»Ich bin wahrscheinlich der einzige Anwalt, der als Häftling seinen Mandanten traf.«
Hans-Günter Kröber wird am 12. Januar 1928 in Leipzig als uneheliches Kind geboren und findet im Alter von anderthalb Jahren ein Zuhause bei den Pflegeeltern Louise und Walter Beckert in Leipzig-Lindenau. Hier verlebt Günter eine liebevolle Kindheit. Die Identität seines Vaters bleibt ihm Zeit seines Lebens unbekannt.
Ab 1934 besucht Günter die Volksschule und ab 1940 die Höhere Knabenschule in der Oststraße. Wie alle Jungen seines Jahrgangs wird er im Alter von zehn Jahren in die nationalsozialistische Jugendorganisation Deutsches Jungvolk aufgenommen. Als der Zweite Weltkrieg ausbricht, ist Günter elf Jahre alt. 1943 leistet er einen nächtlichen Luftschutzwachdienst in seiner Oberschule ab.
»Da kriegten wir morgens 50 Pfennig und eine Cebion-Tablette. Ich war Pimpf in der Deutschen Jugend und spielte dort auch eine gewisse Rolle als Jungzugführer. Aber ich wurde nicht in die Hitlerjugend übernommen.«
In den frühen Morgenstunden des 4. Dezember 1943 erlebt Leipzig seinen schwersten Luftangriff durch britische Bomben. Tragödien spielen sich ab: Autos und Bäume werden im Feuersturm mitgerissen, Gebäude brennen und stürzen ein und fordern die Leben unschuldiger Zivilisten. Auch Günters Schule brennt ab.
Günter erhält einen Einberufungsbefehl zur Wehrmacht für den 25. April 1945. Doch bereits am 17. April 1945 ziehen US-amerikanische Truppen in Leipzig ein. Tags darauf wehen weiße Fahnen und zeigen das Ende des Krieges und der nationalsozialistischen Diktatur an. Gleichzeitig liefern sich verschanzte Volkssturm- und Wehrmachtseinheiten noch letzte Kämpfe mit den einrückenden amerikanischen Truppenteilen, die am Völkerschlachtdenkmal bis in die Nacht zum 20. April 1945 andauern.
Die alliierten Luftangriffe haben etwa 6.000 Leipzigern, Evakuierten, Flüchtlingen aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches, Wehrmachtsangehörigen sowie Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen das Leben gekostet. Leipzig liegt in Trümmern, Hunderttausende sind obdachlos. Das Verkehrs- und Versorgungssystem kommt fast zum Erliegen, was vor allem die Lebensmittelversorgung erschwert.
»Von Seiten der antifaschistisch-demokratischen Parteien wurden mir die Augen geöffnet. Sie riefen jeden anständigen Deutschen zum Wiederaufbau. Hier wollte auch ich mit allen Kräften mithelfen.«
Gemäß den alliierten Vereinbarungen verlassen die amerikanischen Truppen Ende Juni 1945 das Stadtgebiet und überlassen Leipzig der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland
SMAD. Günter beteiligt sich als Stadtteilhelfer beim Wiederaufbau und arbeitet zeitweise im Jugendheim Heiterblick.
Als die Schulen im Mai 1945 wieder öffnen, holt er sein Abitur nach. 1946 erhält Günter einen Platz an der juristischen Fakultät der Universität Leipzig sowie ein Stipendium. Er engagiert sich im Fakultätsrat und wird im Dezember 1947 zum Vorsitzenden der juristischen Fakultät gewählt.
Doch der politische Einfluss der SED zieht mehr und mehr in die Universität ein, Schlüsselpositionen werden mit Parteimitgliedern besetzt. Der Studentenrat, in dem Günther seit 1948 Schriftführer ist, gerät in die öffentliche Kritik.
Wegen seines Bekenntnisses »Was moralisch schlecht, verwerflich ist, kann politisch nicht gut sein« werden Günter 1947 seitens der SED-Kreisleitung der Entzug des Stipendiums und die Exmatrikulation angedroht. Aber der Rektor der Universität wendet die Maß-nahmen ab, indem er sich auf das Recht der freien Meinungsäußerung bezieht, das in der sächsischen Verfassung verankert ist.
Schon im Juni 1946 ist Günter in die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDP, später LDPD) eingetreten und wird bald Mitglied des Sächsischen Landtags. Jedoch wird die LDPD »gleichgeschaltet« und als sogenannte Blockpartei in einheitliche Wahllisten der Nationalen Front unter Führung der SED eingebunden. Am 15. Oktober 1950 findet die erste Volkskammerwahl der 1949 gegründeten Deutschen Demokratischen Republik
DDR statt. Günter wird als Kandidat vorgeschlagen, aber abgelehnt – vermutlich, weil sich einmal kritisch über die schlechten Zustände in DDR-Gefängnissen geäußert hatte.
1950 legt Günter sein juristisches Staatsexamen ab und durchläuft ein dreijähriges Referendariat. Einer seiner ersten Aufträge für die Staatsanwaltschaft ist eine Reihe Haftbeschwerden von Prostituierten, die im Vorfeld der Leipziger Messe inhaftiert wurden – eine Maßnahme, welche die Moral des jungen SED-Staates sicherstellen sollte.
1953 erhält Günter seine Zulassung als Rechtsanwalt. Gemeinsam mit Hans Weigelt, einem SED-Parteimitglied, übernimmt er in der Arno-Nitzsche-Straße eine Kanzlei.
Von nun an führt Günter eine große Anzahl Strafrechtsprozesse, in denen er aus juristischer Überzeugung die Inhalte der DDR-Verfassung durchzusetzen versucht. Aus diesem Grunde vertritt er Minderheiten wie die Zeugen Jehovas, damit sie ihr Recht auf Religionsfreiheit wahrnehmen können. Vor allem aber arbeitet er als Strafverteidiger für private Unternehmer, die enteignet werden sollen.
