»Ich betrat eine mir völlig fremde Welt, die der politischen Gefangenen.«
Jörg Bernhard Bilke wird am 10. Februar 1937 in Berlin-Moabit geboren. Schon sechs Wochen nach seiner Geburt zieht seine Familie nach Rodach bei Coburg um. Mit seinen drei jüngeren Schwestern wächst Jörg in dem oberfränkischen Gebiet auf, das nach der Deutschen Teilung direkt an der innerdeutschen Grenze liegt. Das Bewusstsein der Spaltung Deutschlands erfüllt Jörgs Jugend.
Jörg besucht ab 1947 das humanistische Gymnasium Casimirianum in Coburg und ab 1955 die Oberschule in Kirchheim/Teck bei Stuttgart. Während ihm die Mathematik große Schwierigkeiten bereitet, zeigt sich bei dem Schüler eine außergewöhnliche Begabung im sprachlichen Bereich.
Schon während der Schulzeit ist für Jörg der Sozialismus in der DDR ein wichtiges Thema, das er wiederholt studiert. Die Welt, die er beim Besuch von Verwandten in Thüringen kennenlernt, ist eine völlig andere und beschäftigt ihn nachhaltig.
1958 absolviert Jörg das Abitur und beginnt ein Studium der Klassischen Philologie, Germanistik und Geschichte an der Freien Universität Berlin. In Berlin kann Jörg, wie er es ausdrückt, den Marxismus an der Quelle studieren. Er tauscht sich mit Ost-Berliner Studenten aus, die von der Humboldt-Universität nach Dahlem entsendet werden, um über die Zukunft Deutschlands zu debattieren. Auch in seinem Studentenwohnheim führt er darüber Diskussionen.
Mit Regelmäßigkeit fährt Jörg in den Ostsektor der geteilten Stadt, besucht das Theater und kauft sich deutsche Klassiker oder russische Werke, die er dann über die Zonengrenze schmuggelt und teilweise weitergibt. Zweimal erwischt ihn dabei der West-Berliner Zoll, doch ohne schwere Konsequenzen.
Im Oktober 1959 fährt Jörg zum ersten Mal nach Leipzig, in die Stadt, die er nicht nur für ihre alten Dichter, gegenwärtigen Professoren und das Gewandhausorchester verehrt, sondern zu der er auch einen familiären Bezug hat. Jörgs Mutter kommt gebürtig aus Markranstädt und hat Verwandte in Leipzig und der nahen Umgebung. Der 22-Jährige kommt für die zehn Tage seines Besuchs bei seiner Tante Inge unter, die in der Oststraße lebt.
Jörg wohnt Vorträgen an der Leipziger Karl-Marx-Universität bei und meldet sich in der Deutschen Bücherei an, um drei Romane von Erich Loest auszuleihen. Doch aufgrund der politischen Inhaftierung des Autors verweigert man die Herausgabe der Bücher.
Loest ist Vorsitzender des Schriftstellerverbandes Leipzig und SED-Mitglied. Er unterstützt die DDR-Regierung, bis sein Weltbild durch die Ereignisse um den 17. Juni 1953 stark erschüttert wird. Seine nachhaltige Kritik an der SED-Führung und sein lautes Nachdenken über die Konsequenzen einer Entstalinisierung für die DDR führen 1957 zum Ausschluss aus der SED sowie zur anschließenden Verhaftung und Verurteilung zu siebeneinhalb Jahren Haft wegen »konterrevolutionärer Gruppenbildung«.
Verärgert berichtet Jörg seiner Tante von seinem Fehlschlag und ist überrascht, als sie lachend antwortet, das sei gar kein Problem, da Loests Ehefrau nur zwei Häuser weiter wohne. Also sucht der Student nach Einbruch der Dunkelheit Annelies Loest auf, die dem unangemeldeten Westbesuch nach kurzem Zögern tatsächlich die gewünschten Romane aushändigt.
Jörg nimmt die Bücher mit nach West-Berlin. Im Dezember 1959 schickt er sie von einem Ost-Berliner Postamt aus und mit dem fiktiven Absender »Jörg Bilke, Deutsche Staatsbibliothek Unter den Linden« zurück nach Leipzig.
