»Ich wollte, dass meine Mutter weiß, dass ich noch lebe.«
Am 16. August 1929 kommt Margitta Tosch im brandenburgischen Sonnewalde auf die Welt. Hier betreiben ihre Eltern eine Landwirtschaft mit zahlreichen Tieren und 20 Hektar Land. Margitta und ihr älterer Bruder Wedigo lernen von ihren fleißigen Eltern, von Anfang an nach Kräften mitzuhelfen, sei es nun bei der Kartoffellese oder beim Rübenverziehen.
Noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erkrankt Familienvater Hermann Tosch schwer. Sein Nierenleiden verhindert zwar, dass er zur Wehrmacht eingezogen wird, doch er muss sich einer Operation unterziehen, die mit hohen Kosten verbunden ist. Weil ihre Felder weit auseinander liegen, zieht die Familie 1940 auf ein Grundstück um, das günstiger liegt. Es ist das Areal eines alten Sägewerks, das ein Haus und mehrere Baracken umfasst.
Mit zehn Jahren tritt Margitta in den Jungmädelbund ein, von dem aus sie im Alter von 14 Jahren in den Bund Deutscher Mädel (BDM) der nationalsozialistischen Hitlerjugend übernommen wird. Als Mädelschaftführerin steht sie einer Gruppe von zehn Mädel vor. Eine vormilitärische Ausbildung wird den Mädchen nicht zuteil.
»Da kam immer mal vom Bann ein Rundschreiben, das ich den anderen vorlesen musste. Und dann sammelten wir Heilkräuter oder Altpapier, wie es so üblich war, und wir sangen.«
Um den angestrebten »Endsieg« zu erzielen, ordnet Adolf Hitler im Januar 1943 die Mobilmachung sämtlicher personeller und materieller Ressourcen im Deutschen Reich und in den besetzten Gebieten an. Dem entstehenden Arbeitskräftemangel begegnet das NS-Regime mit der verstärkten Rekrutierung von Fremd- und Zwangsarbeitern.
In den ausgebauten, zum Grundstück der Toschs gehörenden Baracken wohnen polnische Flüchtlingsfamilien und französische Kriegsgefangene, die in Sonnewalde arbeiten. Aufgrund ihrer Französischkenntnisse hilft Margittas Mutter bei der Lohnabrechnung der Zwangsarbeiter mit. Zur Straße hin trennt ein hoher Bretterzaun ihren Wohnbereich ab, aber die Tür zum Grundstück von Familie Tosch bleibt stets offen für die Arbeiter, zu denen sich nach anfänglichen sprachlichen Verständigungsproblemen ein guter, selbstverständlicher Kontakt entwickelt.
»Die waren alle sehr nett zu uns. Na, wir waren ja auch nicht hässlich mit denen. Es hatte sich so ergeben.«
Viele Lebensbereiche der Bevölkerung leiden unter kriegsbedingter Einschränkung, so auch die schulische Bildung der Kinder. In der Volksschule Sonnewalde werden Unterrichtsstunden nur von Hilfslehrern erteilt oder fallen gänzlich aus. Margitta soll nach ihrem Schulabschluss eigentlich ein Landjahr in Dahme absolvieren. Familie Tosch beantragt jedoch, dass die Tochter auf dem familieneigenen Hof bleiben darf. Ihre Arbeitskraft wird hier noch dringender benötigt, seitdem ihr Bruder als Soldat an der Front kämpft und ihr Vater trotz seiner Krankheit zum Volkssturm eingezogen wurde.
Vom Einzug der Roten Armee, die mit übermächtiger Waffengewalt die kampflose Übergabe des eroberten Gebietes rund um Sonnewalde fordert, werden Margitta und ihre Mutter schließlich völlig überrascht. Zur Mittagszeit des 20. April 1945 eilen aufgeregte Franzosen ins Haus und bitten Margittas Mutter um weiße Bettlaken, die sie als Zeichen der Kapitulation aus den Fenstern hängen wollen.
In der Ferne rücken Panzer schnell näher. Unzureichend ausgestattet und notdürftig verschanzt in Scheunen und Gräben liefert sich der Volkssturm einen erbitterten Kampf mit den sowjetischen Truppen, den viele mit ihrem Leben bezahlen. Der Schusshagel beschädigt auch das Dach des Wohnhauses der Familie Tosch und schlägt in den Pferdestall ein, wo die Tiere qualvoll verenden.
Auf sich allein gestellt, stehen die Frauen der Familie Tosch zunächst schreckliche Angst aus. Doch die französischen Kriegsgefangenen, deren Aufseher geflohen ist, bieten ihnen Schutz in ihrer Baracke. Gemeinsam harrt man aus und beobachtet sorgenvoll durch das Fenster, wie ein russischer Lkw auf den Hof fährt, deutsche Volkssturm-Angehörige an die Wand stellt und mit dem Maschinengewehr hinrichtet. Anschließend kehrt bedrohliche Ruhe ein.
Kurz darauf betreten sowjetische Soldaten die Baracke und inspizieren die Räume und deren Bewohner. Einer der Soldaten gibt Margitta zu verstehen, sie möge mit ihm kommen. Die 15-Jährige versteht es als Aufforderung, ihm etwas zu Essen zuzubereiten, doch allein mit dem Mann beginnt dieser sofort, Margitta zu bedrängen. Sie hat großes Glück, dass ihr zwei der Franzosen argwöhnisch folgten und sie nun aus den Fängen des Soldaten retten.
Dann erscheint ein betrunkener Offizier, der die Zivilisten lautstark, aggressiv und mit gezogener Waffe bedrohend auffordert, sich auf der Straße in Reihe zu stellen und ihre Nationalität preiszugeben. Auf Anraten ihrer polnischen Freunde behaupten Margitta und ihre Mutter, ebenfalls polnischer Herkunft zu sein. Dank dieser Notlüge entgehen sie dem Zorn des sowjetischen Offiziers und verbringen die folgende Nacht in der Baracke der Polen, die ihnen extra ein Bett freimachen. Die Sorge um ihren Vater raubt Margitta jedoch den Schlaf.
»Am nächsten Morgen ging ich ihn suchen. Ich fand das Loch, in dem ich ihn vermutete, und da lag er erschossen drin.«
Erschüttert vom Auffinden der Leiche ihres Vaters läuft Margitta zurück zur Unterkunft, um ihrer Mutter die furchtbare Nachricht zu überbringen. Erneut bieten die ehemaligen Zwangsarbeiter den zwei Frauen in ihrer misslichen Lage Trost und Beistand.
In den folgenden Wochen kommen Margitta und ihre Mutter dann bei einer ostpreußischen Flüchtlingsfamilie in der Nachbarschaft unter. Immer wieder schleichen sie sich vorsichtig in die Nähe ihres Grundstücks, um Ausschau zu halten, doch stets finden sie das Haus von sowjetischen Truppen besetzt vor. So bleibt ihnen nichts anderes übrig, als abzuwarten – und sich unsichtbar zu machen, denn besonders für das weibliche Geschlecht ist die Zeit bis zum Kriegsende mit der ständigen Gefahr verbunden, Opfer eines Übergriffs zu werden.
»Wochenlang mussten wir vorsichtig sein und uns vor den Russen und ihren berüchtigten Aufforderungen ›Frau, komm!‹ verstecken.«
Am 8. Mai 1945 endet der Zweite Weltkrieg auf dem europäischen Kriegsschauplatz. Die unmittelbare Nachkriegszeit ist für die deutsche Bevölkerung von großer Angst und Unsicherheit über die Zukunft charakterisiert, die sie unter den alliierten Siegermächten erwartet. Die Gesellschaft ist zusammengebrochen. Millionen Männer befinden sich wie Margittas Bruder in Kriegsgefangenschaft. Ebenso viele Flüchtlinge und Vertriebene aus dem Osten strömen in die vier Besatzungszonen.
Der Zweite Weltkrieg hat unermessliches Leid und Zerstörung über weite Teile Europas gebracht. 55 Millionen Todesopfer sind zu beklagen, davon 5,5 Millionen Deutsche und 50 Millionen Angehörige zahlreicher anderer Völker. Ein Viertel der Toten sind Zivilisten. Sechs Millionen Juden fallen dem rassenideologischen Wahn der Nazis zum Opfer.
Bereits Ende April 1945 finden in Sonnewalde erste Verhaftungen durch die sowjetische Geheimpolizei des NKWD (sowjetisches Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten, russisch: Narodny Kommissariat Wnutrennich Del) statt. Margitta schnappt eine Diskussion darüber auf, dass der Sohn des Hauswirts von einem deutschen Hilfspolizisten angewiesen wurde, eine Liste über ansässige Nazis und Werwölfe anzufertigen.
»Ich war aber nicht beunruhigt, weil es niemanden aus Sonnewalde betraf. Der Werwolf existierte ja gar nicht bei uns.«
Als Margitta und ihre Mutter schließlich in ihr Haus zurückkehren können, finden sie leergeräumte Zimmer vor. Fast ihr gesamtes Eigentum wurde entwendet und sogar die Tiere mitgenommen, die den Beschuss der Stallungen überlebt hatten. Margitta ertappt einen kriegsversehrten Russen dabei, ihre Nähmaschine aus der Gartenlaube stehlen zu wollen. Mutig verteidigt sie den wertvollen Besitz, woraufhin ihr der Mann das Gerät anstandslos überlässt und es sogar noch ins Haus trägt.
»Und dann fingen wir wieder bei null an. Der Vater war tot, der Bruder in russischer Gefangenschaft. Es war eine harte Jugend.«
Armut, Kälte, Krankheiten und Hunger prägen den Alltag der Bevölkerung. Die beiden Frauen beginnen mit dem Aufräumen, und richten sich im Rahmen der Möglichkeiten neu ein. Sie mühen sich ab, um die Landwirtschaft nun allein zu bestreiten.
Da wird Margitta eines Vormittags Ende Mai 1945 überraschend festgenommen. Ein Russe weist sie an, ein Pferdefuhrwerk zu besteigen, auf dem schon eine Frau mit ihrer zehnjährigen Tochter sitzt, und fährt sie zum Gemeindeteil Peterhof, wo man sie gemeinsam mit zehn Personen in einen Keller steckt. Niemand erklärt ihnen, warum sie festgehalten werden. Schon am Abend schickt man alle zurück nach Hause.
Doch die so schnell wiedererlangte Freiheit ist trügerisch und währt nur kurz. Margitta ist gerade auf dem Feld bei der Kartoffellese, als sie am 2. November 1945 von einem Deutschen aufgesucht wird. Der Mann trägt eine Armbinde, die ihn als Hilfspolizist kennzeichnet, und ein Gewehr über den Rücken geschnallt. Obwohl er behauptet, sie nur zu einem kurzen Verhör mitnehmen zu wollen, soll die 16-Jährige dazu Wechselwäsche, ein Handtuch und eine Decke mitbringen. Eine Nachbarin wird Zeugin der Festnahme und ruft Margitta eindringlich zu, sie möge ausreißen. Doch diese weiß gar nicht, wohin, und so geht sie brav mit dem Mann mit.