»Das Zivilrecht war aufgrund der Verfassung im Gegensatz zur BRD fortschrittlich. Allerdings im Strafrecht wurde die Einengung durchgeführt. Ich nahm auf Grundlage der DDR-Gesetzgebung eine andere Haltung gegenüber der Staatsanwaltschaft ein und provozierte damit die schmerzvolle »Kollision« mit der SED-Justiz.«
Günter wird zu einer Person, die auffällt: Seine Fälle sprechen sich republikweit herum und seine Prinzipien treffen auf unterschiedliche Reaktionen beim Kollegium, der Staatsanwaltschaft und in Richterkreisen. Er verdient sehr gut und besitzt ein Devisenkonto, weil er auch westdeutsche Mandanten vertritt. Dass der 25-Jährige das Nachkriegsmodell eines Mercedes‘ fährt, den er von einem Mandanten mietet, mag zusätzlichen Neid entfachen.

Günter bei einem Ausflug mit Freunden, 1956
Am 17. Juni 1953 wird Günter Augenzeuge des großen Volksaufstands in der DDR. Rund eine Million Menschen in mehr als 700 Orten der DDR gehen an diesem Tag für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen, Demokratie, die Freilassung politischer Häftlinge, den Rücktritt der SED-Regierung, freie Wahlen und die Einheit Deutschlands auf die Straße. Der Volksaufstand ist der erste öffentliche Massenprotest im Machtbereich der Sowjetunion nach 1945. In Leipzig streiken 81 Betriebe und mindestens 40.000 Menschen nehmen an den Demonstrationen und Kundgebungen teil.
Die Strafverhandlung im Bezirksgericht Leipzig, in der Günter sich gerade befindet, wird aufgrund der Ereignisse abgebrochen. Weil es erst gegen elf Uhr ist, beschließt Günter, Mandanten in der benachbarten Untersuchungshaftanstalt (UHA) in der Beethovenstraße zu besuchen. Doch als er das Gebäude verlassen muss, da inzwischen eine Menschenmenge das Gefängnis belagert und das Wachpersonal sich bewaffnet, wird es laut. Heftige Schläge krachen von außen gegen das Einfahrtstor. Häftlinge brüllen aus ihren Zellen. Günter ist von der Situation zunehmend irritiert.
Auf dem Weg zum Hinterausgang begegnet er zwei Küchenhelfern, die sich bewaffnet haben, ihn für einen Staatsanwalt oder SED-Funktionär halten und bedrohen. Günter flieht an den Männern vorbei auf den Peterssteinweg. Dort erwartet ihn ein immenses Menschenaufgebot. Ein Pflasterstein fliegt knapp an seinem Kopf vorbei.
»Der Schock war nicht in Worte zu fassen.«
Bei der brutalen Niederschlagung des Aufstands durch sowjetische Panzer und Truppen kommen im Bezirk Leipzig neun Menschen zu Tode, mindestens 95 erleiden Verletzungen. Rund 1.000 Personen werden inhaftiert. Günter vertritt viele der Angeklagten und beruft sich auf das Streikrecht, das damals noch gilt – es wird in der DDR 1968 außer Kraft gesetzt. Doch das Oberste Gericht der DDR weist all seine Berufungen zurück. Etwa 100 Leipziger verurteilt man in Schauprozessen zu langjährigen Haftstrafen, eine Person erhält sogar die Todesstrafe.
Im Oktober 1955 wird Günter nach einer Verhandlung in Neuruppin überraschend von bewaffneten Kriminalbeamten festgenommen. Der Rechtsanwalt muss auf dem Rücksitz seines eigenen Autos Platz nehmen und wird nach Leipzig in die Beethovenstraße gefahren.
»Ich wurde in die UHA eingeliefert, wo ich aufgrund meiner Tätigkeit als Strafverteidiger ja alle kannte, auch den Anstaltsleiter. Saß ich plötzlich selbst mit als Untersuchungsge-fangener ein.«
Der Haftbefehl legt Günter und seinem Rechtsanwaltskollegen Hans Weigelt, der inzwischen auch verhaftet ist, Verbrechen gegen das Volkseigentum zur Last. Die Kollegen sollen in ihrer Kanzlei angeblich volkseigene Gelder veruntreut haben.
Günter befindet sich nun in einer besonderen Situation. Bis es zur Verhandlung kommt, sitzt er in Einzelhaft und lernt die Einsamkeit der Isolierung kennen. Auch der Hofgang erfolgt nur abgesondert von anderen Häftlingen. Das Wachpersonal, das Günter schon jahrelang durch seine Mandantenbesuche kennt, verhält sich ihm gegenüber distanziert, aber nicht unfreundlich.
»Das war eine nicht ganz einfache Sache, auch für die.«
Nach fünf Monaten, im April 1956, findet die Hauptverhandlung gegen Günter und seinen Kanzleikollegen am Leipziger Bezirksgericht statt – in Saal 115, dem gleichen Verhandlungsraum, in dem Günter am 17. Juni 1953 noch als Strafverteidiger stand. Nun sitzt er auf der Anklagebank und muss sich von einem Rechtsanwalt vertreten lassen.
»Das war obligatorisch. Im Bezirksgericht im Strafverfahren musste ein Angeklagter durch einen Anwalt vertreten sein. Wir besprachen gemeinsam die Anklage.«
Der Staatsanwalt Albert Holzmüller beantragt für Günter viereinhalb Jahre Zuchthaus, für Hans Weigelt drei Jahre und drei Monate Haft. Bis zur Urteilsverkündung vergehen Tage, in denen die Angeklagten wieder in ihrer Zelle warten. Dann erfolgt der erlösende Freispruch – mangels Beweises.
Staatsanwalt Holzmüller protestiert gegen diesen Freispruch und beantragt einen neuen Haftbefehl. Günter und sein Kollege Hans Weigelt legen ihrerseits Berufung gegen das Urteil ein, da es sie nicht vollständig entlastet. Wiederum müssen die beiden Angeklagten in die Einzelhaft gehen, bis das Oberste Gericht der DDR entscheidet.
Am 27. April 1956 spricht das Oberste Gericht der DDR in Berlin Günter und Hans Weigelt mangels Schuld frei. Auch ihre fünfmonatige Untersuchungshaft erkennt man als zu Unrecht erlitten an und zahlt dafür eine Entschädigung.
