, Flüchtlinge bei sich aufzunehmen. Siegfried kommt mit seiner Mutter und zwei Schwestern – die älteste ist in Schlesien verstorben – bei Klein­bauern in der Ortschaft Abend unter. Später ziehen sie ins nahe gelegene Stahna.

Familie Berneis fühlt sich von der sächsischen Bevölkerung alles andere als willkommen geheißen. Die karge Unterkunft der Flüchtlinge ist mit einem Stall vergleichbar, in dem bei Einbruch des Winters der Reif an den Wänden wächst und nachts die Bettdecke vor dem Mund gefriert. Nach der langen Flucht aus Schlesien ist die Familie nahezu mittel­los.

»Und die Bauern schämten sich nicht, den Flüchtlingen noch das letzte Bettzeug für ein paar Pfund Kartoffeln wegzunehmen.«

Ab 1948 besucht Siegfried die Grundschule. In seiner Zuckertüte stecken Kartoffeln und ein Brot. Die vier Kilometer Schulweg muss er stets laufen. In den ersten Jahren besitzt er nur Holzschuhe für den Winter, und im Sommer geht er barfuß, damit das Schuhwerk geschont wird.

Die Familie war schon in Schlesien nicht wohlhabend, nun sind sie noch eine Stufe tiefer gesunken. Aufgrund seiner Unterernährung wird Siegfried einige Wochen in ein Erho­lungsheim geschickt, wo er sich mit Weißbrot und Marmelade satt essen darf.

Nach seiner Rückkehr geht Siegfried Kartoffeln stoppeln und Ähren lesen, um die Mutter bei der Versorgung der Familie zu unter­stützen. Zusätzlich hilft er in den achtwöchigen Sommerferien in der Landwirtschaft aus. In dieser Zeit wird er von der Bauern­familie, bei der er arbeitet, verpflegt. Am Ende erhält er 20 DM, das erste selbst verdiente Geld. Er überreicht es seiner Mutter.

Siegfrieds Vater kehrt erst 1948 zurück und kann aufgrund seiner schweren Kriegsver­letzungen nicht mehr arbeiten.

Im Zuge der Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone SBZ werden Großgrund­besitzer mit mehr als 100 Hektar Fläche sowie Kriegsverbrecher und aktive Nationalso­zialisten ent­schä­di­gungs­­los enteignet. Mit der Aufteilung der Agrargrundstücke schafft man bis Anfang 1949 über 209 000 Neubauernstellen.

Die SED will diese privaten Betriebe ab 1952 in Landwirtschaft­lichen Pro­­duk­tions­­ge­nossen­­schaften (LPG) zusammenschließen. Unerfahrene Neubauern mit wenig technischer Ausstattung treten der LPG schnell bei, die flächen­deckende Kollektivierung erfolgt jedoch nur schleppend. Ab 1960 wird deshalb zunehmend ökonomischer und politischer Druck ausgeübt.

Im Mai 1960 sind nur noch etwa sieben Prozent der Nutzfläche in privater Hand. Ab 1968 erfolgen eine Industrialisierung des Agrarsektors sowie die Trennung von Tierzucht und Pflanzen­produktion. Die Einführung von geregelten Arbeits- und Urlaubszeiten und die Einbeziehung der Frauen in die Produktion führen zu einer gewissen Akzeptanz der LPG. Ein Austritt ist politisch unerwünscht.

1956 beendet Siegfried die Schule und beginnt eine land­wirt­schaft­liche Ausbildung. Die Familie ist seit Generationen mit Ackerbau und Viehzucht verbunden, und so liegt diese Berufswahl nahe. Mit Abschluss der Lehre 1958 tritt Siegfried in die LPG ein. Die Lebens­umstände der Familie verbessern sich, sie können sich nun Hühner und ein Schwein halten.

Mit dem Erwachsenwerden wird Siegfried auch bewusst, wie abgeschnitten er von der Welt ist. Um ins Dorfkino zu gehen, muss er vier Kilometer mit dem Fahrrad fahren. Anderen Zugang zu Medien oder Kultur hat er sonst kaum, denn die Familie bezieht keine Zeitung, hat kein Radio, kein Fernsehen.

»Ich war total desinformiert. Also fand jedes Argument Nährboden, das wir auf Seiten der Ostzone lernten.«

So setzt er sich ein, wenn in seiner Ortschaft für Verbesserungen gesorgt wird. Im Rahmen des Nationalen Aufbauwerks (NAW) hilft er beispielsweise beim Bau von Fuß­wegen oder einer Konsum-Verkaufsstelle mit. Jedes Projekt, an dem er mitwirkt, bedeutet für ihn auch eine Aufwertung seiner eigenen Lebensumstände. Die Ideologie der SED, welche unter anderem dazu auffordert, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen abzuschaffen, trifft bei Siegfried auf offene Ohren.