In Sonnewalde werden zeitgleich vier Jungen und drei Mädchen festgenommen – auch der Sohn des Hauswirts, ihr mutmaßlicher Denunziant. Zusammen mit acht anderen Jugendlichen wird Margitta in eine kleine Zelle des Schlosskellers eingesperrt.
»Wir waren schon bitter dran. Also das war eigentlich für Sträflinge gedacht.«
Mehrere Tage sitzen sie in der Kellerzelle fest, nur unterbrochen von kurzen Hofgängen. Für die Notdurft wird ihnen lediglich eine Blechbüchse bereitgestellt.
Dann verfrachtet man Margitta erneut auf einen Pferdewagen und fährt sie 20 Kilometer weiter in Richtung Norden, um sie in die Haftanstalt Luckau zu überführen. Die Gefängnisgebäude gehen auf den Kirchenbau eines im 13. Jahrhundert gegründeten Dominikanerklosters zurück. Nach dessen Verfall wird 1747 aus den erhaltenen Baulichkeiten das Zucht- und Armenhaus Luckau errichtet, das der Unterbringung von Sträflingen, Armen, Geisteskranken und Waisenkindern dient. Zu diesem Zweck entstehen in den folgenden Jahrzehnten mehrere Nebengebäude. Der Erste Weltkrieg markiert den Beginn der politischen Haft in Luckau. Mit Ende des Zweiten Weltkriegs wird das Zuchthaus vom NKWD übernommen und als Untersuchungshaftanstalt genutzt. Hunderte bringt das NKWD von hier aus in sowjetische Speziallager.
Die Haftumstände sind menschenunwürdig. Mit der Trillerpfeife reißt das morgendliche Weckkommando die Gefangenen aus dem Schlaf und befiehlt Margitta, umgehend den Notdurft-Kübel zum Entleeren herauszutragen. Doch der Eimer ist aufgrund der vielen Zelleninsassen so voll, dass Margitta es kaum schafft, ihn anzuheben, und überfordert vom Drill und der fremden Umgebung in Panik verfällt.
Sie ist erleichtert, als sie später mit dem Heizen der Gefängnisräume beschäftigt wird. Durch die ihr aufgetragene Arbeit lernt sie einen großen Teil der Haftanstalt kennen und ihr Gesicht wird vielen sowjetischen Wachposten geläufig. Auch in den Vernehmungsräumen wird Margitta zum Nachfeuern eingesetzt. So kommt es vor, dass sie Mithäftlingen begegnet, während diese gerade von NKWD-Beamten schwer gefoltert werden.
Psychische und physische Gewalttätigkeit ist in den stundenlangen Vernehmungen gang und gäbe. Doch Margitta bleibt heftige Gewalt erspart.
»Ich hatte immer großes Glück, kann ich so im Nachhinein sagen. Weil ich so jung war vielleicht, ich weiß nicht, warum. Ich tat mich ja nicht besonders hervor.«
In den Vernehmungen wird nun klar, dass man Margitta die Mitgliedschaft in der Nazi-Organisation »Werwolf« anhängen will. Die Dolmetscherin liest ein entsprechendes Protokoll vor und eine abgezwungene Unterschrift auf dem Schriftstück besiegelt Margittas Schicksal.
Als Margitta über ihre Tätigkeit im BDM befragt wird, befiehlt die Dolmetscherin ihr, eins dieser Lieder vorzutragen. Es fühlt sich für Margitta völlig verkehrt an, die schöne Melodie in dieser bitteren Situation anzustimmen.
Ein weiterer Glücksfall ist, dass die sowjetischen Wachposten Margitta damit betraue, die persönlichen Gegenstände zu entsorgen, die den Neuankömmlingen in Luckau bei Leibesvisitationen abgenommen werden. Sie nutzt die Gelegenheit, heimlich Gegenstände an sich zu nehmen.
»Einen kleinen Bleistift und eine Schere, ein kleines Messer und auch einen Löffel. Ich steckte alles bei mir unten ins Mantelfutter rein. Und dadurch behielt ich das bis Mühlberg.«
Margitta ahnt zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wie nützlich ihr die kleinen Dinge werden sollen, denn wie für die NKWD-Gefangenschaft üblich, erhält sie keinerlei Auskunft darüber, was ihr bevorsteht und wohin ihr Weg sie führt. So hofft sie bei jedem weiteren Transport auf eine Entlassung.
Doch nach ihrem Aufenthalt in der Luckauer Haftanstalt bringt man Margitta nach Cottbus. Hier nutzt das NKWD/MWD von Mai 1945 bis 1950 das Amtsgerichtsgefängnis am Gerichtsplatz als Untersuchungshaftanstalt für die südbrandenburgische Region. Anders als zuvor sind es nun Margittas Zellengenossen, die im Gefängnis Cottbus zur Arbeit eingesetzt werden, während sie stundenlang einsam in einer kleinen Zelle sitzt. Weil sie nicht weiß, wie lange sie es dort aushalten muss, empfindet sie die Zeit als besonders grausam.
»Da heulte ich nur. Ich konnte mit niemandem sprechen, die kamen nur zum Schlafen und ich saß mutterseelenalleine dort drin von früh bis Abend.«
Am 8. Dezember 1945 wird Margitta ins sowjetische Speziallager Nr. 6 Jamlitz gebracht. Damit ist sie eine von insgesamt 1.306 Gefangenen, die ab Dezember 1945 in wöchentlichen Transporten von Cottbus nach Jamlitz verbracht werden.
Ursprünglich befand sich das sowjetische Speziallager Nr. 6 in der Siedlung »An der Wachsbleiche« in Frankfurt/Oder. Weil das Gebiet östlich der Oder jedoch unter polnische Verwaltung kommt, sucht die Abteilung Speziallager nach einem neuen Lagerstandort und entscheidet sich für das ehemalige »Arbeitslager Lieberose«, ein Außenlager des KZ Sachsenhausen. Schon Ende August 1945 werden erste Häftlingsgruppen zum Aufbau der Anlage eingesetzt, die Verlegung der restlichen Gefangenen erfolgt am 12. September. Zu Fuß müssen die Häftlinge die 50 Kilometer lange Strecke von Frankfurt nach Jamlitz zurücklegen.
Wie auch in den anderen Speziallagern der SBZ handelt es sich bei den Inhaftierten vorwiegend um Deutsche, die wegen ihrer aktiven oder lediglich nominellen Mitgliedschaft in der NSDAP oder in deren Gliederungen, wegen illegalen Waffenbesitzes oder sonstiger Verdächtigungen von den Operativgruppen des NKWD verhaftet werden. Unter ihnen sind zahlreiche Jugendliche zwischen 12 und 21 Jahren, die den sowjetischen Besatzungsbehörden aufgrund ihrer HJ- oder BDM-Mitgliedschaft gefährlich erscheinen und meist pauschal als »Werwolf« abgestempelt in die Speziallager eingewiesen werden.
In der Mehrzahl sind es also Zivilinternierte, die man ohne individuelle Schuldüberprüfung in den NKWD-Lagern wegsperrt, wohl auch, damit sie der Errichtung des stalinistischen Systems in der sowjetischen Besatzungszone nicht im Wege stehen können. Das Speziallager Nr. 6 Jamlitz nimmt aber auch eine hohe Anzahl Sowjetbürger auf: Angehörige der »Wlassow-Armee«, Emigranten, die Russland nach der Oktoberrevolution 1917 verlassen hatten und sonstige als »Verräter aus der Heimat« eingestufte Personen. Sie werden in einer gesonderten Zone untergebracht und im Frühjahr 1946 in die UdSSR deportiert.
Das Lagergelände ist in mehrere Zonen gegliedert, die durch einen drei Meter hohen Stacheldrahtzaun gesichert werden. Er wird später noch mit einem Bretterzaun ergänzt, um die völlige Isolierung der Insassen zu garantieren. Damit die Sperrzone rings um den Lagerzaun freies Schussfeld bekommt, müssen die Gefangenen die dort stehenden Bäume fällen. Auf dem Gelände befinden sich eine Küche mit Speisesaal, eine Banja, eine Bäckerei, ein Lazarett, Werkstätten, eine Wäscherei und eine Schneiderei, die Frisierstube sowie eine Arrestzelle.
Margitta wird nach ihrer Ankunft in das Frauenlager gebracht, das gesondert vom Bereich der Männer liegt. Die Unterbringung der Häftlinge erfolgt in Holzbaracken mit kärgster Ausstattung. Selten stehen Tische oder Bänke zur Verfügung, und geschlafen wird in engen Reihen auf mehrstöckigen Holzpritschen.
Die einfache Bauweise der Baracken bietet keinerlei Schutz vor der Kälte, welche die wenigen Kanonenöfen auch nicht zu vertreiben imstande sind. Schlimmer noch, als angebliche Maßnahme gegen das Ungeziefer lässt das sowjetische Personal die Fußbodendielen und Pritschen täglich anfeuchten, was die Kälte und Nässe in den Baracken verstärkt.
»Richtige Straflager waren das.«
Notdürftig decken sich die Häftlinge mit ihren Mänteln und Jacken zu, oder mit dünnen Decken aus Papier, die mit Holzspänen gefüttert sind. Jeder trägt das, was er besitzt, Tag und Nacht am Leib. Die Kleidung verschleißt zusehends.
Persönliche Gegenstände sind nicht erlaubt und deren Besitz wird regelmäßig kontrolliert. Margittas Habseligkeiten bleiben im Futter ihres Mantels unentdeckt. Wenn eine Durchsuchung der Baracken ansteht, versteckt sie ihre Schätze im staubigen Sand des Lagergeländes und holt sie sich nach Beendigung der Aktion wieder.
»Das waren Reichtümer. Hatte ja niemand eine Schere oder eine Nagelfeile. Die meisten hatten nicht mal eine Zahnbürste mit.«
Margitta erinnert sich daran, wie die Frauen am ersten Tag eine Waschschüssel voller Graupensuppe bekommen. Niemanden kümmert es, womit die Portionen aufgeteilt werden. Also holt Margitta den heimlich entwendeten Löffel aus ihrem Mantel hervor und gibt ihn reihum, so dass jede ihrer Kameradinnen essen kann.
Bis auf die täglichen Zählappelle gibt es für die Insassen des Speziallagers Jamlitz nur wenig Berührungspunkte mit der sowjetischen Lagerleitung, die in der Lager-Vorzone ihren Kommandanturbereich bezogen hat. Die innere Lagerselbstverwaltung erfolgt durch Funktionshäftlinge und ist militärisch nach Baracken gegliedert. Darüber hinaus existiert eine Lagerpolizei und es werden Melder und Gehilfen eingesetzt.
»Die Lagerälteste war ein ehemaliger tschechischer Häftling und die war sehr, sehr gemein. Die machte von sich aus vieles, was von den Russen gar nicht angesetzt war.«
Nur etwa 200 der bis zu 7.000 Internierten sind in die Arbeitskommandos eingebunden, die den täglichen Betrieb des Lagers gewährleisten: Brotholen, Jauchetonnen wegtragen, Handwerksarbeiten, Kartoffelschälen. Frauen werden meist zum Waschen und Nähen eingesetzt. Außerdem kommandiert man sie zum Putzen in die Offizierswohnungen ab und selten zu Außenkommandos, wo sie Feldarbeiten erledigen oder Wildgemüse und Pilze sammeln. Margitta kommt nicht in die Vergünstigung einer Arbeitsstelle, die in der Regel mit einer zusätzlichen Essensration verbunden ist.