»Ich wollte nicht, dass Frau Loest in Schwierigkeiten gerät, wenn sie die drei Bücher aus West-Berlin bekommen hätte.«
Im Herbst 1960 geht Jörg nach Mainz, wo er das Studium der Germanistik, Komparatistik und Geschichte aufnimmt. Er arbeitet als freier Mitarbeiter für die Studentenzeitung »nobis«. Im Sommer 1961 veröffentlich er – zum Teil unter dem Pseudonym »Marius Flamberg« – sieben Artikel, in denen er sich kritisch mit der Kulturpolitik der DDR auseinandersetzt.
Im Fokus seiner Artikel stehen die DDR-Literatur und ihre Schriftsteller, die Veränderung der deutschen Sprache durch die Einflüsse der jeweiligen Besatzungsmächte und der Aufstand des 17. Juni 1953. Klar und deutlich äußert Jörg, dass »der Zonenstaat eine Diktatur ist« und dass der »Phrasencharakter« des Paragrafen 6, der eigentlich die Meinungsfreiheit offiziell in der Verfassung der DDR verankert, »durch eine Unzahl von Gefängnis- und Zuchthausstrafen erwiesen« sei.
Die Gegenwartsliteratur der DDR fasziniert den Studenten. Er brennt darauf, Autoren wie Christa Wolf, Anna Seghers und Erich Loest persönlich kennenzulernen. Jörg trifft sich zu persönlichen Gesprächen mit Professor Hans Mayer in Frankfurt am Main und dem Schriftsteller Gerhard Zwerenz in Köln. In den Semesterferien des Jahres 1961 möchte Jörg die Leipziger Buchmesse besuchen.
Doch plötzlich erfolgt in Ost-Berlin der Mauerbau. Mit der Sperrung der innerstädtischen Sektorengrenze manifestiert die SED am 13. August 1961 die deutsche Teilung, die bereits seit 16 Jahren Politik und Gesellschaft spaltet. Jörg ist verunsichert, ob er die Herbstmesse unter diesen Umständen besuchen sollte. Gleichzeitig ist der 24-Jährige von der Neugier getrieben und vom Ungewissen gereizt.
»Seit Jahren lebte ich nach einem Unsicherheitsprinzip. Abenteuerlust, Studentenromantik, bis zur Verhaftung ein ästhetisches Unternehmen, kein ethisches.«
Jörg besorgt sich den Messeausweis. Mit seiner Entscheidung für die Einreise in die DDR schlägt er nicht nur seine eigenen Zweifel, sondern auch die seines Vaters in den Wind. Sein Vater warnt ihn nämlich, dass in der DDR seine »nobis«-Artikel bekannt sein könnten. Doch Jörg erwidert, die hätte er ja in Westdeutschland veröffentlicht, das ginge die doch nichts an.
»Aber die Stasi dachte anders. Die sagten sich, wenn einer Artikel mit solchem aggressiven Potenzial schreibt, dann hat er was vor, wenn er in die DDR einreist. Und das wollen wir wissen.«
Mit dem Motorrad tritt Jörg am 6. September 1961 seine Reise nach Leipzig an und fährt über die Autobahn in Richtung Kassel. An einer Tankstelle lässt er den Scheinwerfer öffnen, um darin die 100 Mark Ost zu verstecken, mit denen er beabsichtigt, Bücher zu kaufen. Auf der hessischen Seite des Grenzübergangs Wartha/Herleshausen erfolgt die Ausweiskontrolle so schnell und anstandslos, dass Jörg nicht einmal absteigen muss.
Für die Kontrolle auf der DDR-Seite des Grenzpunkts muss er allerdings das Motorrad abstellen, eine Baracke betreten und dort seinen Ausweis abgeben. Das Personaldokument wird durch einen Schlitz in einen holzverkleideten Nebenraum geschoben.
Die Ausweiskontrolle dauert unverhältnismäßig lang. Reisende, die nach ihm angekommen sind, verlassen das Kontrollhäuschen bereits wieder, während Jörg noch immer wartet. Ein mulmiges Gefühl besteigt ihn und er befürchtet schon, dass seine Einreise abgelehnt werde. Doch endlich kommt ein Grenzpolizist mit dem Ausweis zurück und fragt, ob Jörg nach seiner Geburt noch in Berlin gelebt habe. Jörg verneint. Er ist skeptisch, doch darf weiterfahren.