Schulkameraden, die freiwillig bei der Nationalen Volksarmee NVA dienen, schlagen Siegfried vor, zur Grenzpolizei zu gehen. Da ihn neue Aufgaben und ein höheres Ein­kommen locken, setzt er die Idee im Mai 1960 in die Tat um. Zudem tritt er in die SED ein.

Die Deutsche Grenzpolizei (DGP) ist eine bewaffnete und militärisch organisierte Forma­tion, die 1946 in der SBZ gegründet wird. Sie übernimmt am 1. Dezember 1955 die Auf­gabe der Außensicherung der DDR-Grenzen von den bisher zuständigen sowjetischen Truppen. Nach dem Mauerbau werden die Einheiten der DGP in militärische Verbände mit der Bezeichnung »Grenztruppen der NVA« umgewandelt. Um diese von Abrüstungs­verhandlungen auszuschließen, erfolgt die Umbenennung in »Grenztruppen der DDR«.

Siegfried wird in Waltersdorf stationiert. Nach seiner drei­monatigen Grund­ausbildung kommt er an einem Kontroll­passier­punkt (KPP) am »Ring um Berlin« zum Einsatz. Der Ring um Berlin schließt alle vier Besatzungssektoren ein. Hier kontrolliert die Deutsche Grenzpolizei die Migration zwischen dem Ost- und dem Westteil Berlins sowie zwischen Ost-Berlin und der DDR.

Siegfrieds Leben ändert sich nun grundlegend. Er hat Zugang zu Medien, Musik, hört sogar Westsender. In den zahlreichen Stunden, die er mit wechselnden Kameraden Posten zu stehen hat, unterhält er sich viel. Er findet eine Freundin und verlobt sich.

Doch im selben Maße, wie sich sein Horizont erweitert, registriert Siegfried auch immer mehr Gegebenheiten, an denen er sich stößt: Angesichts des zunehmenden Ausbaus der inner­deutschen Grenze und der wachsenden politischen Bevormundung seitens der SED verlassen immer mehr Menschen die DDR. Auch der wirt­schaft­liche Aufstieg der Bundes­republik in den 1950er- und 1960er-Jahren ist ein Anreiz zur Abwanderung.

Die Hälfte der Flüchtlinge ist unter 25 Jahre alt, und der ent­stehende Mangel an Arbeits­kräften setzt der Wirtschaft in der DDR schwer zu. Viele Ost-Berliner arbeiten in den West­sektoren Berlins und erhalten einen Teil ihres Einkommens in D-Mark-West ausge­zahlt. Im Unterschied zu ihren Mitbürgern in der DDR können sie dadurch Urlaubsreisen finanzieren oder sich hochwertige »Westwaren« anschaffen. Die Zahl dieser »Grenz­gänger« erreicht mit etwa 50 000 im Frühjahr 1961 einen Höchststand.

Siegfried zweifelt, ob so viele Menschen mit ihren Bedürfnissen im Unrecht sein können. Auch stört er sich daran, jedes Mal eine Genehmi­gung für das Passieren des Berliner Ostteils beantragen zu müssen, um seine Verlobte zu besuchen oder in den Urlaub zu fahren.

Bei den massiven Personenkontrollen erlebt er mit, wie ein Vater von drei Kindern verhört und unter Druck gesetzt wird, weil er ein paar Bananen in der Tasche hat.

»Die Kleinen fängt man und die Großen lässt man laufen. Da bin ich menschlich in Konflikte gekommen.«

Siegfried ist bewusst, dass die Dienst­ausübung jedes Grenz­polizisten regelmäßig ver­deckt kontrolliert wird. Auch untereinander reden die Männer darüber, wer seine Arbeit gewissenhaft macht und wer etwas durchgehen lässt.

Dann naht der 13. August 1961, der Tag des Mauerbaus. Siegfried und seine Kameraden werden nicht darüber informiert, welchem Zweck die Betonteile dienen, die sie aus Lkws ausladen sollen. Sie sind angewiesen, Befehle ohne Nachfrage auszuführen.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Aufteilung Deutsch­lands in vier Besatz­ungszonen werden Zonengrenzen gezogen, die teilweise nur durch Farbmarkierungen an Bäumen gekennzeichnet sind. Um die Zonengrenzen zu überschreiten, sind Genehmi­gungen erforderlich.