Das Nichtstun führt bei vielen Internierten zu Depression, Resignation und geistiger Verarmung. Jegliche geistig-kulturelle Selbstbeschäftigung ist laut Lagerordnung verboten. Was dennoch im Heimlichen entsteht, wird mündlich weitergetragen, und so sind heute viele Gedichte und Lieder die immateriellen Zeugnisse tausender Lagerschicksale.
Demgegenüber steht die sogenannte Kultura, die durch die sowjetische Lagerleitung in vielen Speziallagern ausdrücklich zum Aufbau angeordnet wird. Aus Häftlingen rekrutiert, die vor ihrer Verhaftung Schauspieler, Musiker oder Tänzer waren, entsteht im Lager Jamlitz eine Theatergruppe samt Orchester. Die sowjetischen Offiziere und deren Angehörige sowie die Häftlinge wohnen den Aufführungen bei.
Margitta wird eines Tages von der Schauspielerin Marianne Simon aufgefordert, in der Ballettgruppe mitzuwirken. Doch sie hat Angst, sich zu blamieren, und außerdem Schmerzen im Meniskus, darum lehnt sie ab.
Als Margitta an ihrem 17. Geburtstag am 16. August 1946 in das Verhörzimmer einer sowjetischen Kommandanturbaracke gerufen wird, ist sie höchst besorgt. Doch zu ihrer Überraschung findet keins der gefürchteten Verhöre statt. Stattdessen wird sie dazu aufgefordert, einen Brief nach Hause zu schreiben.
»Ich war ganz platt. Der erzählte mir, was ich alles schreiben muss. Eben nur Positives. Aber mir war es wichtig, dass die Mutti weiß, dass ich noch lebe.«
Tatsächlich erreicht der Brief mit dem Absender »Margitta Tosch, z.Z. Jamlitz b. Lieberose« Margittas Mutter in Sonnewalde. Margitta kann damals nicht einordnen, was der Grund für die plötzliche Erlaubnis zur Kontaktaufnahme ist. Nach heutigem Forschungsstand weiß man allerdings, dass mehrere Gefangene im Lager Jamlitz in ähnlichem Wortlaut an ihre Eltern schreiben mussten.
Die Briefe sind der Versuch des MWD, die Bevölkerung zu beruhigen und über die Zustände in den Speziallagern zu täuschen. Damit reagiert das sowjetische Ministerium für Innere Angelegenheiten sowohl auf die Zunahme illegaler Kassiber nach draußen als auch auf erste Presseberichte.
Margittas so positiv formulierter Brief entspricht jedoch nicht im Geringsten der Lagerrealität. Manche Häftlinge essen in ihrer Verzweiflung die Rinde der Kiefern, die auf dem Gelände stehen. Infolge der bewusst zugeteilten Hungerrationen kommt es bei den Internierten neben den Qualen, die das ständige Hungern verursacht, zu zahlreichen Krankheiten wie Ruhr, Typhus, Tuberkulose und Gürtelrose. Die Dystrophie, eine durch Fehl- und Mangelernährung bedingte Degeneration des Körpers, zeigt sich in Wasseransammlungen, Furunkulose, Muskelschwäche und sogar in Formen von Demenz.
Auch Margitta hat mit den Folgen des eklatanten Nährstoffmangels zu kämpfen. Sie magert stark ab. Ihre Periode bleibt während der gesamten Haftzeit aus, sie leidet unter Hautausschlägen aufgrund der Läuse, Flöhe und Wanzen und bekommt Geschwüre am Gesäß.
»In Mühlberg versuchten sie mehr, uns zu helfen. Da mussten mich Burschen festhalten, und die schnitten das auf und drückten es aus, oder schmierten es mit schwarzem Zeug ein.«
Im Winter des Frühjahrs 1947 sterben im Speziallager Jamlitz durchschnittlich 25 Menschen am Tag. Sie sind nicht nur Opfer des Mangels an Wärme, Hygiene und grundlegender Ernährung, sondern auch an menschlicher Zuwendung und Gewissheit über ihre Zukunft. Die Häftlingsärzte haben angesichts der fehlenden Medikamente oder medizinischen Geräte kaum eine Chance, die vielen Erkrankten vor dem Tod zu bewahren.
Beerdigt man die Toten zu Anfang noch in Einzelgräbern, so wird schnell dazu übergegangen, die zahlreichen Verstorbenen anonym in Massengräber zu stecken und mit Kalk zu bestreuen. Auch wenn die Verscharrungen in der Heimlichkeit der Dunkelheit geschehen, so hören die Häftlinge doch die Leichenkarren über die Lagerstraße ziehen.
Das Speziallager Nr. 6 Jamlitz weist eine der höchsten Sterberaten aller Speziallager auf. Bemerkenswert ist, dass mit 16 Insassinnen nur zwei Prozent der Frauen sterben. Doch von den 10.300 Häftlingen, die das Lager insgesamt durchlaufen, kommen in knapp zwei Jahren mindestens 3.380 um.
Kein anderes Lager hat bei seinen Insassen einen derart schlechten Gesundheitszustand zu verzeichnen. Als der sowjetische Ministerrat Ende 1946 aus Jamlitz 1.200 Häftlinge für die Deportation in sowjetische Zwangsarbeitslager anfordert, können selbst nach großzügiger Einstufung in die Gruppe der Arbeitsfähigen nur 590 der knapp 7.000 Gefangenen aufgestellt werden.
Ende März 1947 wird das Speziallager Jamlitz aufgelöst. Doch seine Schließung bedeutet nicht die Entlassung der Internierten. Sie werden nach Russland deportiert und in die Speziallager Mühlberg, Buchenwald und Sachsenhausen überstellt.
Margitta gelangt Anfang April 1947 mit einem etwa 2.160 Gefangene zählenden Transport nach Mühlberg. Das Frauenlager, das bisher 560 Personen beherbergt hat, muss für die 880 neuangekommenen Frauen schnellstens vergrößert werden, wofür die zwei Männerbaracken 30/30a und 31/31a hergerichtet und neu eingezäunt werden. Der Standard dieser Holzbaracken steht im starken Kontrast zum »alten« Frauenlager mit seinen deutlich kleineren und besser erhaltenen Steinbaracken. Margitta jedoch empfindet ihre neue Umgebung als moderate Verbesserung.
Wieder gelingt es Margitta bei der Aufnahme ins Lager, trotz der Leibesvisitation, unentdeckt ihre Gegenstände einzuschmuggeln. Und obwohl nur wenige der Neuankömmlinge einen der begehrten Posten bekommen, wird Margitta sogleich von der Gruppenältesten dazu auserkoren, als Melderin in Baracke 31 zu arbeiten. Zunächst zweifelt die 18-Jährige, da sie stets bemüht ist, nicht aufzufallen oder hervorzutreten, doch ihre Kameradinnen bestärken sie, die Stelle anzunehmen. Als Kennzeichnung ihrer Position trägt Margitta eine rote Armbinde, die sie selbst nähen muss. Neben Botengängen und Schreibarbeiten ist Margittas Aufgabe hauptsächlich, männliche Arbeitskommandos im Frauenlager zu begleiten. Sie hat dabei zu beaufsichtigen, dass keine Verbindungen zwischen den Geschlechtern aufgenommen werden, denn das verbietet die Lagerordnung streng.
»Oh, das war mir ein Gräuel, da mitzugehen! Jeder wollte sich mit mir unterhalten.«
Als neues, hübsches Gesicht im Lager Mühlberg ist das Interesse der männlichen Gefangenen an Margitta groß. Margitta wiederum hat zu diesem Zeitpunkt kein Interesse am anderen Geschlecht. Dennoch erhält sie immer wieder kleine Briefe, die auf Zeitungsränder geschrieben wurden.
Einer der jugendlichen Mitgefangenen, der die unerfahrene 19-Jährige kontaktiert, ist Rudolf Naumann, der als Melder des Lagergärtners arbeitet. Durch seine Arbeitsstelle ist es Rudolf möglich, hin und wieder etwas Gemüse aus der Lagergärtnerei zu schmuggeln, dass er Margitta über den Zaun wirft. Die Krönung des Möglichen in einem lebensfeindlichen Umfeld wie dem Speziallager Mühlberg ist ein Blumenstrauß aus zartrosa Rosen, der Margitta eines Abends durch eine Krankenschwester zugestellt wird. Ein kleines Kärtchen kennzeichnet Rudolf als Absender und markiert den Beginn einer heimlichen Brieffreundschaft.
Die Frauen, die mit den Transporten aus Jamlitz und anderen Lagern nach Mühlberg kommen, haben zwar durchaus Kontakt mit den »alteingesessenen« Frauen, bleiben aber größtenteils unter sich. Sie haben bereits feste Strukturen ausgebildet und halten in kleinen »Familien« zusammen, in denen sie nicht nur ihre Essensrationen, Träume und Ängste miteinander teilen, sondern auch die Geburtstage ihrer Angehörigen feiern.
Für Margitta gibt es auch immer wieder unbekannte Helfer im Lageralltag. Als sie nach einem Zahnarztbesuch mit einer Gruppe zurück ins Frauenlager geführt wird, winkt ihr ein Häftling, der als Melder arbeitet, aus einem Barackenfenster zu. Er bedeutet Margitta, heranzutreten. Zwar fürchtet sie Bestrafung, sollte ihr Heraustreten aus der Reihe bemerkt werden, doch folgt trotzdem seiner Aufforderung. Zu ihrer Überraschung drückt der junge Mann ihr ein ganzes Weißbrot in die Hand. Nicht nur Margitta freut sich darüber, sondern auch ihre Kameradinnen, mit denen sie teilt. Und nach einem Arbeitseinsatz bei der Kartoffellese gelingt es ihr, ein paar der Kartoffeln, die sie im Mantelfutter herausschmuggelt, über den Zaun ins Männerlager zu werfen.
»So ein Glück hatte ich dort.«
Doch nicht alles, das einem hilft, die Lagerzeit zu überstehen, ist kostenlos. Unter den Insassen blüht der Tauschhandel. Um ein eigenes Essensgefäß zu erwerben, muss Margitta sich eine Brotration vom Munde absparen. Dafür wird ihr eine Schüssel aus einem alten Stück Ofenrohr hergestellt. Auch eine aus Draht gefertigte Nähnadel erkauft sie sich auf diese Weise und näht sich aus Stoffstückchen und den Fäden ihrer eigenen Kleidungsstücke neue Sachen.
Obwohl Margitta sorgfältig auf ihre Habseligkeiten achtet, wird ihr eines Tages die Zahnbürste gestohlen. Sie meldet den Verlust bei der Lagerältesten, doch ohne Erfolg. Regelmäßig überprüft sie den Waschraum eingehend und findet schließlich selbst das wertvolle Stück wieder, das von der Diebin nur schlecht versteckt wurde.
