Frank Nemetz

Frank Nemetz

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»Sie stellten mich unter Pharmaka.«

Im Jahr 1944 verschieben sich sämtliche Fronten des Zweiten Weltkriegs in Richtung Deutsches Reich. Aufgrund der Bomben­angriffe auf Leipzig werden viele schwangere Frauen zu ihrem Schutz in das Leipziger Umland verbracht, so auch Helene Nemetz. Ihren Sohn Frank bringt sie am 27. Juni 1944 im säch­sischen Brandis zur Welt. Franks Vater kämpft an der West­front, wird dort schwer verwundet und gerät in amerikanische Kriegs­gefangen­schaft.

Mit Ende des Zweiten Weltkriegs kehren Frank und seine Mutter nach Leipzig zurück. Die Versorgungslage der Bevölkerung ist prekär. Helene Nemetz ist regelmäßig im ländlichen Umland unterwegs, um dort Nahrung zu besorgen. Während dieser Zeit erkundet Frank die Ruinen des kriegszerstörten Leipzigs.

Franks Vater kehrt aus dem Kriegsgefangenenlager zurück und arbeitet wieder als Fräser, die Kriegsverletzung bereitet ihm jedoch zeitlebens Probleme. Die Mutter ist halbtags als Kontoristin tätig. 1950 kommt Frank in die 43. Grundschule. Das Lernen nimmt er als Kind selten ernst, viel lieber kundschaftet er seine Umgebung aus.

Am 17. Juni 1953 beobachtet Frank mit einem mulmigen Gefühl, wie sein Vater, der ein ehemaliges SPD-Mitglied ist, aus dem Haus geht. Die DDR-Bürger gehen auf die Straßen und protestieren gegen die Normerhöhung, für freie Wahlen, die Wiedervereinigung, die Ablösung Ulbrichts und Freiheit für alle politischen Gefangenen. Die Sowjetunion verhängt daraufhin den Ausnahme­zustand und greift militärisch ein. In der Waldstraße sieht Frank Panzer rollen, viele Straßenzüge sind gesperrt. Glücklicherweise kehrt der Vater abends wohlbehalten aus der Innenstadt zurück, aber er berichtet von den zahlreichen Verhaftungen und Bränden bei der Niederschlagung des Aufstands.

1958 beendet Frank die achte Klasse. Er möchte im Anschluss auf die Mittelschule gehen, doch aufgrund seiner durchschnittlichen Leistungen wird dies zunächst abgelehnt. Nach einer Eingabe seiner Eltern an den Schulinspektor wird ihm die weiterführende Schulbildung genehmigt. Frank holt nun Versäumtes aus den Grundlagenfächern nach. Die Naturwissenschaften liegen ihm besonders, und so entscheidet er sich für eine Ausbildung zum Chemielaboranten am Leipziger Institut für angewandte Radio­aktivität der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin.

Die Freude an dieser Tätigkeit spornt ihn an, sich beruflich noch weiter entwickeln zu wollen, deshalb möchte Frank sein Abitur nachholen. Viermal in der Woche besucht er nach seiner Arbeit einen Volkshochschulkurs. Doch kurz vor den Prüfungen erhält er im Mai 1966 den Einberufungsbescheid der Nationalen Volksarmee NVA und kann seinen Abschluss somit nicht machen.

Nach anderthalb Jahren, in denen er bei der Bereitschaftspolizei eingesetzt wird, hat Frank seinen Grundwehrdienst beendet. Er erhält die Zulassung zum Studium an der Ingenieurschule Köthen, Außenstelle Leipzig. Das Ingenieurstudium ist auch ohne Abitur möglich, und Frank bekommt sogar ein Stipendium.

»Das zweite Studienjahr hatte ich ganz gut über die Runden gebracht, bis eines schönen Tages die Stasi ins Visier kam.«

Schon seit 1958 betreibt er Leistungssport. Er trainiert die Wurf­disziplinen Hammer, Kugel und Diskus beim SC DHfK Leipzig. Der 1957 gegründete Sportklub ist an die Deutsche Hochschule für Körperkultur angeschlossen, deren Einrichtungen ein ca. 200 000 Quadratmeter großes Areal nordwestlich der Leipziger Innenstadt einnehmen. Der SC DHfK ist der weltweit erfolgreichste Klub der Sportgeschichte. Frank wird 1962 mit der Mannschaft zweiter DDR-Meister in Leichtathletik und belegt 1963 den sechsten Platz bei den Juniorenmeisterschaften im Hammerwerfen.