Nach diesem Freispruch darf Günter wieder als Anwalt tätig sein. Was ihm zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht bewusst ist, ist die Tatsache, dass das Ministerium für Staatssicherheit
MfS ihn schon seit 1954 überwacht. Über Jahre beobachten mehrere Informelle Mitarbeiter (IM), mit welchen Personen er Kontakt pflegt und in welchen Lokalen er in seiner Freizeit verkehrt. Auch das Telefon seiner Anwaltspraxis wird abgehört. Günter fällt wiederholt das verdächtige Knacken in der Leitung auf.
MfS-Leiter Erich Mielke persönlich ordnet an, Günter während seines Skiurlaubs in der Hohen Tatra im Frühjahr 1958 zu bespitzeln. Dieser Urlaub bleibt Günter in Erinnerung, da er sich bei einem Skiunfall schwer verletzt und nach einer komplizierten Operation noch über ein Jahr stark eingeschränkt ist.
Nachdem Günter wieder in der Lage ist, Auto zu fahren, fällt ihm eine weitere Beobachtungsmaßnahme der Stasi auf: ein roter Wartburg folgt seinem Auto stets, wenn er von der Kanzlei nach Hause fährt.
»Das war schon ein unangenehmes Gefühl.«
Günter wehrt sich gegen diese Beschattung und meldet den Vorfall beim Bezirksstaatsanwalt. In der Folge benutzen die MfS-Beamten einfach ein anderes Fahrzeug, um Günter zu verfolgen.
Gedanken darüber, die DDR zu verlassen, macht sich Günter nie. Einerseits hat der Anfang 30-Jährige nach wie vor eine enge Bindung zu seinen Pflegeeltern, mit denen er auch zusammenwohnt. Andererseits übt er seinen Beruf sehr gern aus und ist angesehen. Doch aufgrund seiner juristischen Überzeugungen und seiner oft sehr leidenschaftlichen Plädoyers ist er der SED-Führung ein Dorn im Fleisch.
Im September 1961 tritt Günter gemeinsam mit einem Freund eine dreiwöchige Urlaubsreise in die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien an. Schon bald fällt ihm einer der Reisegäste negativ auf, da er sich Günter unangenehm aufdrängt.
Am Tag vor dem Rückflug findet Günter sein Hotelzimmer durchsucht vor. Er verdächtigt den unangenehmen Reisegast und geht zu den jugoslawischen Behörden. Doch anstatt Unterstützung zu bekommen, wird Günter selbst verhaftet. Günter wird an die DDR ausgeliefert und findet sich plötzlich abermals in der Einzelhaft einer Leipziger Untersuchungshaftanstalt wieder.
»Aber jetzt bei der Staatssicherheit. Es waren ja zwei Gefängnisse in dem Komplex: die Untersuchungshaftanstalt in der Beethovenstraße und das frühere Polizeigefängnis in der Dimitroffstraße, jetzt Haftanstalt der Staatssicherheit.«
Noch bevor überhaupt Anklage gegen ihn erhoben wird, trifft Günter ein herber Schlag: Sowohl das Kollegium der Rechtsanwälte als auch seine Parteikollegen von der LDPD wenden sich von ihm ab und schließen ihn aus ihren Reihen aus.
Die Untersuchungshaft ist von etlichen Vernehmungen gekennzeichnet. Dann eröffnet der 1. Strafsenat des Bezirksgerichts Leipzig am 25. Januar 1962 ein Strafverfahren gegen Günter, das ihn illegaler Reisen ins kapitalistische Ausland und des Versuchs des illegalen Verlassens der DDR beschuldigt – und damit des Verrats am Arbeiter- und Bauernstaat.

Der Eröffnungsbeschluss für das Strafverfahren gegen Günter vom 25. Januar 1962
Günter fällt angesichts der völlig abwegigen Anklage aus allen Wolken. Nicht im Entferntesten hegte er die Absicht, die DDR zu verlassen. Doch der Eröffnungsbeschluss des Strafverfahrens behauptet, Günter habe sich geweigert, die jugoslawische Republik zu verlassen und habe Asyl bei den Behörden ersucht.
Auch mit seinem diesmaligen Strafverteidiger bespricht Günter die Argumentation für das Plädoyer detailliert. In der Verhandlung, die am 8. Februar 1962 stattfindet, beantragt Günters Rechtsanwalt den Freispruch für seinen Mandanten. Doch er hat keinen Erfolg. Günter wird zur gesetzlichen Höchststrafe verurteilt – zwei Jahre Gefängnis.
Am 2. April 1962 wird er aus der UHA des MfS in die Strafvollzugseinrichtung Alfred-Kästner-Straße Leipzig verlegt, eine Sammelstation, von wo aus die Überführungen der Strafgefangenen in andere Gefängnisse erfolgen.
»Dort traf ich einen Mandanten, Herrn Bilke. Ich bin wahrscheinlich der einzige Anwalt, der dann als Häftling seinen verurteilten Mandanten traf. Das ist sicher einmalig.«
Nur für kurze Zeit findet Günter Gelegenheit, sich mit dem Strafgefangenen Jörg Bilke auszutauschen, der ja eigentlich sein Mandant werden sollte – doch als im Dezember 1961 über Jörg Bilkes Schicksal entschieden wird, sitzt Günter bereits in Haft und kann den Westdeutschen nicht vor Gericht vertreten.
Dann wird Günter nach Naumburg gebracht. Die dortige Gefängnisanlage geht auf ein Königliches Schwurgericht aus der Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. Anfangs sitzen sowohl Männer, Frauen als auch jugendliche Straftäter ein, später sind die Zellenhäuser nur noch für männliche Strafgefangene und Untersuchungshäftlinge vorgesehen. Zu DDR-Zeiten ist die Strafvollzugseinrichtung mit einer Vielzahl politischer Gefangener belegt, die ebenso wie ihre kriminellen Mithäftlinge Zwangsarbeit innerhalb und außerhalb der Einrichtung leisten.
Günter muss Einkaufskörbe aus Drahtgeflecht für das staatliche Einzelhandelsunternehmen der DDR, die Handelsorganisation (HO), fertigen. Er wird in einer Drei-Mann-Zelle untergebracht. Die Häftlinge werden regelmäßig ausgewechselt, doch es befinden sich auch Zellenspitzel unter ihnen.