»Nicht, dass ich so übermäßig schlau war, aber ein bisschen bedacht. Und siehe da! Ich machte sie dann sauber. Mensch, ich wollte mir doch auch mal wieder die Zähne putzen!«
Die Schicksalsgemeinschaften der sowjetischen Speziallager haben ihre eigene Dynamik. Beurteilungen des Verhaltens von Menschen unter Bedingungen allumfassenden Mangels sind fehl am Platz, denn die Gefangenen haben nichts, woran sie moralische Grundwerte ausrichten könnten. Solidarität und Ausgrenzung können deshalb eng beieinander liegen.
Margitta wird Zeugin davon, dass die Spitzeltätigkeit einer Mitinsassin auffliegt und die anderen Häftlinge sie gnadenlos bestrafen. Doch in der Konsequenz muss die ganze Belegschaft der Baracke für diese Aktion stundenlang Strafe stehen.
Margitta pflegt nur wenige enge Kontakte im Speziallager Mühlberg, Vertrauensverhältnisse sind rar. Deshalb ist es für Margitta eine unangenehme Situation, als sie von einer Gefangenen, die sie gar nicht näher kennt, um ein Vier-Augen-Gespräch gebeten wird. Mit großer Skepsis sucht Margitta den ausgemachten Treffpunkt hinter dem Magazin auf, wo die Frau sich nach Margittas Befinden erkundigt und nachfragt, ob ihr etwas fehlen würde. Argwöhnisch behauptet Margitta, rundum versorgt zu sein. Doch die Frau fragt beharrlich weiter, bis ihr auffällt, dass aus Margittas zerschlissenen Stoffschuhen bereits die Zehen herauslugen. Obwohl Margitta Ersatz vehement ablehnt, wird sie an ihrem Geburtstag aufgerufen, sich in der lagerinternen Schusterei einzufinden. Dort fertigt man ihr aus alten Herrenschuhen ein passendes Paar. Außerdem erhält sie eine maßgeschneiderte, weiße Jacke aus Bettleinen.
»Ich stand da wie ein Kind unter dem Weihnachtsbaum.«
Erst nach ihrer Rückkehr erfährt Margitta, dass sie die unerwarteten Geschenke einem russischen Arztmajor zu verdanken hat. Der Mann, der bei den Routineuntersuchungen im Speziallager Mühlberg immer sehr freundlich auftritt, wird kurze Zeit später nach Sonnewalde versetzt.
Vermutlich, weil sie seine direkte Nachbarin ist, wird Margittas Mutter als seine Schachpartnerin auserkoren. Bei einem Spiel erblickt der Arztmajor eine Fotografie von Margitta und fragt nach. Offen berichtet Margittas Mutter von der Gefangenschaft ihrer Tochter. Nachdenklich schaut der Mann auf die Fotografie des gesunden, gepflegten Mädchens und teilt der Mutter dann unvermittelt mit, Margitta gehe es gut, aber so wie auf dem Bild sehe sie nicht mehr aus.
Im Nachhinein belastet es Margitta, dass sie nie die Gelegenheit bekommt, dem Mann ihren Dank auszusprechen.
»Die durften ja eigentlich nicht so sehr nett sein zu uns, aber er war es. Es klingt wie im Märchen. Ja, es gibt überall Gute und Böse.«
Im Juli 1948 beginnen die Entlassungen und das sowjetische Speziallager Nr. 1 Mühlberg befindet sich in der Phase seiner Auflösung. Vier Tage nach ihrem 20. Geburtstag, am 20. August 1948, darf Margitta den langersehnten Weg in die Freiheit antreten. Rudolf Naumann verabschiedet sich von seiner Brieffreundin mit einem Abschiedsstrauß: ein in weißes Schleierkraut gehülltes Herz aus roten Nelken. Margitta wickelt ein feuchtes Läppchen um den Blumenstrauß und bewahrt das liebevolle Andenken zu Hause noch lange.
Bei der Entlassung bekommen die Frauen 40 Mark Fahrtgeld ausgehändigt. Außerdem wird ihnen äußerst eindringlich befohlen, über die Gefangenschaft zu schweigen. Ansonsten würden sie gleichbehandelt werden wie jeder andere Bürger auch, heißt es. Es gäbe angeblich keine Nachteile durch die Inhaftierung, und diese wäre ja sowieso auch nur zu ihrem Schutz gewesen.
Die Gruppe ehemaliger Häftlinge, mit der Margitta die Rückreise gemeinsam antritt, kehrt zunächst in eine Gaststätte ein, um ihr Reise- und Verpflegungsgeld sogleich in eine ordentliche Mahlzeit umzusetzen. Margitta teilt sich nur ein Essen mit ihrer Freundin, denn sie ist besorgt, wie es um die finanzielle Lage ihrer Mutter daheim steht.
Auf dem Bahnhof begegnet ihnen absolute Hilfsbereitschaft. Die Bahnbeamten sind schon vielen Heimkehrern begegnet und erlauben den Zustieg in einen Güterzug. Über Falkenberg reist die Gruppe bis nach Doberlug-Kirchhain, wo sie auf dem Bahnhof von eher entlassenen Lagerinsassen freudig begrüßt wird. Margitta erkennt einen Leidensgenossen wieder, der schon die erste Haftstation im Sonnewalder Schloss mit ihr teilte. Gemeinsam geht man zu einer befreundeten Familie, die ein Telefon besitzt und die Angehörigen aller Heimgekehrten benachrichtigt.
Nach ihrer dreijährigen Gefangenschaft wird Margitta endlich von ihrer Mutter nach Hause geholt.
»Aber es war nicht gleich um den Hals Fallen. Nicht, dass wir uns gezankt hätten oder so, aber irgendwie war da eine Mauer. Es war alles anders. War ein bisschen derb lange.«
Margitta berichtet ihrer Mutter nicht viel über das Erlebte, und es werden ihr auch keine Fragen gestellt. Direkt am nächsten Tag wird sie in der Landwirtschaft mit eingebunden, als wäre sie immer dagewesen. Margittas Bruder ist 1947 aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt, doch die Familie muss noch immer um das wirtschaftliche Überleben kämpfen.
Die 20-Jährige holt auf, wonach ihr Körper sich lange verzehren musste, und nimmt an Gewicht zu. Einer ihrer ersten Wege führt sie zu den Eltern von Rudolf Naumann, denen sie berichtet, dass der Sohn am Leben und vom Lager Mühlberg nach Buchenwald verbracht worden ist.
Weitere Kontakte zu ehemaligen Häftlingen, deren Familien sie benachrichtigen könnte, hat sie nicht. Zurück in der Freiheit hat Margitta stattdessen oft das starke Bedürfnis, sich zurückzuziehen und für sich allein zu sein. Nicht nur die langen Jahre der Gefangenschaft und die dabei gemachten, bitteren Erfahrungen haben Spuren hinterlassen. Die Strapazen zeigen auch gesundheitliche Nachwirkungen bei Margitta. Im Lager Mühlberg werden ihr etliche Zähne gezogen. Ihr Zahnarzt hat dafür kein Verständnis und kritisiert die junge Frau harsch.
»Aber ich konnte ihm ja nicht sagen, ich war eingesperrt. Wir durften nicht drüber reden. Wir mussten vieles schlucken, wo wir uns hätten rechtfertigen können, aber es ging halt nicht.«
In der bald darauf gegründeten DDR bemüht sich Margitta um einen Ausbildungsplatz. Sie hegt den Wunsch, als Kindergärtnerin zu arbeiten, doch auf ihre Bewerbungsschreiben folgen zunächst gar keine Antworten und später dann mehrere Ablehnungen mit der Begründung, es gäbe keinen Bedarf.
Durch eine befreundete Kindergärtnerin weiß Margitta ganz genau, dass dies nicht der Wahrheit entspricht. Sie ist wütend über die offensichtliche Benachteiligung.
»Die sagten mir bei der Entlassung, ich sei allen anderen Bürgern gleichgesetzt. Und wenn es eine Strafe hätte geben müssen, na, dann hatte ich die dicke abgesessen.«
Ein ehemaliger Lehrer rät ihr, der Freien Deutschen Jugend (FDJ) beizutreten, doch Margitta sträubt sich, denn die Jugendorganisation weckt bei ihr bittere Erinnerungen an die Hitlerjugend. Nach eingehender Überlegung tritt die dennoch in die FDJ ein. Und tatsächlich, schon kurz nach ihrer regelmäßigen Teilnahme an deren Veranstaltungen erfolgt eine Vorladung zur »Abteilung Volksbildung« und die Anstellung in einem Finsterwalder Betriebskindergarten. Später wird ihr sogar die Ausbildung ermöglicht, doch Margitta wird sie nicht abschließen, da die Familienplanung dazwischenkommt.
Ausgerechnet durch ihren Kameraden Rudolf Naumann lernt sie im Sommer 1952 ihren späteren Ehemann Hans-Georg Geißler kennen. Schon kurz nachdem sich das Paar gefunden hat, zieht Margitta zu Hans-Georg nach Mutzschen, wo dessen Familie ein Fuhrgeschäft betreibt und in der Land- und Forstwirtschaft tätig ist. Im Mai 1953 heiraten sie. Ihre Tochter Christine kommt 1954 zur Welt.
»Und blieb leider die einzige. Wahrscheinlich durch die Entwicklungsjahre, nichts zu essen gehabt die ganze Zeit.«
Mit der Familiengründung unterbricht Margitta ihre berufliche Entwicklung und arbeitet im Fuhrgeschäft mit. Doch als Familie Geißler verpflichtet wird, ihren Besitz an Land und Tieren in die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) einzubringen, setzt Margitta die Arbeit in einem Kindergarten in Mutzschen fort.
Ihre Mutter, die stets mit dem Erhalt der Landwirtschaft zu kämpfen hatte, wird von den DDR-Behörden im Januar 1953 wegen »Nichterfüllung des Viehhalteplanes« zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt. Dank einer Amnestie kommt sie jedoch nach sieben Monaten wieder frei.
Nach der politischen Wende und der deutschen Wiedervereinigung schließt sich Margitta den Initiativgruppen der ehemaligen sowjetischen Speziallager Jamlitz und Mühlberg an und besucht bis heute regelmäßig die jährlichen Mahn- und Gedenktreffen. Dort trifft sie viele ehemalige Kameraden wieder und schließt wertvolle Freundschaften.
Margitta erwirkt ihre politische Rehabilitierung und eine Opferrente bei den bundesdeutschen Behörden. Nach dem Tod ihres Mannes Hans-Georg im November 2010 lebt Margitta gemeinsam mit ihrer Tochter Christine in Mutzschen.
Trotzdem mittlerweile mehr als 70 Jahre vergangen sind, verblassen die Erinnerungen an ihre Zeit der Gefangenschaft nicht. Manchmal vertieft sie sich so sehr darin, dass die Tränen kommen.