Mit einem seiner Sportkollegen ist Frank bereits seit Anfang der 1960er-Jahre eng befreundet. Der Vater dieses Freundes bleibt schon vor dem Mauerbau in der Bundesrepublik, 1964 reist die Mutter im Zuge der Familienzusammenführung ebenfalls aus. Ihre drei Kinder – Franks Freund, dessen Schwester und den mittler­weile elfjährigen Bruder – lassen sie in der DDR zurück. Die Mutter schickt regelmäßig Päckchen, doch darüber hinaus sind die drei sich selbst überlassen.

Im Herbst 1967 schließlich hat die Mutter gefälschte bundes­deutsche Pässe organisiert, die sie den Kindern übersendet. Doch die geplante Ausreise der Geschwister gelingt nicht, denn Franks Freund ist bereits inhaftiert und wird im Kaßberg-Gefängnis in Karl-Marx-Stadt durch Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit MfS verhört.

Verängstigt sucht die Schwester Rat bei Frank und bittet ihn, die Pässe an sich zu nehmen und zu verstecken. Kurze Zeit später nimmt das MfS auch sie fest. In einer Kurzschlussreaktion verbrennt Frank die Ausweisdokumente in seinem Badeofen.

»Das war mein Verhängnis.«

Am 30. Januar 1968 wird Frank verhaftet. Das MfS unterstellt ihm, die bundesdeutschen Pässe an sich genommen zu haben, um sie für seine eigene Ausreise und die seiner Verlobten zu verwenden. Unter dem Druck der intensiven Verhöre gibt Frank zu, die Pässe mitgenommen und anschließend vernichtet zu haben. Doch die Stasi-Beamten glauben ihm nicht. Frank wird ebenfalls im Kaßberg-Gefängnis interniert. Er erhält Einzelhaft, die Vernehmungen setzen sich über etliche Tage und Nächte fort.

Zelle 202 im Kaßberg-Gefängnis, in der Frank Nemetz 1968 mehr als ein halbes Jahr in Untersuchungshaft saß

In der Untersuchungshaft darf Frank zwar Post von seiner Familie erhalten, doch diese wird vor dem Aushändigen kontrolliert und auf geheime Botschaften untersucht. Zwei Leutnants nehmen ihn in die Mangel. Einer spielt den verständnisvollen, der andere den bösen Vernehmer. Da Frank von seiner Aussage nicht abweichen will, drohen sie ihm mit der Inhaftierung der Eltern.

Vermutlich aus Mangel an Beweisen scheuen die Beamten der Staatssicherheit auch keine Mühe, ihn auf alternative Weise zu überführen, und kontaktieren Franks Verlobte in Leipzig. Zwei Stasi-Beamte geben sich telefonisch als Vertreter einer Schleuser-Organisation aus und überreden Franks Verlobte zu einem Treffen. Dann bieten sie an, ebensolche gefälschten Pässe anzufertigen, wie die Geschwister erhalten hatten.

Franks Verlobte ahnt, dass es sich hierbei um eine Falle handelt, zumal sie und Frank niemals über eine Ausreise in die Bundes­republik gesprochen haben. Sie meldet den Vorgang bei dem zuständigen Stasi-Major in Karl-Marx-Stadt. Wie sich anhand Franks Stasi-Akte später herausstellen wird, sind die angeblichen Schleuser tatsächlich Beamte der Staatssicherheit.

Die Haftbedingungen setzen Frank zu. Vom Tageslicht ist er in seiner Einzelzelle vollständig abgeschirmt, stattdessen brennt ununterbrochen künstliches Licht. Manchmal dauern die Verhöre viele Stunden, dann wieder geschieht tagelang nichts. Frank fühlt sich entmutigt und in einer hoffnungslosen Lage. Er beginnt, die Nahrung zu verweigern.

Die Beamten bringen Frank zum Arzt, welcher ihm ein starkes Beruhigungsmittel verabreicht.

»Da war man dann nicht mehr richtig da, schwebte in irgendwelchen anderen Regionen.«

Am 10. Juli 1968 findet die Gerichts­verhandlung vor dem Bezirks­gericht Karl-Marx-Stadt statt. Franks Eltern haben ihm einen Rechtsanwalt besorgt, eine Seltenheit bei politischen Häftlingen der DDR. Zweimal besprechen sie sich vor der Verhandlung miteinander. Dann beginnt die Gerichtsverhandlung – ein Schauprozess, bei dem er und die zwei erwachsenen Geschwister gemeinsam angeklagt werden. Kommilitonen aus dem Ingenieurstudium sind anwesend und sprechen sich geschlossen gegen Frank aus.