Günter hält sich seinen Mithäftlingen gegenüber stets zurück und gibt auch seinen Beruf nicht preis. Da er mit seinen 34 Jahren zu den jungen Häftlingen zählt und in körperlich guter Verfassung ist, setzt man ihn zur Haftarbeit im Gleisbaukommando des Braunkohlentagebaus Profen ein.
Mit einem Bus, bei dem die Scheiben verhüllt sind, werden die Strafgefangenen morgens zur Arbeit in den Tagebau gefahren. Als Gleisbauhelfer leisten sie eine sehr schwere Arbeit und müssen Gleisschwellen von Hand transportieren oder mit einer Schaufel die angehobenen Schwellen ausstopfen, und das unter allen Witterungsbedingungen.
Auf der Arbeitsstelle werden die Häftlinge allerdings mit der üblichen Bergmannsverpflegung verköstigt. Seine erste warme Bockwurst nach Monaten der anspruchslosen Gefängniskost ist Günter als Hochgenuss in Erinnerung. Die Haftarbeiter erhalten auch eine gewisse Vergütung für ihre Tätigkeit, mit der sie im Konsum der Haftanstalt einkaufen können.
Aufgrund eines Antrags des Bezirksstaatsanwalts und einer Maßnahme nach Paragraf 346 der Strafprozessordnung (StPO) der DDR erfolgt schließlich eine bedingte Strafaussetzung, die Günter im September 1962 eine vorzeitige Haftentlassung ermöglicht.
Nach der Haftentlassung sieht sich Günter mit einem ungewohnten Problem konfrontiert. Jahrelang konnte er sich vor lauter Aufträgen kaum Auszeiten nehmen, nun ist er arbeitslos, denn seinen Beruf als Rechtsanwalt darf er aufgrund des Ausschlusses aus dem Kollegium nicht mehr ausüben.
Günter arbeitet kurzzeitig als Jurist im VEB Montagewerk Leipzig. 1967 wechselt er als Justiziar zur Vereinigung Volkseigener Warenhäuser. 1970 promoviert Günter an der Leipziger Juristenfakultät zum Thema »Einführung von Käuferrechten in das DDR-Zivil-Gesetzbuch«. Operative Kontrollen finden nach Günters Haftentlassung offenbar nicht mehr statt, aber die Überwachung seiner Post hält noch bis 1988 an.
Eine bemerkenswerte Begegnung hat Günter eines Tages mit dem früheren Leiter der Justizverwaltung, der ihn als Vorsitzender des Bezirksgerichts 1961 verurteilte. Der Mann, den Günter zufällig auf der Straße trifft, erklärt ihm, dass er damals eine Weisung der Bezirksleitung der SED erhalten hätte, ihn zu verurteilen. Als Parteigenosse wäre ihm nichts übriggeblieben, als diese Weisung zu befolgen.
Die Vorgänge der Friedlichen Revolution im Herbst 1989 erlebt Günter interessiert und zunehmend euphorisch, nimmt aber an den Demonstrationen selbst nicht teil. Angesichts seiner Vergangenheit ist er vorsichtig, aus Skepsis, wie der Protest verlaufen wird.
Worin er sich allerdings erneut und mit großer Initiative engagiert, ist die Politik. Günter gehört zu den Mitbegründern der Ost-FDP in Sachsen. Im wiedervereinten Deutschland wird er Abgeordneter des ersten Landtags des Freistaates Sachsen. Von 1990 bis 1993 übernimmt Günter den Fraktionsvorsitz, zwischen 1994 und 1998 den stellvertretenden Landesvorsitz der sächsischen FDP. Als Mitglied des Verfassungs- und Rechtsausschusses wirkt er intensiv an der Entstehung der sächsischen Verfassung von 1992 mit.
Einen wichtigen Meilenstein in Günters Leben stellt seine berufliche Rehabilitierung im Januar 1990 dar, die ihm nach 29 Jahren Berufsverbot wieder die Ausübung seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt ermöglicht. Die zugleich angetragene Berufung zum Staatssekretär im Justizministerium schlägt er aus.
Mit großer Freude übt der mittlerweile 64-Jährige anschließend wieder seinen Beruf aus. Günter ist Mitglied im Vorstand der Rechtsanwaltskammer und 2001 bis 2007 deren Präsident. Die Bundesrechtsanwaltskammer ernennt ihn zum Beauftragten für Osteuropa, wodurch er nachbarschaftliche Beziehungen zu Polen, Tschechien und der Slowakei auf den Weg bringt und Freundschaftsverträge abschließt. Für sein Wirken wird Günter mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt, wie dem Großen Bundesverdienstkreuz, dem Sächsischen Verdienstorden und der Ehrenmedaille des Sächsischen Landtags.
Erst im Jahr 2000 nimmt Günter Einsicht in seine Stasiakten. Die Mitarbeiter der Behörde bringen ihm zwei Handwagen voller Unterlagen. Günter ist entsetzt, als er das Ausmaß der operativen Überwachung seiner Person und die Klarnamen seiner 14 Spitzel erfährt. Im Anschluss versucht er, einen der damaligen IM, mit dem er viele Jahre befreundet war, zu konfrontieren, doch dieser lehnt jeglichen Kontakt ab.
Günter heiratet 2003, doch leider ist ihm mit seiner Frau Gitta Blank nicht viel gemeinsame Lebenszeit vergönnt. Gitta stirbt 2015 nach schwerer Krankheit.

Günter und Gitta, 2000
2018 wird Günter die Ehrendoktorwürde der Juristischen Fakultät an der Universität Leipzig verliehen, was er als Höhepunkt von allerhand Ruhm und Ehre bezeichnet. Lange noch geht er seinem Beruf nach und ist der älteste praktizierende Rechtsanwalt in Sachsen.
Günter engagiert sich gesellschaftlich in vielfältiger Weise. Als Zeitzeuge trägt er zur Mahnung an die Unrechtsherrschaft der SED bei. 2021 wird sein Leben durch den Journalisten Thomas Mayer mit dem Buch »Lebenslang dem Recht verpflichtet. Günter Kröber – Rechtsanwalt und Liberaler im geteilten und wiedervereinigten Deutschland« dokumentiert.
Im Alter von 96 Jahren, am 26. September 2024, stirbt Dr. Günter Kröber.