Im Jahr 1952 beginnt die DDR dann, die deutsch-deutsche Grenze mit Zäunen, Wachpos­ten und Alarmvorrichtungen zu sichern, und richtet eine fünf Kilometer breite Sperrzone ein. Teilweise finden Umsiedlungen von Bewohnern des Grenzgebietes statt. In Berlin werden auf vielen in die Westsektoren führenden Straßen und in öffentlichen Verkehrs­mitteln Personenkontrollen durchgeführt, um Fluchtverdächtige und Schmuggler aufzu­greifen. Eine vollständige Kontrolle der kilometerlangen Stadtgrenze ist jedoch unmöglich.

Nachdem sich die sowjetische Führung lange gegen ein solches Vorhaben verwahrt hat, fällt am 3. August 1961 bei einer Besprechung zwischen Nikita S. Chruschtschow und Walter Ulbricht die Entscheidung zur Schließung der Berliner Sektoren­grenze. Der 13. August wird zum Symbol des Mauerbaus, die eigentlichen Bauarbeiten dauern mehrere Tage. Die Berliner Mauer ergänzt die 1378 Kilometer lange innerdeutsche Grenze und soll nun den Flüchtlingsstrom aus der DDR in die Bundesrepublik stoppen.

Nur wenige Tage später, am 26. August 1961, holt man Siegfried nachts von seinem Posten weg und verhaftet ihn. Der Kompanie­chef stellt ihn zur Rede.

Da sich in Siegfried eine große Unzufriedenheit mit dem sozia­listischen System breit gemacht hat, hält er sich gegenüber seinem Vernehmer nicht zurück. Er stellt alles infrage: die Wahlen in der DDR, die Notwendigkeit des Mauerbaus, die Berlin-Genehmi­gung und die Methoden der LPG.

»Ich dachte, jetzt ist die Gelegenheit, hier kannst du Luft ablassen und deine Meinung sagen. Ich hatte den Kanal voll.«

Doch was die Vernehmer ihm dann vorwerfen, überrascht Siegfried. Er wird der geplan­ten Fahnenflucht bezichtigt. Zehn Tage hält man ihn in einer Arrestzelle der Grenz­kompanie Waltersdorf fest. Dann verbringt man ihn nach Königs Wusterhausen in die Kreis-Untersuchungshaftanstalt.

Das Gefängnis ist überbelegt. Siegfried wird mit neun Männern in eine Drei-Mann-Zelle gesteckt. Für alle soll ein Kübel zum Verrichten der Notdurft reichen. Mehrere Monate ist er hier inhaftiert, immer wieder wird er von Beamten des Ministeriums für Staats­sicherheit MfS vernommen. Das Kreisgericht in Königs Wusterhausen erweist sich schließlich als nicht zuständig für das Strafmaß, das Siegfried zustehen soll.

Man fährt ihn nach Potsdam in das Stasi-Untersuchungsgefängnis. Ein Vierteljahr muss er dort auf seine Ver­urtei­lung warten, während erneut unangenehme Verhöre stattfinden. Aus der SED ist Siegfried mittlerweile ausgeschlossen, denn die DDR stellt keine Genossen vor Gericht.

Siegfried rechnet mit einer simplen Disziplinarstrafe, da er sich ja keines Verbrechens schuldig gemacht, sondern lediglich seine Meinung geäußert hat. Eine halbe Stunde vor der Verhandlung wird Siegfried die Anklageschrift vorgelegt. Seinen Pflicht­verteidiger lernt er erst im Warteraum kennen. Der Anwalt rät ihm, alles zuzugeben, damit sich das Strafmaß reduziert.

In Handschellen führt man ihn vor das Bezirksgericht Potsdam. Das Urteil lautet zwei Jahre und drei Monate Zuchthaus nach Paragraf 19 des Strafrechtsergänzungsgesetzes: Staatsgefährdende Propa­ganda und Hetze. Die Zuchthausstrafe gilt als entehrend und hat soziale Konsequenzen, wie etwa bei der späteren Wohnungs- oder Arbeitssuche. Siegfrieds regelmäßige Unterhaltungen mit anderen Grenzern werden bei der Urteils­begründung als zielstrebiger Manipulationsversuch bewertet.

»Ich hatte mich selber in die Scheiße geritten. Ich war so naiv, dass ich meinte, wenn man sich mit diesem oder jenem unterhält, kann das ja nichts Schlechtes sein.«

Die Eltern seiner Verlobten verhört man im Zuge seiner Ver­urtei­lung ebenfalls. Sie werden für seinen Zugang zum Westradio verantwortlich gemacht und auf Bewährung bestraft.