Während der Verhandlungspausen wird Frank zu seinen Ver­nehmern gebracht und bedrängt, als Kronzeuge auszusagen und damit selbst der Verurteilung zu entgehen. Er willigt nicht ein. Das Gericht verurteilt ihn schließlich wegen Beihilfe zur Vorbereitung der Republikflucht zu zwei Jahren Zuchthaus. Selbst nach der Urteilsverkündung verspricht ihm ein Stasi-Major noch frei­zu­kommen, sollte er den Schuldspruch anerkennen. Franks Anwalt lehnt ab und geht in Berufung, der Einspruch wird angenommen.

Am 14. August entlässt man Frank aus der Untersuchungshaft. Seine Berufung wird am 30. August 1968 vor dem Obersten Gericht in Berlin verhandelt. Zu Franks Überraschung heben die Richter das Urteil auf und setzen die zwei Jahre Strafvollzug zur Bewährung aus. Frank erhält keinerlei Bewährungsauflagen.

»Danach wurde ich von der Stasi nie wieder behelligt.«

Frank soll sich nun »in der Produktion bewähren«. Keine leichte Aufgabe, denn an die zwanzig Betriebe, bei denen er vorspricht, lehnen seine Beschäftigung prinzipiell ab. Schließlich stellt ihn der VEB Kombinat Gießereianlagenbau und Gußerzeugnisse (GISAG) Leipzig als Werkstoffprüfer an. Die Arbeit ist einfach und schmutzig, aber Frank wird von den Mitarbeitern des Betriebs gut aufgenommen.

Die Kaderleiterin setzt sich besonders für ihn ein und beantragt, dass Franks Bewährungsfrist auf ein Jahr reduziert wird. Dem Gesuch wird stattgegeben. Frank darf sogar sein begonnenes Chemieingenieur-Studium fortsetzen.

1969 heiratet er seine Verlobte. Der Sohn Andreas wird im Juni geboren. Seine berufliche Karriere kann Frank in den folgenden Jahren problemlos vorantreiben. Er arbeitet weiter beim VEB Kombinat GISAG Leipzig, jetzt in der Rechentechnik. Nach einem Studium an der Hochschule für Bauwesen Leipzig absolviert er 1975 den Fachingenieurabschluss für Datenverarbeitung. Er wird zum Produktionsleiter befördert, übernimmt die technische Neueinrichtung und die Leitung des Rechenzentrums.

Franks Sohn ist sportlich ebenfalls sehr begabt. Frank trainiert mit ihm, und 1982 erfüllt Andreas die erforderlichen Normen, um an einer Sportschule angenommen zu werden. Doch aufgrund eines nicht gemeldeten Besuchs von Westverwandtschaft wird er 1986 der Schule verwiesen.

Franks Eltern sind schon hochbetagt, als sie im Februar 1989 ins oberfränkische Kulmbach übersiedeln. Als Rentner dürfen sie legal aus der DDR ausreisen, aber um Frank keinen beruflichen Repressalien auszusetzen, zögern sie die Entscheidung lange hinaus: Doch nun scheint der Zeitpunkt günstig, denn die politische Stimmung in der DDR verändert sich. Der Direktor für Orga­ni­sa­tion und Datenverarbeitung unterstützt Frank bei Anträgen auf einen Besuch in der Bundesrepublik.

Ab September 1989 gehen Frank und seine Frau regelmäßig zu den Montagsdemonstrationen in die Leipziger Innenstadt. Der Sohn Andreas muss seinen Grund­wehr­dienst ableisten und wird wie sein Vater in der Bereitschaftspolizei eingesetzt. Eines Tages stehen die demonstrierenden Eltern ihrem uniformierten Sohn an der Nikolai­kirche gegenüber.

»Meine Frau brach in Tränen aus, die konnte das gar nicht fassen.«

Frank und seine Frau fahren von nun an jeden Abend zur Kaserne ihres Sohnes. Wegen einer Besuchssperre für alle Grund­wehr­dienst­leistenden sprechen sie sich nur heimlich am Zaun des Kasernengeländes. Andreas informiert seine besorgten Eltern stets über die aktuelle Lage. Um dem Schießbefehl zu entgehen, der am 2. Oktober verhängt worden ist, meldet er sich freiwillig zum Küchendienst.