In Leipzig angekommen sucht er als erstes einen befreundeten Studenten auf. Jörg hat den acht Jahre älteren Amerikanistik-Studenten bei seinem ersten Besuch in Leipzig kennengelernt und sogar schon einmal in seinem West-Berliner Studentenwohnheim als Übernachtungsgast empfangen. Vertrauensselig lässt Jörg seine Tasche und seinen Koffer für etwa eine halbe Stunde in der Wohnung des Studenten, um einen wichtigen Anruf zu tätigen.
»Das war das Dümmste, was ich hätte machen können. Der öffnete meinen Koffer und berichtete dann alles der Stasi. Das steht alles in meinen Akten.«
Von der Bespitzelung ahnt Jörg zu diesem Zeitpunkt nichts und verabredet sich mit seinem vermeintlichen Freund gleich für den nächsten Tag, an dem sie durch die Stadt schlendern und sich angeregt über politische Themen unterhalten. Jörg füllt seinen dreitägigen Aufenthalt in Leipzig mit einem prallen Kulturprogramm. Er besucht die Buchmesse, geht mit seiner Tante in die Oper und trifft sich erneut mit Lehrenden wie Professor Hans Mayer.
Der 9. September 1961 ist Jörgs dritter Tag in Leipzig, an dem er zwei wichtige Dinge erledigen möchte, bevor er am darauffolgenden Morgen wieder zurück in die Bundesrepublik fahren will.
Als erstes sucht er Annelies Loest auf, um ihr Grüße von Gerhard Zwerenz zu bestellen, den er vor wenigen Wochen in Köln traf. Der Schriftsteller ist seit Jahren mit Erich Loest befreundet. Zwerenz wird 1957 wegen kritischer Äußerungen gegen das SED-Regime aus der Partei ausgeschlossen und entzieht sich seiner drohenden Verhaftung durch Flucht in die Bundesrepublik. Auch dort observiert ihn das MfS. Zwerenz thematisiert seine Flucht und Loests Inhaftierung in Zeitungsartikeln. Jörg trifft Frau Loest an diesem Vormittag in der Oststraße nicht an. Die Hauswärterin, die gerade den Flur aufwischt, teilt ihm mit, dass Annelies Loest arbeiten sei.
Jörg fährt also zurück in die Innenstadt, um seine zweite Erledigung zu tätigen: Er läuft etliche Leipziger Buchhandlungen ab, um einen bestimmten Gedichtband zu erwerben, der jedoch noch nicht erschienen ist. Auf dem Weg zurück zu seinem Motorrad stattet Jörg der Karl-Marx-Universität noch einen Besuch ab. Den Studenten interessieren die Vorlesungen, die an der Philosophischen Fakultät angeboten werden.
Beim Studieren des Schwarzen Bretts fällt ihm ein Aushang besonders ins Auge: die Pflichtvorlesung für Hörer aller Fachrichtungen und Studienjahre »Die humanitäre Funktion des antifaschistischen Schutzwalls«.
»Das war interessant. Ich schrieb es mir auf, ohne zu ahnen, dass ich mich eines politischen Delikts schuldig machte, der ›Sammlung von Nachrichten‹.«
Mit dem Verlassen des Universitätsgeländes ist für Jörg sein Leipzig-Aufenthalt nun beendet. Er läuft zu seinem Motorrad, das er auf dem Karl-Marx-Platz abgestellt hat. Gerade steckt er den Zündschlüssel ins Schloss, als ihm auffällt, dass hinter ihm ein graues Auto parkt, aus dem sogleich zwei Männer in Ledermänteln aussteigen. Sie kreisen Jörg von rechts und links ein und teilen ihm mit, er sei festgenommen.