»Ich bin wahrscheinlich der einzige Anwalt, der als Häftling seinen Mandanten traf.«
Hans-Günter Kröber wird am 12. Januar 1928 in Leipzig als uneheliches Kind geboren und findet im Alter von anderthalb Jahren ein Zuhause bei den Pflegeeltern Louise und Walter Beckert in Leipzig-Lindenau. Hier verlebt Günter eine liebevolle Kindheit. Die Identität seines Vaters bleibt ihm Zeit seines Lebens unbekannt.
Ab 1934 besucht Günter die Volksschule und ab 1940 die Höhere Knabenschule in der Oststraße. Wie alle Jungen seines Jahrgangs wird er im Alter von zehn Jahren in die nationalsozialistische Jugendorganisation Deutsches Jungvolk aufgenommen. Als der Zweite Weltkrieg ausbricht, ist Günter elf Jahre alt. 1943 leistet er einen nächtlichen Luftschutzwachdienst in seiner Oberschule ab.
»Da kriegten wir morgens 50 Pfennig und eine Cebion-Tablette. Ich war Pimpf in der Deutschen Jugend und spielte dort auch eine gewisse Rolle als Jungzugführer. Aber ich wurde nicht in die Hitlerjugend übernommen.«
In den frühen Morgenstunden des 4. Dezember 1943 erlebt Leipzig seinen schwersten Luftangriff durch britische Bomben. Tragödien spielen sich ab: Autos und Bäume werden im Feuersturm mitgerissen, Gebäude brennen und stürzen ein und fordern die Leben unschuldiger Zivilisten. Auch Günters Schule brennt ab.
Günter erhält einen Einberufungsbefehl zur Wehrmacht für den 25. April 1945. Doch bereits am 17. April 1945 ziehen US-amerikanische Truppen in Leipzig ein. Tags darauf wehen weiße Fahnen und zeigen das Ende des Krieges und der nationalsozialistischen Diktatur an. Gleichzeitig liefern sich verschanzte Volkssturm- und Wehrmachtseinheiten noch letzte Kämpfe mit den einrückenden amerikanischen Truppenteilen, die am Völkerschlachtdenkmal bis in die Nacht zum 20. April 1945 andauern.
Die alliierten Luftangriffe haben etwa 6.000 Leipzigern, Evakuierten, Flüchtlingen aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches, Wehrmachtsangehörigen sowie Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen das Leben gekostet. Leipzig liegt in Trümmern, Hunderttausende sind obdachlos. Das Verkehrs- und Versorgungssystem kommt fast zum Erliegen, was vor allem die Lebensmittelversorgung erschwert.
»Von Seiten der antifaschistisch-demokratischen Parteien wurden mir die Augen geöffnet. Sie riefen jeden anständigen Deutschen zum Wiederaufbau. Hier wollte auch ich mit allen Kräften mithelfen.«
Gemäß den alliierten Vereinbarungen verlassen die amerikanischen Truppen Ende Juni 1945 das Stadtgebiet und überlassen Leipzig der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland
SMAD. Günter beteiligt sich als Stadtteilhelfer beim Wiederaufbau und arbeitet zeitweise im Jugendheim Heiterblick.
Als die Schulen im Mai 1945 wieder öffnen, holt er sein Abitur nach. 1946 erhält Günter einen Platz an der juristischen Fakultät der Universität Leipzig sowie ein Stipendium. Er engagiert sich im Fakultätsrat und wird im Dezember 1947 zum Vorsitzenden der juristischen Fakultät gewählt.
Doch der politische Einfluss der SED zieht mehr und mehr in die Universität ein, Schlüsselpositionen werden mit Parteimitgliedern besetzt. Der Studentenrat, in dem Günther seit 1948 Schriftführer ist, gerät in die öffentliche Kritik.
Wegen seines Bekenntnisses »Was moralisch schlecht, verwerflich ist, kann politisch nicht gut sein« werden Günter 1947 seitens der SED-Kreisleitung der Entzug des Stipendiums und die Exmatrikulation angedroht. Aber der Rektor der Universität wendet die Maß-nahmen ab, indem er sich auf das Recht der freien Meinungsäußerung bezieht, das in der sächsischen Verfassung verankert ist.
Schon im Juni 1946 ist Günter in die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDP, später LDPD) eingetreten und wird bald Mitglied des Sächsischen Landtags. Jedoch wird die LDPD »gleichgeschaltet« und als sogenannte Blockpartei in einheitliche Wahllisten der Nationalen Front unter Führung der SED eingebunden. Am 15. Oktober 1950 findet die erste Volkskammerwahl der 1949 gegründeten Deutschen Demokratischen Republik
DDR statt. Günter wird als Kandidat vorgeschlagen, aber abgelehnt – vermutlich, weil sich einmal kritisch über die schlechten Zustände in DDR-Gefängnissen geäußert hatte.
1950 legt Günter sein juristisches Staatsexamen ab und durchläuft ein dreijähriges Referendariat. Einer seiner ersten Aufträge für die Staatsanwaltschaft ist eine Reihe Haftbeschwerden von Prostituierten, die im Vorfeld der Leipziger Messe inhaftiert wurden – eine Maßnahme, welche die Moral des jungen SED-Staates sicherstellen sollte.
1953 erhält Günter seine Zulassung als Rechtsanwalt. Gemeinsam mit Hans Weigelt, einem SED-Parteimitglied, übernimmt er in der Arno-Nitzsche-Straße eine Kanzlei.
Von nun an führt Günter eine große Anzahl Strafrechtsprozesse, in denen er aus juristischer Überzeugung die Inhalte der DDR-Verfassung durchzusetzen versucht. Aus diesem Grunde vertritt er Minderheiten wie die Zeugen Jehovas, damit sie ihr Recht auf Religionsfreiheit wahrnehmen können. Vor allem aber arbeitet er als Strafverteidiger für private Unternehmer, die enteignet werden sollen.