Die Ereignisse der Friedlichen Revolution nehmen im Oktober 1989 an Tempo zu. Täglich schaltet Frank nach der Arbeit unverzüglich den Fernseher ein, um Neuigkeiten zu erfahren. Am 7. Oktober, dem 40. Jahrestag der DDR-Staatsgründung, will er auf dem Leipziger Hauptbahnhof eine Fahrkarte für einen bevorstehenden Besuch bei seinen Eltern kaufen. Das Ehepaar Nemetz gerät in einen Tumult, als Offiziersschüler der Volkspolizei mit Hunden auf Demonstranten losgehen und etliche von ihnen verhaften.

Am Tag darauf fahren Frank und seine Frau zu einer Aufführung der Dresdner Semperoper. Das Gebäude ist ringsum abgesperrt, denn die Prager Botschaftsflüchtlinge fahren in Sonderzügen über DDR-Territorium nach Hof, und Dresden ist eine der Städte, die auf der Strecke passiert werden.

Am 9. Oktober reist Frank zu seinen Eltern nach Oberfranken. Er bittet seine Frau, ohne ihn nicht zur Montagsdemonstration zu gehen. Sie trifft sich trotzdem dort mit Freunden, zieht aber Turnschuhe an, um im Ernstfall schnell weglaufen zu können.

An den darauffolgenden Montagen verpasst Frank keine der Demonstrationen mehr. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch stellt er eine Kerze auf die Stufen der Runden Ecke, dem Sitz der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit am Leipziger Dittrichring. Niemand weiß genau, was in dem verdunkelten Gebäude vor sich geht.

Spätestens nach dem 9. November 1989 öffnen sich die Grenzen der DDR, und die 28 Jahre andauernde Trennung zwischen Ost- und Westdeutschland ist Vergangenheit. Frank und seine Familie machen sich gleich am nächsten Tag auf den Weg zu seinen Eltern. Zwölf Stunden lang stehen sie auf der Autobahn im Stau, weil so viele DDR-Bürger die Grenzöffnung nutzen, um nun endlich wieder Verwandte in der Bundesrepublik besuchen zu können.

In der Wendezeit engagiert sich Frank politisch in der Deutschen Sozialen Union (DSU), die als Teil des Wahlbündnisses »Allianz für Deutschland« an der letzten und einzigen freien Wahl zur Volks­kammer der DDR beteiligt ist. Die Allianz für Deutschland, bestehend aus CDU, DSU und dem Demokratischen Aufbruch (DA), gewinnt die Wahl am 18. März 1990. Nach vierjähriger Mitglied­schaft verlässt Frank die DSU wieder.

1991 übernimmt Frank gemeinsam mit zwei Freunden und seiner Frau, die bisher als Innenarchitektin tätig war, den Ausbau des alten Schlachthofgeländes an der Richard-Lehmann-Straße. Sie richten etwa 120 Büroräume für den Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) ein. Nach zwei weiteren Aufträgen dieser Art bewirbt sich Frank beim MDR und wird im August 1993 Abteilungsleiter der technischen Beschaffung.

2009 beendet Frank diese Arbeitsstelle und widmet sich nun ehrenamtlichen Tätigkeiten. Bis 2013 ist er Schöffe am Amtsgericht Grimma, seit 2011 im Beirat der Stiftung Säch­­sische Gedenk­stätten. Seinem Beitritt zur Vereinigung der Opfer des Stalinismus e. V. (VOS) folgt 2012 der Posten des Vorsitzenden für den Bezirk Leipzig. Im selben Jahr wird er Schatzmeister des Bundesvorstands der VOS.

Im Juni 2014 hat er das Amt des Vorsitzenden des Landesverbandes Sachsen übernommen, seit September sitzt er außerdem als Vertreter der VOS im Rundfunkrat des MDR. Für die Landesgruppe Sachsen der Vereinigung der Opfer des Stalinismus e. V. orga­ni­siert er seitdem jährlich Zeitzeugenprojekte, die durch Fördermittel des Säch­sischen Staatsministeriums der Justiz und des Säch­sischen Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen finanziert werden können.

Frank Nemetz am Rednerpult 2019

Frank Nemetz bei der Präsentation des 5. Bands der VOS-Schriftenreihe im Bürgerkomitee Leipzig, März 2019

Am 25. Juni 2016 ist Frank Nemetz vom Präsidenten des Sächsischen Landtags die Säch­sische Verfassungs­medaille verliehen worden, welche seit 1997 jährlich Bürgerinnen und Bürger ehrt, die sich besonders um die freiheitliche demokratische Entwicklung des Freistaates Sachsen verdient gemacht haben.