Siegfrieds Strafvollzug soll in Berndshof/Ueckermünde stattfinden, in einer Vorläuferein­richtung des Militärgefängnisses Schwedt. Mit dem Lkw geht es zum Bahnhof Potsdam, wo die weitere Fahrt im sogenannten Grotewohl-Express stattfindet. Mit drei Männern sitzt Siegfried auf engstem Raum, sie tragen weiterhin Handfesseln, obwohl der Waggon verschlossen ist und keine Fenster, sondern nur Lüftungsschlitze besitzt.

Der Transport wird in Cottbus unterbrochen. In der dortigen Strafvollzugsanstalt findet eine menschenunwürdige Untersuchung statt. Alle Gefangenen müssen sich ausziehen. Ein Sanitäter inspiziert jeden Einzelnen mit der Lupe, kontrolliert auch alle Körperöff­nungen und den Schambereich.

»Noch heute empfinde ich diese Behandlung als Demütigung. Man wollte und hat uns gebrochen.«

Nach zwei Tagen im Gefängnis Cottbus setzt sich der Gefangenen­transport in Richtung Berndshof fort, doch schon acht Tage später wird Siegfried ins sächsische Torgau an der Elbe verlegt.

Das Fort Zinna in Torgau wird Anfang des 19. Jahrhunderts unter napoleonischer Herr­schaft als unabhängiges Vorwerk der Festung Torgau errichtet und erfährt seitdem eine fast ausschließliche Nutzung als Gefängnis.

Ab September 1945 richtet die sowjetische Geheimpolizei im Fort Zinna das Speziallager Nr. 8 und später auch das Speziallager Nr. 10 ein. Tausende sind hier inhaftiert und wer­den von diesem Ort aus in das Speziallager Mühlberg oder in sowjetische Arbeits­lager transportiert. Von 1950 bis 1990 dient das Fort Zinna als Straf­vollzugs­anstalt der Deut­schen Volkspolizei.

Siegfried kommt zusammen mit einem älteren Mann in eine Zelle. Der Häftling wird ihm im Laufe der Zeit zum väterlichen Freund. Er schult Siegfried im Exportwesen und im Allgemeinwissen und sorgt dafür, dass beide Arbeitskommandos zugeteilt werden.

Siegfried führt Reinigungsarbeiten durch, sortiert Briefpapier und fertigt Betonteile im Flachgas­kombinat Torgau. Die Arbeit ist eine Erleichterung innerhalb der Gefangen­schaft, denn sie bedeutet, für eine gewisse Zeit die Zelle verlassen zu können.

Die Eltern wissen seit einem Dreivierteljahr nichts über Siegfrieds Verbleib. Einmal im Monat darf er nun einen Brief schreiben. Pro Quartal hat jeder Gefangene zudem eine halbe Stunde Sprech­erlaubnis, Siegfrieds Schwester besucht ihn in der Strafvollzugs­anstalt Torgau.

Er darf ihr nicht verraten, was der Grund für seine Haftstrafe ist. Dennoch teilt er ihr mit, dass er niemanden erschossen oder bestohlen habe, sondern wegen seiner politi­schen Überzeugung verurteilt wurde, und riskiert damit den Abbruch des Gesprächs.

Der Haftalltag ist von Kontrollen geprägt. Erhält Siegfried ein Paket, so wird dessen In­halt vor seinen Augen geöffnet und auseinander­genommen, um mögliche einge­schmug­gelte Gegen­stände zu finden. Manchmal wird ihm danach das Überbleibsel mit der Aus­sage, er sei hier ja ausreichend versorgt, nicht einmal ausgehändigt.

Jeden Tag gibt es eine halbe Stunde Freigang auf dem Hof, in dieser Zeit werden meis­tens die Zellen gefilzt. Auch nach den Arbeits­einsätzen finden immer wieder Durchsuch­ungen der Inhaftierten statt.

Die hygienischen Verhältnisse des Gefängnisses, besonders im Krankentrakt und in den Waschräumen, sind miserabel. Siegfried sieht es jedoch als Verbesserung an, dass in den Zellen nun Toiletten anstelle der aus der Untersuchungs­haft bekannten Kübel stehen.

Am 10. August 1962, etwa ein Jahr nach seiner Verhaftung, wird Siegfried aufgrund einer allgemeinen Amnestie entlassen. Nun muss er wieder zurück in das kleine sächsische Dorf und arbeitet in der LPG. In der Ortschaft ist seine Inhaftierung allen bekannt, aller­dings hält man versuchte Fahnenflucht für den Grund.