»Das Zivilrecht war aufgrund der Verfassung im Gegensatz zur BRD fortschrittlich. Allerdings im Strafrecht wurde die Einengung durchgeführt. Ich nahm auf Grundlage der DDR-Gesetzgebung eine andere Haltung gegenüber der Staatsanwaltschaft ein und provozierte damit die schmerzvolle »Kollision« mit der SED-Justiz.«
Günter wird zu einer Person, die auffällt: Seine Fälle sprechen sich republikweit herum und seine Prinzipien treffen auf unterschiedliche Reaktionen beim Kollegium, der Staatsanwaltschaft und in Richterkreisen. Er verdient sehr gut und besitzt ein Devisenkonto, weil er auch westdeutsche Mandanten vertritt. Dass der 25-Jährige das Nachkriegsmodell eines Mercedes‘ fährt, den er von einem Mandanten mietet, mag zusätzlichen Neid entfachen.

Günter bei einem Ausflug mit Freunden, 1956
Am 17. Juni 1953 wird Günter Augenzeuge des großen Volksaufstands in der DDR. Rund eine Million Menschen in mehr als 700 Orten der DDR gehen an diesem Tag für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen, Demokratie, die Freilassung politischer Häftlinge, den Rücktritt der SED-Regierung, freie Wahlen und die Einheit Deutschlands auf die Straße. Der Volksaufstand ist der erste öffentliche Massenprotest im Machtbereich der Sowjetunion nach 1945. In Leipzig streiken 81 Betriebe und mindestens 40.000 Menschen nehmen an den Demonstrationen und Kundgebungen teil.
Die Strafverhandlung im Bezirksgericht Leipzig, in der Günter sich gerade befindet, wird aufgrund der Ereignisse abgebrochen. Weil es erst gegen elf Uhr ist, beschließt Günter, Mandanten in der benachbarten Untersuchungshaftanstalt (UHA) in der Beethovenstraße zu besuchen. Doch als er das Gebäude verlassen muss, da inzwischen eine Menschenmenge das Gefängnis belagert und das Wachpersonal sich bewaffnet, wird es laut. Heftige Schläge krachen von außen gegen das Einfahrtstor. Häftlinge brüllen aus ihren Zellen. Günter ist von der Situation zunehmend irritiert.
Auf dem Weg zum Hinterausgang begegnet er zwei Küchenhelfern, die sich bewaffnet haben, ihn für einen Staatsanwalt oder SED-Funktionär halten und bedrohen. Günter flieht an den Männern vorbei auf den Peterssteinweg. Dort erwartet ihn ein immenses Menschenaufgebot. Ein Pflasterstein fliegt knapp an seinem Kopf vorbei.
»Der Schock war nicht in Worte zu fassen.«
Bei der brutalen Niederschlagung des Aufstands durch sowjetische Panzer und Truppen kommen im Bezirk Leipzig neun Menschen zu Tode, mindestens 95 erleiden Verletzungen. Rund 1.000 Personen werden inhaftiert. Günter vertritt viele der Angeklagten und beruft sich auf das Streikrecht, das damals noch gilt – es wird in der DDR 1968 außer Kraft gesetzt. Doch das Oberste Gericht der DDR weist all seine Berufungen zurück. Etwa 100 Leipziger verurteilt man in Schauprozessen zu langjährigen Haftstrafen, eine Person erhält sogar die Todesstrafe.
Im Oktober 1955 wird Günter nach einer Verhandlung in Neuruppin überraschend von bewaffneten Kriminalbeamten festgenommen. Der Rechtsanwalt muss auf dem Rücksitz seines eigenen Autos Platz nehmen und wird nach Leipzig in die Beethovenstraße gefahren.
»Ich wurde in die UHA eingeliefert, wo ich aufgrund meiner Tätigkeit als Strafverteidiger ja alle kannte, auch den Anstaltsleiter. Saß ich plötzlich selbst mit als Untersuchungsge-fangener ein.«
Der Haftbefehl legt Günter und seinem Rechtsanwaltskollegen Hans Weigelt, der inzwischen auch verhaftet ist, Verbrechen gegen das Volkseigentum zur Last. Die Kollegen sollen in ihrer Kanzlei angeblich volkseigene Gelder veruntreut haben.
Günter befindet sich nun in einer besonderen Situation. Bis es zur Verhandlung kommt, sitzt er in Einzelhaft und lernt die Einsamkeit der Isolierung kennen. Auch der Hofgang erfolgt nur abgesondert von anderen Häftlingen. Das Wachpersonal, das Günter schon jahrelang durch seine Mandantenbesuche kennt, verhält sich ihm gegenüber distanziert, aber nicht unfreundlich.
»Das war eine nicht ganz einfache Sache, auch für die.«
Nach fünf Monaten, im April 1956, findet die Hauptverhandlung gegen Günter und seinen Kanzleikollegen am Leipziger Bezirksgericht statt – in Saal 115, dem gleichen Verhandlungsraum, in dem Günter am 17. Juni 1953 noch als Strafverteidiger stand. Nun sitzt er auf der Anklagebank und muss sich von einem Rechtsanwalt vertreten lassen.
»Das war obligatorisch. Im Bezirksgericht im Strafverfahren musste ein Angeklagter durch einen Anwalt vertreten sein. Wir besprachen gemeinsam die Anklage.«
Der Staatsanwalt Albert Holzmüller beantragt für Günter viereinhalb Jahre Zuchthaus, für Hans Weigelt drei Jahre und drei Monate Haft. Bis zur Urteilsverkündung vergehen Tage, in denen die Angeklagten wieder in ihrer Zelle warten. Dann erfolgt der erlösende Freispruch – mangels Beweises.
Staatsanwalt Holzmüller protestiert gegen diesen Freispruch und beantragt einen neuen Haftbefehl. Günter und sein Kollege Hans Weigelt legen ihrerseits Berufung gegen das Urteil ein, da es sie nicht vollständig entlastet. Wiederum müssen die beiden Angeklagten in die Einzelhaft gehen, bis das Oberste Gericht der DDR entscheidet.
Am 27. April 1956 spricht das Oberste Gericht der DDR in Berlin Günter und Hans Weigelt mangels Schuld frei. Auch ihre fünfmonatige Untersuchungshaft erkennt man als zu Unrecht erlitten an und zahlt dafür eine Entschädigung.