»Sie stellten mich unter Pharmaka.«

Im Jahr 1944 verschieben sich sämtliche Fronten des Zweiten Weltkriegs in Richtung Deutsches Reich. Aufgrund der Bomben­angriffe auf Leipzig werden viele schwangere Frauen zu ihrem Schutz in das Leipziger Umland verbracht, so auch Helene Nemetz. Ihren Sohn Frank bringt sie am 27. Juni 1944 im säch­sischen Brandis zur Welt. Franks Vater kämpft an der West­front, wird dort schwer verwundet und gerät in amerikanische Kriegs­gefangen­schaft.

Mit Ende des Zweiten Weltkriegs kehren Frank und seine Mutter nach Leipzig zurück. Die Versorgungslage der Bevölkerung ist prekär. Helene Nemetz ist regelmäßig im ländlichen Umland unterwegs, um dort Nahrung zu besorgen. Während dieser Zeit erkundet Frank die Ruinen des kriegszerstörten Leipzigs.

Franks Vater kehrt aus dem Kriegsgefangenenlager zurück und arbeitet wieder als Fräser, die Kriegsverletzung bereitet ihm jedoch zeitlebens Probleme. Die Mutter ist halbtags als Kontoristin tätig. 1950 kommt Frank in die 43. Grundschule. Das Lernen nimmt er als Kind selten ernst, viel lieber kundschaftet er seine Umgebung aus.

Am 17. Juni 1953 beobachtet Frank mit einem mulmigen Gefühl, wie sein Vater, der ein ehemaliges SPD-Mitglied ist, aus dem Haus geht. Die DDR-Bürger gehen auf die Straßen und protestieren gegen die Normerhöhung, für freie Wahlen, die Wiedervereinigung, die Ablösung Ulbrichts und Freiheit für alle politischen Gefangenen. Die Sowjetunion verhängt daraufhin den Ausnahme­zustand und greift militärisch ein. In der Waldstraße sieht Frank Panzer rollen, viele Straßenzüge sind gesperrt. Glücklicherweise kehrt der Vater abends wohlbehalten aus der Innenstadt zurück, aber er berichtet von den zahlreichen Verhaftungen und Bränden bei der Niederschlagung des Aufstands.

1958 beendet Frank die achte Klasse. Er möchte im Anschluss auf die Mittelschule gehen, doch aufgrund seiner durchschnittlichen Leistungen wird dies zunächst abgelehnt. Nach einer Eingabe seiner Eltern an den Schulinspektor wird ihm die weiterführende Schulbildung genehmigt. Frank holt nun Versäumtes aus den Grundlagenfächern nach. Die Naturwissenschaften liegen ihm besonders, und so entscheidet er sich für eine Ausbildung zum Chemielaboranten am Leipziger Institut für angewandte Radio­aktivität der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin.

Die Freude an dieser Tätigkeit spornt ihn an, sich beruflich noch weiter entwickeln zu wollen, deshalb möchte Frank sein Abitur nachholen. Viermal in der Woche besucht er nach seiner Arbeit einen Volkshochschulkurs. Doch kurz vor den Prüfungen erhält er im Mai 1966 den Einberufungsbescheid der Nationalen Volksarmee NVA und kann seinen Abschluss somit nicht machen.

Nach anderthalb Jahren, in denen er bei der Bereitschaftspolizei eingesetzt wird, hat Frank seinen Grundwehrdienst beendet. Er erhält die Zulassung zum Studium an der Ingenieurschule Köthen, Außenstelle Leipzig. Das Ingenieurstudium ist auch ohne Abitur möglich, und Frank bekommt sogar ein Stipendium.

»Das zweite Studienjahr hatte ich ganz gut über die Runden gebracht, bis eines schönen Tages die Stasi ins Visier kam.«

Schon seit 1958 betreibt er Leistungssport. Er trainiert die Wurf­disziplinen Hammer, Kugel und Diskus beim SC DHfK Leipzig. Der 1957 gegründete Sportklub ist an die Deutsche Hochschule für Körperkultur angeschlossen, deren Einrichtungen ein ca. 200 000 Quadratmeter großes Areal nordwestlich der Leipziger Innenstadt einnehmen. Der SC DHfK ist der weltweit erfolgreichste Klub der Sportgeschichte. Frank wird 1962 mit der Mannschaft zweiter DDR-Meister in Leichtathletik und belegt 1963 den sechsten Platz bei den Juniorenmeisterschaften im Hammerwerfen.