»Willenlos ließ ich mich abführen, ich war wie betäubt. Damit, dass ich verhaftet würde, hatte ich nun nicht mehr gerechnet.«
Sein Motorrad bleibt mit eingestecktem Zündschlüssel und dem hinten festgebundenen Koffer auf dem Karl-Marx-Platz stehen. Jörg muss auf dem Rücksitz des Wagens Platz nehmen. Dann geht es in rasanter Fahrt durch die Leipziger Innenstadt bis in die Beethovenstraße, wo der Sitz der MfS-Bezirksverwaltung ist. Das Auto hält vor einem schmiedeeisernen, grüngestrichenen Tor. Der jüngere seiner Bewacher steigt aus und verschwindet durch eine Seitentür. In Jörgs Kopf rast es. Was meldet der Beamte wohl jetzt? Verbrecher Bilke gefangen?
»Das Tor öffnete sich, der Pkw fuhr hinein: Ich betrat eine mir völlig fremde Welt, die der politischen Gefangenen!«
Barsch fordern die Uniformierten Jörg auf, auszusteigen und sich mit erhobenen Händen und dem Gesicht zur Wand aufzustellen, um ihn nach Waffen abzusuchen. Dann führen sie ihn eine Wendeltreppe hinauf in einen kleinen Raum mit gepolsterter Tür, in dem drei Männer auf ihn warten. Einer trägt Zivilkleidung, der zweite ist ein Oberleutnant in Uniform, der in der kommenden Stunde Macht demonstrierend vor Jörg auf und ab schreitet. Der dritte Beamte ist der »Genosse Leutnant 3/5«, den Jörg im kommenden halben Jahr regelmäßig als seinen Vernehmer vor sich sitzen haben wird.
Die MfS-Beamten verlangen von Jörg, sich auf den am Boden festgenieteten Hocker zu setzen und Auskunft über jedes Detail seines Leipzig-Aufenthalts zu geben. Gefügig berichtet der Gefangene von der Buchmesse und der Oper und erwähnt schließlich auch, Annelies Loest besucht zu haben und Gerhard Zwerenz zu kennen. Jörg kann sehen, dass die Beamten hellhörig werden.
»Da leuchtete das in ihren Augen. War ja ihr größter Feind. Den hätten sie gerne auch auf dem Stuhl sitzen gehabt.«
Jörg fühlt sich durch die ungewohnte Situation und die Art der Fragestellungen mehr und mehr unter Druck gesetzt und beginnt, weitere Details preiszugeben. So erzählt er auch von der fingierten Rücksendung der Bücher an Annelies Loest. Sein Vernehmer wird daraufhin merklich wütend, vermutlich, weil das MfS von dieser Sache noch nichts wusste.
Nach etwa einer Stunde bringt man Jörg in eine Zelle, wo er sich nackt ausziehen und alle persönlichen Dinge abgeben muss. Als Untersuchungsgefangener erhält er grau-grün gestreifte Gefängniskleidung, verschlissene Unterwäsche und ein Paar mehrfach gestopfte Socken.
Dann geht das Verhör weiter, doch mit deutlich verschärftem Ton und vermeintlichen Beweisstücken. Jörg ist überrascht, als der Vernehmer die Ausgaben der »nobis« aus der Schreibtischschublade zieht, von Hetzartikeln spricht und die Namen angeblicher Hintermänner aus ihm herauspressen will.
Wieder erfolgt eine Unterbrechung, bei der Jörg ins Zellenhaus geführt wird und kurz Gelegenheit bekommt, seine Zellengenossen kennenzulernen. Ein Mithäftling ist ein 64-jähriger Müller, der in einem VEB Getreide unterschlug und dafür bereits zu einer dreijährigen Haftstrafe wegen Wirtschaftssabotage verurteilt wurde. Der andere ist ein Barkeeper des Leipziger Flughafenrestaurants, der der Hetze bezichtigt wird.
Sie sitzen zu dritt in dem neun Quadratmeter kleinen Raum, der mit Glasbausteinen statt Fenstern ausgestattet ist. Das Interieur beschränkt sich auf drei Holzpritschen, eine Wasserkanne und eine Toilette, die nur von außen abzuziehen ist.
Schon nach wenigen Augenblicken wird Jörg wieder hinaufgeführt zu seinem namenlosen Vernehmer, der sich stets mit »3/5« am Telefon meldet und nun ein Vernehmungsprotokoll ausfertigt. Der Bericht wird in Dialogform abgefasst. Jede Frage ist so formuliert, dass sie eine Beschuldigung enthält. Zwar kann Jörg mit seiner Antwort dagegen protestierten, doch damit erreicht er nur, dass die nächste Frage ihm noch weniger Spielraum lässt, sich zu verteidigen.