Nach diesem Freispruch darf Günter wieder als Anwalt tätig sein. Was ihm zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht bewusst ist, ist die Tatsache, dass das Ministerium für Staatssicherheit
MfS ihn schon seit 1954 überwacht. Über Jahre beobachten mehrere Informelle Mitarbeiter (IM), mit welchen Personen er Kontakt pflegt und in welchen Lokalen er in seiner Freizeit verkehrt. Auch das Telefon seiner Anwaltspraxis wird abgehört. Günter fällt wiederholt das verdächtige Knacken in der Leitung auf.
MfS-Leiter Erich Mielke persönlich ordnet an, Günter während seines Skiurlaubs in der Hohen Tatra im Frühjahr 1958 zu bespitzeln. Dieser Urlaub bleibt Günter in Erinnerung, da er sich bei einem Skiunfall schwer verletzt und nach einer komplizierten Operation noch über ein Jahr stark eingeschränkt ist.
Nachdem Günter wieder in der Lage ist, Auto zu fahren, fällt ihm eine weitere Beobachtungsmaßnahme der Stasi auf: ein roter Wartburg folgt seinem Auto stets, wenn er von der Kanzlei nach Hause fährt.
»Das war schon ein unangenehmes Gefühl.«
Günter wehrt sich gegen diese Beschattung und meldet den Vorfall beim Bezirksstaatsanwalt. In der Folge benutzen die MfS-Beamten einfach ein anderes Fahrzeug, um Günter zu verfolgen.
Gedanken darüber, die DDR zu verlassen, macht sich Günter nie. Einerseits hat der Anfang 30-Jährige nach wie vor eine enge Bindung zu seinen Pflegeeltern, mit denen er auch zusammenwohnt. Andererseits übt er seinen Beruf sehr gern aus und ist angesehen. Doch aufgrund seiner juristischen Überzeugungen und seiner oft sehr leidenschaftlichen Plädoyers ist er der SED-Führung ein Dorn im Fleisch.
Im September 1961 tritt Günter gemeinsam mit einem Freund eine dreiwöchige Urlaubsreise in die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien an. Schon bald fällt ihm einer der Reisegäste negativ auf, da er sich Günter unangenehm aufdrängt.
Am Tag vor dem Rückflug findet Günter sein Hotelzimmer durchsucht vor. Er verdächtigt den unangenehmen Reisegast und geht zu den jugoslawischen Behörden. Doch anstatt Unterstützung zu bekommen, wird Günter selbst verhaftet. Günter wird an die DDR ausgeliefert und findet sich plötzlich abermals in der Einzelhaft einer Leipziger Untersuchungshaftanstalt wieder.
»Aber jetzt bei der Staatssicherheit. Es waren ja zwei Gefängnisse in dem Komplex: die Untersuchungshaftanstalt in der Beethovenstraße und das frühere Polizeigefängnis in der Dimitroffstraße, jetzt Haftanstalt der Staatssicherheit.«
Noch bevor überhaupt Anklage gegen ihn erhoben wird, trifft Günter ein herber Schlag: Sowohl das Kollegium der Rechtsanwälte als auch seine Parteikollegen von der LDPD wenden sich von ihm ab und schließen ihn aus ihren Reihen aus.
Die Untersuchungshaft ist von etlichen Vernehmungen gekennzeichnet. Dann eröffnet der 1. Strafsenat des Bezirksgerichts Leipzig am 25. Januar 1962 ein Strafverfahren gegen Günter, das ihn illegaler Reisen ins kapitalistische Ausland und des Versuchs des illegalen Verlassens der DDR beschuldigt – und damit des Verrats am Arbeiter- und Bauernstaat.

Der Eröffnungsbeschluss für das Strafverfahren gegen Günter vom 25. Januar 1962
Günter fällt angesichts der völlig abwegigen Anklage aus allen Wolken. Nicht im Entferntesten hegte er die Absicht, die DDR zu verlassen. Doch der Eröffnungsbeschluss des Strafverfahrens behauptet, Günter habe sich geweigert, die jugoslawische Republik zu verlassen und habe Asyl bei den Behörden ersucht.
Auch mit seinem diesmaligen Strafverteidiger bespricht Günter die Argumentation für das Plädoyer detailliert. In der Verhandlung, die am 8. Februar 1962 stattfindet, beantragt Günters Rechtsanwalt den Freispruch für seinen Mandanten. Doch er hat keinen Erfolg. Günter wird zur gesetzlichen Höchststrafe verurteilt – zwei Jahre Gefängnis.
Am 2. April 1962 wird er aus der UHA des MfS in die Strafvollzugseinrichtung Alfred-Kästner-Straße Leipzig verlegt, eine Sammelstation, von wo aus die Überführungen der Strafgefangenen in andere Gefängnisse erfolgen.
»Dort traf ich einen Mandanten, Herrn Bilke. Ich bin wahrscheinlich der einzige Anwalt, der dann als Häftling seinen verurteilten Mandanten traf. Das ist sicher einmalig.«
Nur für kurze Zeit findet Günter Gelegenheit, sich mit dem Strafgefangenen Jörg Bilke auszutauschen, der ja eigentlich sein Mandant werden sollte – doch als im Dezember 1961 über Jörg Bilkes Schicksal entschieden wird, sitzt Günter bereits in Haft und kann den Westdeutschen nicht vor Gericht vertreten.
Dann wird Günter nach Naumburg gebracht. Die dortige Gefängnisanlage geht auf ein Königliches Schwurgericht aus der Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. Anfangs sitzen sowohl Männer, Frauen als auch jugendliche Straftäter ein, später sind die Zellenhäuser nur noch für männliche Strafgefangene und Untersuchungshäftlinge vorgesehen. Zu DDR-Zeiten ist die Strafvollzugseinrichtung mit einer Vielzahl politischer Gefangener belegt, die ebenso wie ihre kriminellen Mithäftlinge Zwangsarbeit innerhalb und außerhalb der Einrichtung leisten.
Günter muss Einkaufskörbe aus Drahtgeflecht für das staatliche Einzelhandelsunternehmen der DDR, die Handelsorganisation (HO), fertigen. Er wird in einer Drei-Mann-Zelle untergebracht. Die Häftlinge werden regelmäßig ausgewechselt, doch es befinden sich auch Zellenspitzel unter ihnen.