»Das kann man nicht abschließen und nicht vergessen. Aber ich hatte auch ab und zu großes Glück. Und jetzt lässt mich der liebe Gott so lange leben. Er weiß, dass er was an mir gutzumachen hat.«
»Ich wollte, dass meine Mutter weiß, dass ich noch lebe.«
Am 16. August 1929 kommt Margitta Tosch im brandenburgischen Sonnewalde auf die Welt. Hier betreiben ihre Eltern eine Landwirtschaft mit zahlreichen Tieren und 20 Hektar Land. Margitta und ihr älterer Bruder Wedigo lernen von ihren fleißigen Eltern, von Anfang an nach Kräften mitzuhelfen, sei es nun bei der Kartoffellese oder beim Rübenverziehen.
Noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erkrankt Familienvater Hermann Tosch schwer. Sein Nierenleiden verhindert zwar, dass er zur Wehrmacht eingezogen wird, doch er muss sich einer Operation unterziehen, die mit hohen Kosten verbunden ist. Weil ihre Felder weit auseinander liegen, zieht die Familie 1940 auf ein Grundstück um, das günstiger liegt. Es ist das Areal eines alten Sägewerks, das ein Haus und mehrere Baracken umfasst.
Mit zehn Jahren tritt Margitta in den Jungmädelbund ein, von dem aus sie im Alter von 14 Jahren in den Bund Deutscher Mädel (BDM) der nationalsozialistischen Hitlerjugend übernommen wird. Als Mädelschaftführerin steht sie einer Gruppe von zehn Mädel vor. Eine vormilitärische Ausbildung wird den Mädchen nicht zuteil.
»Da kam immer mal vom Bann ein Rundschreiben, das ich den anderen vorlesen musste. Und dann sammelten wir Heilkräuter oder Altpapier, wie es so üblich war, und wir sangen.«
Um den angestrebten »Endsieg« zu erzielen, ordnet Adolf Hitler im Januar 1943 die Mobilmachung sämtlicher personeller und materieller Ressourcen im Deutschen Reich und in den besetzten Gebieten an. Dem entstehenden Arbeitskräftemangel begegnet das NS-Regime mit der verstärkten Rekrutierung von Fremd- und Zwangsarbeitern.
In den ausgebauten, zum Grundstück der Toschs gehörenden Baracken wohnen polnische Flüchtlingsfamilien und französische Kriegsgefangene, die in Sonnewalde arbeiten. Aufgrund ihrer Französischkenntnisse hilft Margittas Mutter bei der Lohnabrechnung der Zwangsarbeiter mit. Zur Straße hin trennt ein hoher Bretterzaun ihren Wohnbereich ab, aber die Tür zum Grundstück von Familie Tosch bleibt stets offen für die Arbeiter, zu denen sich nach anfänglichen sprachlichen Verständigungsproblemen ein guter, selbstverständlicher Kontakt entwickelt.
»Die waren alle sehr nett zu uns. Na, wir waren ja auch nicht hässlich mit denen. Es hatte sich so ergeben.«
Viele Lebensbereiche der Bevölkerung leiden unter kriegsbedingter Einschränkung, so auch die schulische Bildung der Kinder. In der Volksschule Sonnewalde werden Unterrichtsstunden nur von Hilfslehrern erteilt oder fallen gänzlich aus. Margitta soll nach ihrem Schulabschluss eigentlich ein Landjahr in Dahme absolvieren. Familie Tosch beantragt jedoch, dass die Tochter auf dem familieneigenen Hof bleiben darf. Ihre Arbeitskraft wird hier noch dringender benötigt, seitdem ihr Bruder als Soldat an der Front kämpft und ihr Vater trotz seiner Krankheit zum Volkssturm eingezogen wurde.
Vom Einzug der Roten Armee, die mit übermächtiger Waffengewalt die kampflose Übergabe des eroberten Gebietes rund um Sonnewalde fordert, werden Margitta und ihre Mutter schließlich völlig überrascht. Zur Mittagszeit des 20. April 1945 eilen aufgeregte Franzosen ins Haus und bitten Margittas Mutter um weiße Bettlaken, die sie als Zeichen der Kapitulation aus den Fenstern hängen wollen.
In der Ferne rücken Panzer schnell näher. Unzureichend ausgestattet und notdürftig verschanzt in Scheunen und Gräben liefert sich der Volkssturm einen erbitterten Kampf mit den sowjetischen Truppen, den viele mit ihrem Leben bezahlen. Der Schusshagel beschädigt auch das Dach des Wohnhauses der Familie Tosch und schlägt in den Pferdestall ein, wo die Tiere qualvoll verenden.
Auf sich allein gestellt, stehen die Frauen der Familie Tosch zunächst schreckliche Angst aus. Doch die französischen Kriegsgefangenen, deren Aufseher geflohen ist, bieten ihnen Schutz in ihrer Baracke. Gemeinsam harrt man aus und beobachtet sorgenvoll durch das Fenster, wie ein russischer Lkw auf den Hof fährt, deutsche Volkssturm-Angehörige an die Wand stellt und mit dem Maschinengewehr hinrichtet. Anschließend kehrt bedrohliche Ruhe ein.
Kurz darauf betreten sowjetische Soldaten die Baracke und inspizieren die Räume und deren Bewohner. Einer der Soldaten gibt Margitta zu verstehen, sie möge mit ihm kommen. Die 15-Jährige versteht es als Aufforderung, ihm etwas zu Essen zuzubereiten, doch allein mit dem Mann beginnt dieser sofort, Margitta zu bedrängen. Sie hat großes Glück, dass ihr zwei der Franzosen argwöhnisch folgten und sie nun aus den Fängen des Soldaten retten.
Dann erscheint ein betrunkener Offizier, der die Zivilisten lautstark, aggressiv und mit gezogener Waffe bedrohend auffordert, sich auf der Straße in Reihe zu stellen und ihre Nationalität preiszugeben. Auf Anraten ihrer polnischen Freunde behaupten Margitta und ihre Mutter, ebenfalls polnischer Herkunft zu sein. Dank dieser Notlüge entgehen sie dem Zorn des sowjetischen Offiziers und verbringen die folgende Nacht in der Baracke der Polen, die ihnen extra ein Bett freimachen. Die Sorge um ihren Vater raubt Margitta jedoch den Schlaf.
»Am nächsten Morgen ging ich ihn suchen. Ich fand das Loch, in dem ich ihn vermutete, und da lag er erschossen drin.«
Erschüttert vom Auffinden der Leiche ihres Vaters läuft Margitta zurück zur Unterkunft, um ihrer Mutter die furchtbare Nachricht zu überbringen. Erneut bieten die ehemaligen Zwangsarbeiter den zwei Frauen in ihrer misslichen Lage Trost und Beistand.
In den folgenden Wochen kommen Margitta und ihre Mutter dann bei einer ostpreußischen Flüchtlingsfamilie in der Nachbarschaft unter. Immer wieder schleichen sie sich vorsichtig in die Nähe ihres Grundstücks, um Ausschau zu halten, doch stets finden sie das Haus von sowjetischen Truppen besetzt vor. So bleibt ihnen nichts anderes übrig, als abzuwarten – und sich unsichtbar zu machen, denn besonders für das weibliche Geschlecht ist die Zeit bis zum Kriegsende mit der ständigen Gefahr verbunden, Opfer eines Übergriffs zu werden.
»Wochenlang mussten wir vorsichtig sein und uns vor den Russen und ihren berüchtigten Aufforderungen ›Frau, komm!‹ verstecken.«
Am 8. Mai 1945 endet der Zweite Weltkrieg auf dem europäischen Kriegsschauplatz. Die unmittelbare Nachkriegszeit ist für die deutsche Bevölkerung von großer Angst und Unsicherheit über die Zukunft charakterisiert, die sie unter den alliierten Siegermächten erwartet. Die Gesellschaft ist zusammengebrochen. Millionen Männer befinden sich wie Margittas Bruder in Kriegsgefangenschaft. Ebenso viele Flüchtlinge und Vertriebene aus dem Osten strömen in die vier Besatzungszonen.
Der Zweite Weltkrieg hat unermessliches Leid und Zerstörung über weite Teile Europas gebracht. 55 Millionen Todesopfer sind zu beklagen, davon 5,5 Millionen Deutsche und 50 Millionen Angehörige zahlreicher anderer Völker. Ein Viertel der Toten sind Zivilisten. Sechs Millionen Juden fallen dem rassenideologischen Wahn der Nazis zum Opfer.
Bereits Ende April 1945 finden in Sonnewalde erste Verhaftungen durch die sowjetische Geheimpolizei des NKWD (sowjetisches Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten, russisch: Narodny Kommissariat Wnutrennich Del) statt. Margitta schnappt eine Diskussion darüber auf, dass der Sohn des Hauswirts von einem deutschen Hilfspolizisten angewiesen wurde, eine Liste über ansässige Nazis und Werwölfe anzufertigen.
»Ich war aber nicht beunruhigt, weil es niemanden aus Sonnewalde betraf. Der Werwolf existierte ja gar nicht bei uns.«
Als Margitta und ihre Mutter schließlich in ihr Haus zurückkehren können, finden sie leergeräumte Zimmer vor. Fast ihr gesamtes Eigentum wurde entwendet und sogar die Tiere mitgenommen, die den Beschuss der Stallungen überlebt hatten. Margitta ertappt einen kriegsversehrten Russen dabei, ihre Nähmaschine aus der Gartenlaube stehlen zu wollen. Mutig verteidigt sie den wertvollen Besitz, woraufhin ihr der Mann das Gerät anstandslos überlässt und es sogar noch ins Haus trägt.
»Und dann fingen wir wieder bei null an. Der Vater war tot, der Bruder in russischer Gefangenschaft. Es war eine harte Jugend.«
Armut, Kälte, Krankheiten und Hunger prägen den Alltag der Bevölkerung. Die beiden Frauen beginnen mit dem Aufräumen, und richten sich im Rahmen der Möglichkeiten neu ein. Sie mühen sich ab, um die Landwirtschaft nun allein zu bestreiten.
Da wird Margitta eines Vormittags Ende Mai 1945 überraschend festgenommen. Ein Russe weist sie an, ein Pferdefuhrwerk zu besteigen, auf dem schon eine Frau mit ihrer zehnjährigen Tochter sitzt, und fährt sie zum Gemeindeteil Peterhof, wo man sie gemeinsam mit zehn Personen in einen Keller steckt. Niemand erklärt ihnen, warum sie festgehalten werden. Schon am Abend schickt man alle zurück nach Hause.
Doch die so schnell wiedererlangte Freiheit ist trügerisch und währt nur kurz. Margitta ist gerade auf dem Feld bei der Kartoffellese, als sie am 2. November 1945 von einem Deutschen aufgesucht wird. Der Mann trägt eine Armbinde, die ihn als Hilfspolizist kennzeichnet, und ein Gewehr über den Rücken geschnallt. Obwohl er behauptet, sie nur zu einem kurzen Verhör mitnehmen zu wollen, soll die 16-Jährige dazu Wechselwäsche, ein Handtuch und eine Decke mitbringen. Eine Nachbarin wird Zeugin der Festnahme und ruft Margitta eindringlich zu, sie möge ausreißen. Doch diese weiß gar nicht, wohin, und so geht sie brav mit dem Mann mit.