Mit einem seiner Sportkollegen ist Frank bereits seit Anfang der 1960er-Jahre eng befreundet. Der Vater dieses Freundes bleibt schon vor dem Mauerbau in der Bundesrepublik, 1964 reist die Mutter im Zuge der Familienzusammenführung ebenfalls aus. Ihre drei Kinder – Franks Freund, dessen Schwester und den mittler­weile elfjährigen Bruder – lassen sie in der DDR zurück. Die Mutter schickt regelmäßig Päckchen, doch darüber hinaus sind die drei sich selbst überlassen.

Im Herbst 1967 schließlich hat die Mutter gefälschte bundes­deutsche Pässe organisiert, die sie den Kindern übersendet. Doch die geplante Ausreise der Geschwister gelingt nicht, denn Franks Freund ist bereits inhaftiert und wird im Kaßberg-Gefängnis in Karl-Marx-Stadt durch Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit MfS verhört.

Verängstigt sucht die Schwester Rat bei Frank und bittet ihn, die Pässe an sich zu nehmen und zu verstecken. Kurze Zeit später nimmt das MfS auch sie fest. In einer Kurzschlussreaktion verbrennt Frank die Ausweisdokumente in seinem Badeofen.

»Das war mein Verhängnis.«

Am 30. Januar 1968 wird Frank verhaftet. Das MfS unterstellt ihm, die bundesdeutschen Pässe an sich genommen zu haben, um sie für seine eigene Ausreise und die seiner Verlobten zu verwenden. Unter dem Druck der intensiven Verhöre gibt Frank zu, die Pässe mitgenommen und anschließend vernichtet zu haben. Doch die Stasi-Beamten glauben ihm nicht. Frank wird ebenfalls im Kaßberg-Gefängnis interniert. Er erhält Einzelhaft, die Vernehmungen setzen sich über etliche Tage und Nächte fort.

Zelle 202 im Kaßberg-Gefängnis, in der Frank Nemetz 1968 mehr als ein halbes Jahr in Untersuchungshaft saß

In der Untersuchungshaft darf Frank zwar Post von seiner Familie erhalten, doch diese wird vor dem Aushändigen kontrolliert und auf geheime Botschaften untersucht. Zwei Leutnants nehmen ihn in die Mangel. Einer spielt den verständnisvollen, der andere den bösen Vernehmer. Da Frank von seiner Aussage nicht abweichen will, drohen sie ihm mit der Inhaftierung der Eltern.

Vermutlich aus Mangel an Beweisen scheuen die Beamten der Staatssicherheit auch keine Mühe, ihn auf alternative Weise zu überführen, und kontaktieren Franks Verlobte in Leipzig. Zwei Stasi-Beamte geben sich telefonisch als Vertreter einer Schleuser-Organisation aus und überreden Franks Verlobte zu einem Treffen. Dann bieten sie an, ebensolche gefälschten Pässe anzufertigen, wie die Geschwister erhalten hatten.

Franks Verlobte ahnt, dass es sich hierbei um eine Falle handelt, zumal sie und Frank niemals über eine Ausreise in die Bundes­republik gesprochen haben. Sie meldet den Vorgang bei dem zuständigen Stasi-Major in Karl-Marx-Stadt. Wie sich anhand Franks Stasi-Akte später herausstellen wird, sind die angeblichen Schleuser tatsächlich Beamte der Staatssicherheit.

Die Haftbedingungen setzen Frank zu. Vom Tageslicht ist er in seiner Einzelzelle vollständig abgeschirmt, stattdessen brennt ununterbrochen künstliches Licht. Manchmal dauern die Verhöre viele Stunden, dann wieder geschieht tagelang nichts. Frank fühlt sich entmutigt und in einer hoffnungslosen Lage. Er beginnt, die Nahrung zu verweigern.

Die Beamten bringen Frank zum Arzt, welcher ihm ein starkes Beruhigungsmittel verabreicht.

»Da war man dann nicht mehr richtig da, schwebte in irgendwelchen anderen Regionen.«

Am 10. Juli 1968 findet die Gerichts­verhandlung vor dem Bezirks­gericht Karl-Marx-Stadt statt. Franks Eltern haben ihm einen Rechtsanwalt besorgt, eine Seltenheit bei politischen Häftlingen der DDR. Zweimal besprechen sie sich vor der Verhandlung miteinander. Dann beginnt die Gerichtsverhandlung – ein Schauprozess, bei dem er und die zwei erwachsenen Geschwister gemeinsam angeklagt werden. Kommilitonen aus dem Ingenieurstudium sind anwesend und sprechen sich geschlossen gegen Frank aus.