Nach der Zeit im Gefängnis fällt es ihm schwer, wieder Fuß zu fassen. Er leidet unter Ängsten und massiven Schlafstörungen. Zu seinem eigenen Schutz bindet die Mutter nachts alle Fenster zu. Die Verlobung mit seiner Freundin in Berlin ist gelöst, was Sieg­fried stark mitnimmt.

Verurteilt aufgrund von Zeugenaussagen und auch im Strafvollzug stets von Zellen­spitzeln umgeben, hegt er die Absicht, niemandem mehr zu vertrauen. Tatsächlich wird er auch jetzt von einem Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) des MfS überwacht, der regelmäßig Berichte über sein Verhalten schreiben muss.

Nach dem Ende der zweijährigen Bewährungszeit wechselt er die Arbeit und geht nach Dresden zum Handelstransport. Dort lernt er seine spätere Frau kennen. Sehr offen setzt er sie über seine Vergangenheit in Kenntnis und trifft auf Verständnis, auch seitens der künftigen Schwiegereltern. 1963 heiraten sie und bekommen drei Kinder.

Entgegen seiner Überzeugung engagiert sich Siegfried im »Sozialistischen Kollektiv« seines Betriebes, denn es ist zur damaligen Zeit der einzige Weg, zu einer Genossen­schaftswohnung zu kommen.

Siegfrieds Ehe wird geschieden. 1988 zieht er nach Leipzig, wo er später ein zweites Mal heiraten wird. Beim Handelstransport hat er mittlerweile eine leitende Stellung inne und der Vermerk über seine Vorstrafe ist aus der Personalakte entfernt.

Seit dem 4. September 1989 gehen die Menschen in Leipzig jeden Montag auf die Straße, um gegen die politischen Verhältnisse zu protestieren, am Ende werden sie die Fried­liche Revolution erreicht haben. Siegfried ringt sehr lange mit der Entscheidung, ob er sich den Montagsdemonstrationen anschließen soll oder nicht, doch sein Wille dabei zu sein siegt schließlich über die Angst vor den möglichen Konsequenzen, die er als poli­tisch Vorbestrafter zu erwarten hätte.

»Es war für mich ein Wagnis, dort hinzugehen und mich einzureihen.«

Nach der deutschen Wiedervereinigung wird der Handelstransport aufgelöst. Siegfrieds ehemaliger sozialistischer Leiter gründet eine neue Spedition und stellt ihn ein. Doch die Überstunden, die Siegfried laut Arbeits­vertrag zu leisten hat, nehmen überhand. Also wechselt er zu einer Sicherheitsfirma, bei der er bis zu seiner Rente arbeitet.

Siegfried beginnt, sich mit seiner Vergangenheit zu beschäftigen. Als er Einsicht in seine Stasi-Akte nimmt, erhält er Dokumente im Zusammenhang mit seiner Ver­urtei­­lung und kann die Vorgänge von damals nun nachvollziehen.

Seine Rehabilitierung erfolgt am 23. Juli 1992. Er bezieht eine Opferrente und kritisiert, dass die Verabschiedung dieses Gesetzes so lange gedauert hat, obwohl schon im Einigungsvertrag beschlossen.

»Ich bin enttäuscht von der Handhabung der Bundesregierung mit unserem Zustand. Jahrelang hat man uns hingehalten und die biologische Regelung walten lassen.«

Bis zur Veröffentlichung seiner Lebensgeschichte in der VOS-Publikation »›Ich sah die Mühlen Spuren mahlen, den Menschen tief ins Angesicht.‹ – Erinnerungen aus Zwangs­arbeit und politischer Haft« hat Siegfried Berneis nicht mit seinen Töchtern darüber gesprochen, was ihm 1961 widerfuhr.

Nach dem Erscheinen des Buches hat er seinen Töchtern je ein Exemplar ausgehändigt, und nach dem Lesen der biografischen Darstellung und klärenden Gesprächen ist ihre Meinung zur Vergangenheit des Vaters durchaus positiv ausgefallen.

Die Haft hatte vor seiner Ehe und der Geburt seiner Kinder stattgefunden, aber Siegfried ist vor allem wichtig gewesen, seine Töchter unbeeinflusst ihren eigenen Weg gehen zu lassen und gegenüber der Gesellschaft, in der sie aufgewachsen sind, nicht in Konflikte zu bringen. Heute ist er sehr stolz darauf, dass sie Persönlichkeiten geworden sind, die fest im Leben stehen und ihren Platz gefunden haben.