In Sonnewalde werden zeitgleich vier Jungen und drei Mädchen festgenommen – auch der Sohn des Hauswirts, ihr mutmaßlicher Denunziant. Zusammen mit acht anderen Jugendlichen wird Margitta in eine kleine Zelle des Schlosskellers eingesperrt.
»Wir waren schon bitter dran. Also das war eigentlich für Sträflinge gedacht.«
Mehrere Tage sitzen sie in der Kellerzelle fest, nur unterbrochen von kurzen Hofgängen. Für die Notdurft wird ihnen lediglich eine Blechbüchse bereitgestellt.
Dann verfrachtet man Margitta erneut auf einen Pferdewagen und fährt sie 20 Kilometer weiter in Richtung Norden, um sie in die Haftanstalt Luckau zu überführen. Die Gefängnisgebäude gehen auf den Kirchenbau eines im 13. Jahrhundert gegründeten Dominikanerklosters zurück. Nach dessen Verfall wird 1747 aus den erhaltenen Baulichkeiten das Zucht- und Armenhaus Luckau errichtet, das der Unterbringung von Sträflingen, Armen, Geisteskranken und Waisenkindern dient. Zu diesem Zweck entstehen in den folgenden Jahrzehnten mehrere Nebengebäude. Der Erste Weltkrieg markiert den Beginn der politischen Haft in Luckau. Mit Ende des Zweiten Weltkriegs wird das Zuchthaus vom NKWD übernommen und als Untersuchungshaftanstalt genutzt. Hunderte bringt das NKWD von hier aus in sowjetische Speziallager.
Die Haftumstände sind menschenunwürdig. Mit der Trillerpfeife reißt das morgendliche Weckkommando die Gefangenen aus dem Schlaf und befiehlt Margitta, umgehend den Notdurft-Kübel zum Entleeren herauszutragen. Doch der Eimer ist aufgrund der vielen Zelleninsassen so voll, dass Margitta es kaum schafft, ihn anzuheben, und überfordert vom Drill und der fremden Umgebung in Panik verfällt.
Sie ist erleichtert, als sie später mit dem Heizen der Gefängnisräume beschäftigt wird. Durch die ihr aufgetragene Arbeit lernt sie einen großen Teil der Haftanstalt kennen und ihr Gesicht wird vielen sowjetischen Wachposten geläufig. Auch in den Vernehmungsräumen wird Margitta zum Nachfeuern eingesetzt. So kommt es vor, dass sie Mithäftlingen begegnet, während diese gerade von NKWD-Beamten schwer gefoltert werden.
Psychische und physische Gewalttätigkeit ist in den stundenlangen Vernehmungen gang und gäbe. Doch Margitta bleibt heftige Gewalt erspart.
»Ich hatte immer großes Glück, kann ich so im Nachhinein sagen. Weil ich so jung war vielleicht, ich weiß nicht, warum. Ich tat mich ja nicht besonders hervor.«
In den Vernehmungen wird nun klar, dass man Margitta die Mitgliedschaft in der Nazi-Organisation »Werwolf« anhängen will. Die Dolmetscherin liest ein entsprechendes Protokoll vor und eine abgezwungene Unterschrift auf dem Schriftstück besiegelt Margittas Schicksal.
Als Margitta über ihre Tätigkeit im BDM befragt wird, befiehlt die Dolmetscherin ihr, eins dieser Lieder vorzutragen. Es fühlt sich für Margitta völlig verkehrt an, die schöne Melodie in dieser bitteren Situation anzustimmen.
Ein weiterer Glücksfall ist, dass die sowjetischen Wachposten Margitta damit betraue, die persönlichen Gegenstände zu entsorgen, die den Neuankömmlingen in Luckau bei Leibesvisitationen abgenommen werden. Sie nutzt die Gelegenheit, heimlich Gegenstände an sich zu nehmen.
»Einen kleinen Bleistift und eine Schere, ein kleines Messer und auch einen Löffel. Ich steckte alles bei mir unten ins Mantelfutter rein. Und dadurch behielt ich das bis Mühlberg.«
Margitta ahnt zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wie nützlich ihr die kleinen Dinge werden sollen, denn wie für die NKWD-Gefangenschaft üblich, erhält sie keinerlei Auskunft darüber, was ihr bevorsteht und wohin ihr Weg sie führt. So hofft sie bei jedem weiteren Transport auf eine Entlassung.
Doch nach ihrem Aufenthalt in der Luckauer Haftanstalt bringt man Margitta nach Cottbus. Hier nutzt das NKWD/MWD von Mai 1945 bis 1950 das Amtsgerichtsgefängnis am Gerichtsplatz als Untersuchungshaftanstalt für die südbrandenburgische Region. Anders als zuvor sind es nun Margittas Zellengenossen, die im Gefängnis Cottbus zur Arbeit eingesetzt werden, während sie stundenlang einsam in einer kleinen Zelle sitzt. Weil sie nicht weiß, wie lange sie es dort aushalten muss, empfindet sie die Zeit als besonders grausam.
»Da heulte ich nur. Ich konnte mit niemandem sprechen, die kamen nur zum Schlafen und ich saß mutterseelenalleine dort drin von früh bis Abend.«
Am 8. Dezember 1945 wird Margitta ins sowjetische Speziallager Nr. 6 Jamlitz gebracht. Damit ist sie eine von insgesamt 1.306 Gefangenen, die ab Dezember 1945 in wöchentlichen Transporten von Cottbus nach Jamlitz verbracht werden.
Ursprünglich befand sich das sowjetische Speziallager Nr. 6 in der Siedlung »An der Wachsbleiche« in Frankfurt/Oder. Weil das Gebiet östlich der Oder jedoch unter polnische Verwaltung kommt, sucht die Abteilung Speziallager nach einem neuen Lagerstandort und entscheidet sich für das ehemalige »Arbeitslager Lieberose«, ein Außenlager des KZ Sachsenhausen. Schon Ende August 1945 werden erste Häftlingsgruppen zum Aufbau der Anlage eingesetzt, die Verlegung der restlichen Gefangenen erfolgt am 12. September. Zu Fuß müssen die Häftlinge die 50 Kilometer lange Strecke von Frankfurt nach Jamlitz zurücklegen.
Wie auch in den anderen Speziallagern der SBZ handelt es sich bei den Inhaftierten vorwiegend um Deutsche, die wegen ihrer aktiven oder lediglich nominellen Mitgliedschaft in der NSDAP oder in deren Gliederungen, wegen illegalen Waffenbesitzes oder sonstiger Verdächtigungen von den Operativgruppen des NKWD verhaftet werden. Unter ihnen sind zahlreiche Jugendliche zwischen 12 und 21 Jahren, die den sowjetischen Besatzungsbehörden aufgrund ihrer HJ- oder BDM-Mitgliedschaft gefährlich erscheinen und meist pauschal als »Werwolf« abgestempelt in die Speziallager eingewiesen werden.
In der Mehrzahl sind es also Zivilinternierte, die man ohne individuelle Schuldüberprüfung in den NKWD-Lagern wegsperrt, wohl auch, damit sie der Errichtung des stalinistischen Systems in der sowjetischen Besatzungszone nicht im Wege stehen können. Das Speziallager Nr. 6 Jamlitz nimmt aber auch eine hohe Anzahl Sowjetbürger auf: Angehörige der »Wlassow-Armee«, Emigranten, die Russland nach der Oktoberrevolution 1917 verlassen hatten und sonstige als »Verräter aus der Heimat« eingestufte Personen. Sie werden in einer gesonderten Zone untergebracht und im Frühjahr 1946 in die UdSSR deportiert.
Das Lagergelände ist in mehrere Zonen gegliedert, die durch einen drei Meter hohen Stacheldrahtzaun gesichert werden. Er wird später noch mit einem Bretterzaun ergänzt, um die völlige Isolierung der Insassen zu garantieren. Damit die Sperrzone rings um den Lagerzaun freies Schussfeld bekommt, müssen die Gefangenen die dort stehenden Bäume fällen. Auf dem Gelände befinden sich eine Küche mit Speisesaal, eine Banja, eine Bäckerei, ein Lazarett, Werkstätten, eine Wäscherei und eine Schneiderei, die Frisierstube sowie eine Arrestzelle.
Margitta wird nach ihrer Ankunft in das Frauenlager gebracht, das gesondert vom Bereich der Männer liegt. Die Unterbringung der Häftlinge erfolgt in Holzbaracken mit kärgster Ausstattung. Selten stehen Tische oder Bänke zur Verfügung, und geschlafen wird in engen Reihen auf mehrstöckigen Holzpritschen.
Die einfache Bauweise der Baracken bietet keinerlei Schutz vor der Kälte, welche die wenigen Kanonenöfen auch nicht zu vertreiben imstande sind. Schlimmer noch, als angebliche Maßnahme gegen das Ungeziefer lässt das sowjetische Personal die Fußbodendielen und Pritschen täglich anfeuchten, was die Kälte und Nässe in den Baracken verstärkt.
»Richtige Straflager waren das.«
Notdürftig decken sich die Häftlinge mit ihren Mänteln und Jacken zu, oder mit dünnen Decken aus Papier, die mit Holzspänen gefüttert sind. Jeder trägt das, was er besitzt, Tag und Nacht am Leib. Die Kleidung verschleißt zusehends.
Persönliche Gegenstände sind nicht erlaubt und deren Besitz wird regelmäßig kontrolliert. Margittas Habseligkeiten bleiben im Futter ihres Mantels unentdeckt. Wenn eine Durchsuchung der Baracken ansteht, versteckt sie ihre Schätze im staubigen Sand des Lagergeländes und holt sie sich nach Beendigung der Aktion wieder.
»Das waren Reichtümer. Hatte ja niemand eine Schere oder eine Nagelfeile. Die meisten hatten nicht mal eine Zahnbürste mit.«
Margitta erinnert sich daran, wie die Frauen am ersten Tag eine Waschschüssel voller Graupensuppe bekommen. Niemanden kümmert es, womit die Portionen aufgeteilt werden. Also holt Margitta den heimlich entwendeten Löffel aus ihrem Mantel hervor und gibt ihn reihum, so dass jede ihrer Kameradinnen essen kann.
Bis auf die täglichen Zählappelle gibt es für die Insassen des Speziallagers Jamlitz nur wenig Berührungspunkte mit der sowjetischen Lagerleitung, die in der Lager-Vorzone ihren Kommandanturbereich bezogen hat. Die innere Lagerselbstverwaltung erfolgt durch Funktionshäftlinge und ist militärisch nach Baracken gegliedert. Darüber hinaus existiert eine Lagerpolizei und es werden Melder und Gehilfen eingesetzt.
»Die Lagerälteste war ein ehemaliger tschechischer Häftling und die war sehr, sehr gemein. Die machte von sich aus vieles, was von den Russen gar nicht angesetzt war.«
Nur etwa 200 der bis zu 7.000 Internierten sind in die Arbeitskommandos eingebunden, die den täglichen Betrieb des Lagers gewährleisten: Brotholen, Jauchetonnen wegtragen, Handwerksarbeiten, Kartoffelschälen. Frauen werden meist zum Waschen und Nähen eingesetzt. Außerdem kommandiert man sie zum Putzen in die Offizierswohnungen ab und selten zu Außenkommandos, wo sie Feldarbeiten erledigen oder Wildgemüse und Pilze sammeln. Margitta kommt nicht in die Vergünstigung einer Arbeitsstelle, die in der Regel mit einer zusätzlichen Essensration verbunden ist.