Während der Verhandlungspausen wird Frank zu seinen Ver­nehmern gebracht und bedrängt, als Kronzeuge auszusagen und damit selbst der Verurteilung zu entgehen. Er willigt nicht ein. Das Gericht verurteilt ihn schließlich wegen Beihilfe zur Vorbereitung der Republikflucht zu zwei Jahren Zuchthaus. Selbst nach der Urteilsverkündung verspricht ihm ein Stasi-Major noch frei­zu­kommen, sollte er den Schuldspruch anerkennen. Franks Anwalt lehnt ab und geht in Berufung, der Einspruch wird angenommen.

Am 14. August entlässt man Frank aus der Untersuchungshaft. Seine Berufung wird am 30. August 1968 vor dem Obersten Gericht in Berlin verhandelt. Zu Franks Überraschung heben die Richter das Urteil auf und setzen die zwei Jahre Strafvollzug zur Bewährung aus. Frank erhält keinerlei Bewährungsauflagen.

»Danach wurde ich von der Stasi nie wieder behelligt.«

Frank soll sich nun »in der Produktion bewähren«. Keine leichte Aufgabe, denn an die zwanzig Betriebe, bei denen er vorspricht, lehnen seine Beschäftigung prinzipiell ab. Schließlich stellt ihn der VEB Kombinat Gießereianlagenbau und Gußerzeugnisse (GISAG) Leipzig als Werkstoffprüfer an. Die Arbeit ist einfach und schmutzig, aber Frank wird von den Mitarbeitern des Betriebs gut aufgenommen.

Die Kaderleiterin setzt sich besonders für ihn ein und beantragt, dass Franks Bewährungsfrist auf ein Jahr reduziert wird. Dem Gesuch wird stattgegeben. Frank darf sogar sein begonnenes Chemieingenieur-Studium fortsetzen.

1969 heiratet er seine Verlobte. Der Sohn Andreas wird im Juni geboren. Seine berufliche Karriere kann Frank in den folgenden Jahren problemlos vorantreiben. Er arbeitet weiter beim VEB Kombinat GISAG Leipzig, jetzt in der Rechentechnik. Nach einem Studium an der Hochschule für Bauwesen Leipzig absolviert er 1975 den Fachingenieurabschluss für Datenverarbeitung. Er wird zum Produktionsleiter befördert, übernimmt die technische Neueinrichtung und die Leitung des Rechenzentrums.

Franks Sohn ist sportlich ebenfalls sehr begabt. Frank trainiert mit ihm, und 1982 erfüllt Andreas die erforderlichen Normen, um an einer Sportschule angenommen zu werden. Doch aufgrund eines nicht gemeldeten Besuchs von Westverwandtschaft wird er 1986 der Schule verwiesen.

Franks Eltern sind schon hochbetagt, als sie im Februar 1989 ins oberfränkische Kulmbach übersiedeln. Als Rentner dürfen sie legal aus der DDR ausreisen, aber um Frank keinen beruflichen Repressalien auszusetzen, zögern sie die Entscheidung lange hinaus: Doch nun scheint der Zeitpunkt günstig, denn die politische Stimmung in der DDR verändert sich. Der Direktor für Orga­ni­sa­tion und Datenverarbeitung unterstützt Frank bei Anträgen auf einen Besuch in der Bundesrepublik.

Ab September 1989 gehen Frank und seine Frau regelmäßig zu den Montagsdemonstrationen in die Leipziger Innenstadt. Der Sohn Andreas muss seinen Grund­wehr­dienst ableisten und wird wie sein Vater in der Bereitschaftspolizei eingesetzt. Eines Tages stehen die demonstrierenden Eltern ihrem uniformierten Sohn an der Nikolai­kirche gegenüber.

»Meine Frau brach in Tränen aus, die konnte das gar nicht fassen.«

Frank und seine Frau fahren von nun an jeden Abend zur Kaserne ihres Sohnes. Wegen einer Besuchssperre für alle Grund­wehr­dienst­leistenden sprechen sie sich nur heimlich am Zaun des Kasernengeländes. Andreas informiert seine besorgten Eltern stets über die aktuelle Lage. Um dem Schießbefehl zu entgehen, der am 2. Oktober verhängt worden ist, meldet er sich freiwillig zum Küchendienst.