Günter hält sich seinen Mithäftlingen gegenüber stets zurück und gibt auch seinen Beruf nicht preis. Da er mit seinen 34 Jahren zu den jungen Häftlingen zählt und in körperlich guter Verfassung ist, setzt man ihn zur Haftarbeit im Gleisbaukommando des Braunkohlentagebaus Profen ein.
Mit einem Bus, bei dem die Scheiben verhüllt sind, werden die Strafgefangenen morgens zur Arbeit in den Tagebau gefahren. Als Gleisbauhelfer leisten sie eine sehr schwere Arbeit und müssen Gleisschwellen von Hand transportieren oder mit einer Schaufel die angehobenen Schwellen ausstopfen, und das unter allen Witterungsbedingungen.
Auf der Arbeitsstelle werden die Häftlinge allerdings mit der üblichen Bergmannsverpflegung verköstigt. Seine erste warme Bockwurst nach Monaten der anspruchslosen Gefängniskost ist Günter als Hochgenuss in Erinnerung. Die Haftarbeiter erhalten auch eine gewisse Vergütung für ihre Tätigkeit, mit der sie im Konsum der Haftanstalt einkaufen können.
Aufgrund eines Antrags des Bezirksstaatsanwalts und einer Maßnahme nach Paragraf 346 der Strafprozessordnung (StPO) der DDR erfolgt schließlich eine bedingte Strafaussetzung, die Günter im September 1962 eine vorzeitige Haftentlassung ermöglicht.
Nach der Haftentlassung sieht sich Günter mit einem ungewohnten Problem konfrontiert. Jahrelang konnte er sich vor lauter Aufträgen kaum Auszeiten nehmen, nun ist er arbeitslos, denn seinen Beruf als Rechtsanwalt darf er aufgrund des Ausschlusses aus dem Kollegium nicht mehr ausüben.
Günter arbeitet kurzzeitig als Jurist im VEB Montagewerk Leipzig. 1967 wechselt er als Justiziar zur Vereinigung Volkseigener Warenhäuser. 1970 promoviert Günter an der Leipziger Juristenfakultät zum Thema »Einführung von Käuferrechten in das DDR-Zivil-Gesetzbuch«. Operative Kontrollen finden nach Günters Haftentlassung offenbar nicht mehr statt, aber die Überwachung seiner Post hält noch bis 1988 an.
Eine bemerkenswerte Begegnung hat Günter eines Tages mit dem früheren Leiter der Justizverwaltung, der ihn als Vorsitzender des Bezirksgerichts 1961 verurteilte. Der Mann, den Günter zufällig auf der Straße trifft, erklärt ihm, dass er damals eine Weisung der Bezirksleitung der SED erhalten hätte, ihn zu verurteilen. Als Parteigenosse wäre ihm nichts übriggeblieben, als diese Weisung zu befolgen.
Die Vorgänge der Friedlichen Revolution im Herbst 1989 erlebt Günter interessiert und zunehmend euphorisch, nimmt aber an den Demonstrationen selbst nicht teil. Angesichts seiner Vergangenheit ist er vorsichtig, aus Skepsis, wie der Protest verlaufen wird.
Worin er sich allerdings erneut und mit großer Initiative engagiert, ist die Politik. Günter gehört zu den Mitbegründern der Ost-FDP in Sachsen. Im wiedervereinten Deutschland wird er Abgeordneter des ersten Landtags des Freistaates Sachsen. Von 1990 bis 1993 übernimmt Günter den Fraktionsvorsitz, zwischen 1994 und 1998 den stellvertretenden Landesvorsitz der sächsischen FDP. Als Mitglied des Verfassungs- und Rechtsausschusses wirkt er intensiv an der Entstehung der sächsischen Verfassung von 1992 mit.
Einen wichtigen Meilenstein in Günters Leben stellt seine berufliche Rehabilitierung im Januar 1990 dar, die ihm nach 29 Jahren Berufsverbot wieder die Ausübung seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt ermöglicht. Die zugleich angetragene Berufung zum Staatssekretär im Justizministerium schlägt er aus.
Mit großer Freude übt der mittlerweile 64-Jährige anschließend wieder seinen Beruf aus. Günter ist Mitglied im Vorstand der Rechtsanwaltskammer und 2001 bis 2007 deren Präsident. Die Bundesrechtsanwaltskammer ernennt ihn zum Beauftragten für Osteuropa, wodurch er nachbarschaftliche Beziehungen zu Polen, Tschechien und der Slowakei auf den Weg bringt und Freundschaftsverträge abschließt. Für sein Wirken wird Günter mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt, wie dem Großen Bundesverdienstkreuz, dem Sächsischen Verdienstorden und der Ehrenmedaille des Sächsischen Landtags.
Erst im Jahr 2000 nimmt Günter Einsicht in seine Stasiakten. Die Mitarbeiter der Behörde bringen ihm zwei Handwagen voller Unterlagen. Günter ist entsetzt, als er das Ausmaß der operativen Überwachung seiner Person und die Klarnamen seiner 14 Spitzel erfährt. Im Anschluss versucht er, einen der damaligen IM, mit dem er viele Jahre befreundet war, zu konfrontieren, doch dieser lehnt jeglichen Kontakt ab.
Günter heiratet 2003, doch leider ist ihm mit seiner Frau Gitta Blank nicht viel gemeinsame Lebenszeit vergönnt. Gitta stirbt 2015 nach schwerer Krankheit.

Günter und Gitta, 2000
2018 wird Günter die Ehrendoktorwürde der Juristischen Fakultät an der Universität Leipzig verliehen, was er als Höhepunkt von allerhand Ruhm und Ehre bezeichnet. Lange noch geht er seinem Beruf nach und ist der älteste praktizierende Rechtsanwalt in Sachsen.
Günter engagiert sich gesellschaftlich in vielfältiger Weise. Als Zeitzeuge trägt er zur Mahnung an die Unrechtsherrschaft der SED bei. 2021 wird sein Leben durch den Journalisten Thomas Mayer mit dem Buch »Lebenslang dem Recht verpflichtet. Günter Kröber – Rechtsanwalt und Liberaler im geteilten und wiedervereinigten Deutschland« dokumentiert.
Im Alter von 96 Jahren, am 26. September 2024, stirbt Dr. Günter Kröber.