Das Nichtstun führt bei vielen Internierten zu Depression, Resignation und geistiger Verarmung. Jegliche geistig-kulturelle Selbstbeschäftigung ist laut Lagerordnung verboten. Was dennoch im Heimlichen entsteht, wird mündlich weitergetragen, und so sind heute viele Gedichte und Lieder die immateriellen Zeugnisse tausender Lagerschicksale.
Demgegenüber steht die sogenannte Kultura, die durch die sowjetische Lagerleitung in vielen Speziallagern ausdrücklich zum Aufbau angeordnet wird. Aus Häftlingen rekrutiert, die vor ihrer Verhaftung Schauspieler, Musiker oder Tänzer waren, entsteht im Lager Jamlitz eine Theatergruppe samt Orchester. Die sowjetischen Offiziere und deren Angehörige sowie die Häftlinge wohnen den Aufführungen bei.
Margitta wird eines Tages von der Schauspielerin Marianne Simon aufgefordert, in der Ballettgruppe mitzuwirken. Doch sie hat Angst, sich zu blamieren, und außerdem Schmerzen im Meniskus, darum lehnt sie ab.
Als Margitta an ihrem 17. Geburtstag am 16. August 1946 in das Verhörzimmer einer sowjetischen Kommandanturbaracke gerufen wird, ist sie höchst besorgt. Doch zu ihrer Überraschung findet keins der gefürchteten Verhöre statt. Stattdessen wird sie dazu aufgefordert, einen Brief nach Hause zu schreiben.
»Ich war ganz platt. Der erzählte mir, was ich alles schreiben muss. Eben nur Positives. Aber mir war es wichtig, dass die Mutti weiß, dass ich noch lebe.«
Tatsächlich erreicht der Brief mit dem Absender »Margitta Tosch, z.Z. Jamlitz b. Lieberose« Margittas Mutter in Sonnewalde. Margitta kann damals nicht einordnen, was der Grund für die plötzliche Erlaubnis zur Kontaktaufnahme ist. Nach heutigem Forschungsstand weiß man allerdings, dass mehrere Gefangene im Lager Jamlitz in ähnlichem Wortlaut an ihre Eltern schreiben mussten.
Die Briefe sind der Versuch des MWD, die Bevölkerung zu beruhigen und über die Zustände in den Speziallagern zu täuschen. Damit reagiert das sowjetische Ministerium für Innere Angelegenheiten sowohl auf die Zunahme illegaler Kassiber nach draußen als auch auf erste Presseberichte.
Margittas so positiv formulierter Brief entspricht jedoch nicht im Geringsten der Lagerrealität. Manche Häftlinge essen in ihrer Verzweiflung die Rinde der Kiefern, die auf dem Gelände stehen. Infolge der bewusst zugeteilten Hungerrationen kommt es bei den Internierten neben den Qualen, die das ständige Hungern verursacht, zu zahlreichen Krankheiten wie Ruhr, Typhus, Tuberkulose und Gürtelrose. Die Dystrophie, eine durch Fehl- und Mangelernährung bedingte Degeneration des Körpers, zeigt sich in Wasseransammlungen, Furunkulose, Muskelschwäche und sogar in Formen von Demenz.
Auch Margitta hat mit den Folgen des eklatanten Nährstoffmangels zu kämpfen. Sie magert stark ab. Ihre Periode bleibt während der gesamten Haftzeit aus, sie leidet unter Hautausschlägen aufgrund der Läuse, Flöhe und Wanzen und bekommt Geschwüre am Gesäß.
»In Mühlberg versuchten sie mehr, uns zu helfen. Da mussten mich Burschen festhalten, und die schnitten das auf und drückten es aus, oder schmierten es mit schwarzem Zeug ein.«
Im Winter des Frühjahrs 1947 sterben im Speziallager Jamlitz durchschnittlich 25 Menschen am Tag. Sie sind nicht nur Opfer des Mangels an Wärme, Hygiene und grundlegender Ernährung, sondern auch an menschlicher Zuwendung und Gewissheit über ihre Zukunft. Die Häftlingsärzte haben angesichts der fehlenden Medikamente oder medizinischen Geräte kaum eine Chance, die vielen Erkrankten vor dem Tod zu bewahren.
Beerdigt man die Toten zu Anfang noch in Einzelgräbern, so wird schnell dazu übergegangen, die zahlreichen Verstorbenen anonym in Massengräber zu stecken und mit Kalk zu bestreuen. Auch wenn die Verscharrungen in der Heimlichkeit der Dunkelheit geschehen, so hören die Häftlinge doch die Leichenkarren über die Lagerstraße ziehen.
Das Speziallager Nr. 6 Jamlitz weist eine der höchsten Sterberaten aller Speziallager auf. Bemerkenswert ist, dass mit 16 Insassinnen nur zwei Prozent der Frauen sterben. Doch von den 10.300 Häftlingen, die das Lager insgesamt durchlaufen, kommen in knapp zwei Jahren mindestens 3.380 um.
Kein anderes Lager hat bei seinen Insassen einen derart schlechten Gesundheitszustand zu verzeichnen. Als der sowjetische Ministerrat Ende 1946 aus Jamlitz 1.200 Häftlinge für die Deportation in sowjetische Zwangsarbeitslager anfordert, können selbst nach großzügiger Einstufung in die Gruppe der Arbeitsfähigen nur 590 der knapp 7.000 Gefangenen aufgestellt werden.
Ende März 1947 wird das Speziallager Jamlitz aufgelöst. Doch seine Schließung bedeutet nicht die Entlassung der Internierten. Sie werden nach Russland deportiert und in die Speziallager Mühlberg, Buchenwald und Sachsenhausen überstellt.
Margitta gelangt Anfang April 1947 mit einem etwa 2.160 Gefangene zählenden Transport nach Mühlberg. Das Frauenlager, das bisher 560 Personen beherbergt hat, muss für die 880 neuangekommenen Frauen schnellstens vergrößert werden, wofür die zwei Männerbaracken 30/30a und 31/31a hergerichtet und neu eingezäunt werden. Der Standard dieser Holzbaracken steht im starken Kontrast zum »alten« Frauenlager mit seinen deutlich kleineren und besser erhaltenen Steinbaracken. Margitta jedoch empfindet ihre neue Umgebung als moderate Verbesserung.
Wieder gelingt es Margitta bei der Aufnahme ins Lager, trotz der Leibesvisitation, unentdeckt ihre Gegenstände einzuschmuggeln. Und obwohl nur wenige der Neuankömmlinge einen der begehrten Posten bekommen, wird Margitta sogleich von der Gruppenältesten dazu auserkoren, als Melderin in Baracke 31 zu arbeiten. Zunächst zweifelt die 18-Jährige, da sie stets bemüht ist, nicht aufzufallen oder hervorzutreten, doch ihre Kameradinnen bestärken sie, die Stelle anzunehmen. Als Kennzeichnung ihrer Position trägt Margitta eine rote Armbinde, die sie selbst nähen muss. Neben Botengängen und Schreibarbeiten ist Margittas Aufgabe hauptsächlich, männliche Arbeitskommandos im Frauenlager zu begleiten. Sie hat dabei zu beaufsichtigen, dass keine Verbindungen zwischen den Geschlechtern aufgenommen werden, denn das verbietet die Lagerordnung streng.
»Oh, das war mir ein Gräuel, da mitzugehen! Jeder wollte sich mit mir unterhalten.«
Als neues, hübsches Gesicht im Lager Mühlberg ist das Interesse der männlichen Gefangenen an Margitta groß. Margitta wiederum hat zu diesem Zeitpunkt kein Interesse am anderen Geschlecht. Dennoch erhält sie immer wieder kleine Briefe, die auf Zeitungsränder geschrieben wurden.
Einer der jugendlichen Mitgefangenen, der die unerfahrene 19-Jährige kontaktiert, ist Rudolf Naumann, der als Melder des Lagergärtners arbeitet. Durch seine Arbeitsstelle ist es Rudolf möglich, hin und wieder etwas Gemüse aus der Lagergärtnerei zu schmuggeln, dass er Margitta über den Zaun wirft. Die Krönung des Möglichen in einem lebensfeindlichen Umfeld wie dem Speziallager Mühlberg ist ein Blumenstrauß aus zartrosa Rosen, der Margitta eines Abends durch eine Krankenschwester zugestellt wird. Ein kleines Kärtchen kennzeichnet Rudolf als Absender und markiert den Beginn einer heimlichen Brieffreundschaft.
Die Frauen, die mit den Transporten aus Jamlitz und anderen Lagern nach Mühlberg kommen, haben zwar durchaus Kontakt mit den »alteingesessenen« Frauen, bleiben aber größtenteils unter sich. Sie haben bereits feste Strukturen ausgebildet und halten in kleinen »Familien« zusammen, in denen sie nicht nur ihre Essensrationen, Träume und Ängste miteinander teilen, sondern auch die Geburtstage ihrer Angehörigen feiern.
Für Margitta gibt es auch immer wieder unbekannte Helfer im Lageralltag. Als sie nach einem Zahnarztbesuch mit einer Gruppe zurück ins Frauenlager geführt wird, winkt ihr ein Häftling, der als Melder arbeitet, aus einem Barackenfenster zu. Er bedeutet Margitta, heranzutreten. Zwar fürchtet sie Bestrafung, sollte ihr Heraustreten aus der Reihe bemerkt werden, doch folgt trotzdem seiner Aufforderung. Zu ihrer Überraschung drückt der junge Mann ihr ein ganzes Weißbrot in die Hand. Nicht nur Margitta freut sich darüber, sondern auch ihre Kameradinnen, mit denen sie teilt. Und nach einem Arbeitseinsatz bei der Kartoffellese gelingt es ihr, ein paar der Kartoffeln, die sie im Mantelfutter herausschmuggelt, über den Zaun ins Männerlager zu werfen.
»So ein Glück hatte ich dort.«
Doch nicht alles, das einem hilft, die Lagerzeit zu überstehen, ist kostenlos. Unter den Insassen blüht der Tauschhandel. Um ein eigenes Essensgefäß zu erwerben, muss Margitta sich eine Brotration vom Munde absparen. Dafür wird ihr eine Schüssel aus einem alten Stück Ofenrohr hergestellt. Auch eine aus Draht gefertigte Nähnadel erkauft sie sich auf diese Weise und näht sich aus Stoffstückchen und den Fäden ihrer eigenen Kleidungsstücke neue Sachen.
Obwohl Margitta sorgfältig auf ihre Habseligkeiten achtet, wird ihr eines Tages die Zahnbürste gestohlen. Sie meldet den Verlust bei der Lagerältesten, doch ohne Erfolg. Regelmäßig überprüft sie den Waschraum eingehend und findet schließlich selbst das wertvolle Stück wieder, das von der Diebin nur schlecht versteckt wurde.