Die Ereignisse der Friedlichen Revolution nehmen im Oktober 1989 an Tempo zu. Täglich schaltet Frank nach der Arbeit unverzüglich den Fernseher ein, um Neuigkeiten zu erfahren. Am 7. Oktober, dem 40. Jahrestag der DDR-Staatsgründung, will er auf dem Leipziger Hauptbahnhof eine Fahrkarte für einen bevorstehenden Besuch bei seinen Eltern kaufen. Das Ehepaar Nemetz gerät in einen Tumult, als Offiziersschüler der Volkspolizei mit Hunden auf Demonstranten losgehen und etliche von ihnen verhaften.

Am Tag darauf fahren Frank und seine Frau zu einer Aufführung der Dresdner Semperoper. Das Gebäude ist ringsum abgesperrt, denn die Prager Botschaftsflüchtlinge fahren in Sonderzügen über DDR-Territorium nach Hof, und Dresden ist eine der Städte, die auf der Strecke passiert werden.

Am 9. Oktober reist Frank zu seinen Eltern nach Oberfranken. Er bittet seine Frau, ohne ihn nicht zur Montagsdemonstration zu gehen. Sie trifft sich trotzdem dort mit Freunden, zieht aber Turnschuhe an, um im Ernstfall schnell weglaufen zu können.

An den darauffolgenden Montagen verpasst Frank keine der Demonstrationen mehr. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch stellt er eine Kerze auf die Stufen der Runden Ecke, dem Sitz der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit am Leipziger Dittrichring. Niemand weiß genau, was in dem verdunkelten Gebäude vor sich geht.

Spätestens nach dem 9. November 1989 öffnen sich die Grenzen der DDR, und die 28 Jahre andauernde Trennung zwischen Ost- und Westdeutschland ist Vergangenheit. Frank und seine Familie machen sich gleich am nächsten Tag auf den Weg zu seinen Eltern. Zwölf Stunden lang stehen sie auf der Autobahn im Stau, weil so viele DDR-Bürger die Grenzöffnung nutzen, um nun endlich wieder Verwandte in der Bundesrepublik besuchen zu können.

In der Wendezeit engagiert sich Frank politisch in der Deutschen Sozialen Union (DSU), die als Teil des Wahlbündnisses »Allianz für Deutschland« an der letzten und einzigen freien Wahl zur Volks­kammer der DDR beteiligt ist. Die Allianz für Deutschland, bestehend aus CDU, DSU und dem Demokratischen Aufbruch (DA), gewinnt die Wahl am 18. März 1990. Nach vierjähriger Mitglied­schaft verlässt Frank die DSU wieder.

1991 übernimmt Frank gemeinsam mit zwei Freunden und seiner Frau, die bisher als Innenarchitektin tätig war, den Ausbau des alten Schlachthofgeländes an der Richard-Lehmann-Straße. Sie richten etwa 120 Büroräume für den Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) ein. Nach zwei weiteren Aufträgen dieser Art bewirbt sich Frank beim MDR und wird im August 1993 Abteilungsleiter der technischen Beschaffung.

2009 beendet Frank diese Arbeitsstelle und widmet sich nun ehrenamtlichen Tätigkeiten. Bis 2013 ist er Schöffe am Amtsgericht Grimma, seit 2011 im Beirat der Stiftung Säch­­sische Gedenk­stätten. Seinem Beitritt zur Vereinigung der Opfer des Stalinismus e. V. (VOS) folgt 2012 der Posten des Vorsitzenden für den Bezirk Leipzig. Im selben Jahr wird er Schatzmeister des Bundesvorstands der VOS.

Im Juni 2014 hat er das Amt des Vorsitzenden des Landesverbandes Sachsen übernommen, seit September sitzt er außerdem als Vertreter der VOS im Rundfunkrat des MDR. Für die Landesgruppe Sachsen der Vereinigung der Opfer des Stalinismus e. V. orga­ni­siert er seitdem jährlich Zeitzeugenprojekte, die durch Fördermittel des Säch­sischen Staatsministeriums der Justiz und des Säch­sischen Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen finanziert werden können.

Frank Nemetz am Rednerpult 2019

Frank Nemetz bei der Präsentation des 5. Bands der VOS-Schriftenreihe im Bürgerkomitee Leipzig, März 2019

Am 25. Juni 2016 ist Frank Nemetz vom Präsidenten des Sächsischen Landtags die Säch­sische Verfassungs­medaille verliehen worden, welche seit 1997 jährlich Bürgerinnen und Bürger ehrt, die sich besonders um die freiheitliche demokratische Entwicklung des Freistaates Sachsen verdient gemacht haben.