»Nicht, dass ich so übermäßig schlau war, aber ein bisschen bedacht. Und siehe da! Ich machte sie dann sauber. Mensch, ich wollte mir doch auch mal wieder die Zähne putzen!«
Die Schicksalsgemeinschaften der sowjetischen Speziallager haben ihre eigene Dynamik. Beurteilungen des Verhaltens von Menschen unter Bedingungen allumfassenden Mangels sind fehl am Platz, denn die Gefangenen haben nichts, woran sie moralische Grundwerte ausrichten könnten. Solidarität und Ausgrenzung können deshalb eng beieinander liegen.
Margitta wird Zeugin davon, dass die Spitzeltätigkeit einer Mitinsassin auffliegt und die anderen Häftlinge sie gnadenlos bestrafen. Doch in der Konsequenz muss die ganze Belegschaft der Baracke für diese Aktion stundenlang Strafe stehen.
Margitta pflegt nur wenige enge Kontakte im Speziallager Mühlberg, Vertrauensverhältnisse sind rar. Deshalb ist es für Margitta eine unangenehme Situation, als sie von einer Gefangenen, die sie gar nicht näher kennt, um ein Vier-Augen-Gespräch gebeten wird. Mit großer Skepsis sucht Margitta den ausgemachten Treffpunkt hinter dem Magazin auf, wo die Frau sich nach Margittas Befinden erkundigt und nachfragt, ob ihr etwas fehlen würde. Argwöhnisch behauptet Margitta, rundum versorgt zu sein. Doch die Frau fragt beharrlich weiter, bis ihr auffällt, dass aus Margittas zerschlissenen Stoffschuhen bereits die Zehen herauslugen. Obwohl Margitta Ersatz vehement ablehnt, wird sie an ihrem Geburtstag aufgerufen, sich in der lagerinternen Schusterei einzufinden. Dort fertigt man ihr aus alten Herrenschuhen ein passendes Paar. Außerdem erhält sie eine maßgeschneiderte, weiße Jacke aus Bettleinen.
»Ich stand da wie ein Kind unter dem Weihnachtsbaum.«
Erst nach ihrer Rückkehr erfährt Margitta, dass sie die unerwarteten Geschenke einem russischen Arztmajor zu verdanken hat. Der Mann, der bei den Routineuntersuchungen im Speziallager Mühlberg immer sehr freundlich auftritt, wird kurze Zeit später nach Sonnewalde versetzt.
Vermutlich, weil sie seine direkte Nachbarin ist, wird Margittas Mutter als seine Schachpartnerin auserkoren. Bei einem Spiel erblickt der Arztmajor eine Fotografie von Margitta und fragt nach. Offen berichtet Margittas Mutter von der Gefangenschaft ihrer Tochter. Nachdenklich schaut der Mann auf die Fotografie des gesunden, gepflegten Mädchens und teilt der Mutter dann unvermittelt mit, Margitta gehe es gut, aber so wie auf dem Bild sehe sie nicht mehr aus.
Im Nachhinein belastet es Margitta, dass sie nie die Gelegenheit bekommt, dem Mann ihren Dank auszusprechen.
»Die durften ja eigentlich nicht so sehr nett sein zu uns, aber er war es. Es klingt wie im Märchen. Ja, es gibt überall Gute und Böse.«
Im Juli 1948 beginnen die Entlassungen und das sowjetische Speziallager Nr. 1 Mühlberg befindet sich in der Phase seiner Auflösung. Vier Tage nach ihrem 20. Geburtstag, am 20. August 1948, darf Margitta den langersehnten Weg in die Freiheit antreten. Rudolf Naumann verabschiedet sich von seiner Brieffreundin mit einem Abschiedsstrauß: ein in weißes Schleierkraut gehülltes Herz aus roten Nelken. Margitta wickelt ein feuchtes Läppchen um den Blumenstrauß und bewahrt das liebevolle Andenken zu Hause noch lange.
Bei der Entlassung bekommen die Frauen 40 Mark Fahrtgeld ausgehändigt. Außerdem wird ihnen äußerst eindringlich befohlen, über die Gefangenschaft zu schweigen. Ansonsten würden sie gleichbehandelt werden wie jeder andere Bürger auch, heißt es. Es gäbe angeblich keine Nachteile durch die Inhaftierung, und diese wäre ja sowieso auch nur zu ihrem Schutz gewesen.
Die Gruppe ehemaliger Häftlinge, mit der Margitta die Rückreise gemeinsam antritt, kehrt zunächst in eine Gaststätte ein, um ihr Reise- und Verpflegungsgeld sogleich in eine ordentliche Mahlzeit umzusetzen. Margitta teilt sich nur ein Essen mit ihrer Freundin, denn sie ist besorgt, wie es um die finanzielle Lage ihrer Mutter daheim steht.
Auf dem Bahnhof begegnet ihnen absolute Hilfsbereitschaft. Die Bahnbeamten sind schon vielen Heimkehrern begegnet und erlauben den Zustieg in einen Güterzug. Über Falkenberg reist die Gruppe bis nach Doberlug-Kirchhain, wo sie auf dem Bahnhof von eher entlassenen Lagerinsassen freudig begrüßt wird. Margitta erkennt einen Leidensgenossen wieder, der schon die erste Haftstation im Sonnewalder Schloss mit ihr teilte. Gemeinsam geht man zu einer befreundeten Familie, die ein Telefon besitzt und die Angehörigen aller Heimgekehrten benachrichtigt.
Nach ihrer dreijährigen Gefangenschaft wird Margitta endlich von ihrer Mutter nach Hause geholt.
»Aber es war nicht gleich um den Hals Fallen. Nicht, dass wir uns gezankt hätten oder so, aber irgendwie war da eine Mauer. Es war alles anders. War ein bisschen derb lange.«
Margitta berichtet ihrer Mutter nicht viel über das Erlebte, und es werden ihr auch keine Fragen gestellt. Direkt am nächsten Tag wird sie in der Landwirtschaft mit eingebunden, als wäre sie immer dagewesen. Margittas Bruder ist 1947 aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt, doch die Familie muss noch immer um das wirtschaftliche Überleben kämpfen.
Die 20-Jährige holt auf, wonach ihr Körper sich lange verzehren musste, und nimmt an Gewicht zu. Einer ihrer ersten Wege führt sie zu den Eltern von Rudolf Naumann, denen sie berichtet, dass der Sohn am Leben und vom Lager Mühlberg nach Buchenwald verbracht worden ist.
Weitere Kontakte zu ehemaligen Häftlingen, deren Familien sie benachrichtigen könnte, hat sie nicht. Zurück in der Freiheit hat Margitta stattdessen oft das starke Bedürfnis, sich zurückzuziehen und für sich allein zu sein. Nicht nur die langen Jahre der Gefangenschaft und die dabei gemachten, bitteren Erfahrungen haben Spuren hinterlassen. Die Strapazen zeigen auch gesundheitliche Nachwirkungen bei Margitta. Im Lager Mühlberg werden ihr etliche Zähne gezogen. Ihr Zahnarzt hat dafür kein Verständnis und kritisiert die junge Frau harsch.
»Aber ich konnte ihm ja nicht sagen, ich war eingesperrt. Wir durften nicht drüber reden. Wir mussten vieles schlucken, wo wir uns hätten rechtfertigen können, aber es ging halt nicht.«
In der bald darauf gegründeten DDR bemüht sich Margitta um einen Ausbildungsplatz. Sie hegt den Wunsch, als Kindergärtnerin zu arbeiten, doch auf ihre Bewerbungsschreiben folgen zunächst gar keine Antworten und später dann mehrere Ablehnungen mit der Begründung, es gäbe keinen Bedarf.
Durch eine befreundete Kindergärtnerin weiß Margitta ganz genau, dass dies nicht der Wahrheit entspricht. Sie ist wütend über die offensichtliche Benachteiligung.
»Die sagten mir bei der Entlassung, ich sei allen anderen Bürgern gleichgesetzt. Und wenn es eine Strafe hätte geben müssen, na, dann hatte ich die dicke abgesessen.«
Ein ehemaliger Lehrer rät ihr, der Freien Deutschen Jugend (FDJ) beizutreten, doch Margitta sträubt sich, denn die Jugendorganisation weckt bei ihr bittere Erinnerungen an die Hitlerjugend. Nach eingehender Überlegung tritt die dennoch in die FDJ ein. Und tatsächlich, schon kurz nach ihrer regelmäßigen Teilnahme an deren Veranstaltungen erfolgt eine Vorladung zur »Abteilung Volksbildung« und die Anstellung in einem Finsterwalder Betriebskindergarten. Später wird ihr sogar die Ausbildung ermöglicht, doch Margitta wird sie nicht abschließen, da die Familienplanung dazwischenkommt.
Ausgerechnet durch ihren Kameraden Rudolf Naumann lernt sie im Sommer 1952 ihren späteren Ehemann Hans-Georg Geißler kennen. Schon kurz nachdem sich das Paar gefunden hat, zieht Margitta zu Hans-Georg nach Mutzschen, wo dessen Familie ein Fuhrgeschäft betreibt und in der Land- und Forstwirtschaft tätig ist. Im Mai 1953 heiraten sie. Ihre Tochter Christine kommt 1954 zur Welt.
»Und blieb leider die einzige. Wahrscheinlich durch die Entwicklungsjahre, nichts zu essen gehabt die ganze Zeit.«
Mit der Familiengründung unterbricht Margitta ihre berufliche Entwicklung und arbeitet im Fuhrgeschäft mit. Doch als Familie Geißler verpflichtet wird, ihren Besitz an Land und Tieren in die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) einzubringen, setzt Margitta die Arbeit in einem Kindergarten in Mutzschen fort.
Ihre Mutter, die stets mit dem Erhalt der Landwirtschaft zu kämpfen hatte, wird von den DDR-Behörden im Januar 1953 wegen »Nichterfüllung des Viehhalteplanes« zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt. Dank einer Amnestie kommt sie jedoch nach sieben Monaten wieder frei.
Nach der politischen Wende und der deutschen Wiedervereinigung schließt sich Margitta den Initiativgruppen der ehemaligen sowjetischen Speziallager Jamlitz und Mühlberg an und besucht bis heute regelmäßig die jährlichen Mahn- und Gedenktreffen. Dort trifft sie viele ehemalige Kameraden wieder und schließt wertvolle Freundschaften.
Margitta erwirkt ihre politische Rehabilitierung und eine Opferrente bei den bundesdeutschen Behörden. Nach dem Tod ihres Mannes Hans-Georg im November 2010 lebt Margitta gemeinsam mit ihrer Tochter Christine in Mutzschen.
Trotzdem mittlerweile mehr als 70 Jahre vergangen sind, verblassen die Erinnerungen an ihre Zeit der Gefangenschaft nicht. Manchmal vertieft sie sich so sehr darin, dass die Tränen kommen.
»Das kann man nicht abschließen und nicht vergessen. Aber ich hatte auch ab und zu großes Glück. Und jetzt lässt mich der liebe Gott so lange leben. Er weiß, dass er was an mir gutzumachen hat.«