»Aber zu einem Prozess würde es nie kommen, dachte ich, das lag alles in nebelhafter Ferne.«
Am nächsten Tag, einem Sonntag, wird Jörg dem Haftrichter vorgeführt und mit dem Vorwurf konfrontiert, er habe »im Auftrag des Verräters Zwerenz die Frau des Konterrevolutionärs Loest« aufsuchen wollen. Jörg legt umgehend Haftbeschwerde ein, die jedoch abgewiesen wird. Am Montag erfolgen die fotografischen Aufnahmen und das Abnehmen seiner Fingerabdrücke für die Haftakte.
Erst fünf Tage später informiert der Bezirksstaatsanwalt Albert Holzmüller mit einem zweizeiligen Schreiben Jörgs Eltern von seiner Inhaftierung. Das Ehepaar Bilke kümmert sich sofort darum, für ihren Sohn einen Strafverteidiger zu engagieren. Jörg bekommt am 6. Oktober 1961 eine kurze Mitteilung des Leipziger Rechtsanwalts Günter Kröber in seine Zelle gereicht, der für seine verfassungsgetreuen Strafverteidigungen bekannt und bei den DDR-Gerichten eher unbeliebt ist.
Die Vernehmungen durch »3/5« dauern bis zum 20. November 1961 an und finden nahezu jeden Tag statt. Jörg empfindet die Untersuchungshaft als Versuch, die Inhaftierten mit allen Mitteln zu zermürben, entwürdigen und einer ideologischen Gehirnwäsche zu unterziehen. Er vergleicht die Vernehmungstaktik des MfS mit den Praktiken der Inquisition, die im Ergebnis moralisch gebrochene, selbstkritische und mit Schuldgefühlen belastete Angeklagte hervorbrächten. Das MfS erwartet von ihm nicht nur ein Geständnis, sondern auch die »Einsicht in die Schuld vor der Gesellschaft«.
Jörg versucht, sich der Beeinflussung zu widersetzen. Im Gegenteil stellt er sich der Herausforderung der Verhöre und sucht Gelegenheiten, mit »3/5« zu diskutieren. Die Vorwürfe sind teilweise so absurd und konstruiert, dass er an sich halten muss, um nicht zu lachen.
»Wir kabbelten uns. Er wollte sich auch auseinandersetzen. Er wollte zeigen, dass seine Ideologie unwiderstehlich sei.«
Hilfreich für Jörgs Selbstwertgefühl ist, als er bemerkt, dass ihm sein Vernehmer intellektuell unterlegen ist. »3/5« blättert nämlich beim Verfassen der Vernehmungsprotokolle, versteckt hinter dem Schreibtisch, in einem Buch. Bald zeigt sich, dass es sich um ein Fremdwörterlexikon handelt.
Als »3/5« eines Tages Jörg um Hilfe bittet, weil er nicht weiß, wo er nachschlagen soll, macht sich der Gefangene über den Vernehmer lustig. »3/5« reagiert ernst: »Jetzt lachen Sie noch. In zehn Jahren werden Sie nicht mehr lachen.« Jörg bekommt es mit der Angst zu tun und denkt, ihn erwarteten also zehn Jahre Gefängnis. Doch das Missverständnis klärt sich schnell auf. »3/5« meint mit seiner Aussage, in zehn Jahren hätten alle Stasi-Offiziere Abitur und könnten die Rechtschreibung.
Üblicherweise erfolgt die Untersuchungshaft beim MfS als Isolationshaft, um die Gefangenen in ihrer Ungewissheit noch zusätzlich mit der Einsamkeit zu belasten. Jörg jedoch teilt seine Zelle über die gesamte Haftzeit mit anderen. Von Beginn an macht er es sich dabei zur Aufgabe, sich die Anschuldigungen gegen seine Mithäftlinge und die darauf erfolgten Urteile zu merken.
Die Haftbedingungen in der MfS-Untersuchungshaftanstalt Beethovenstraße sind streng. Tagsüber darf sich keiner der Häftlinge anlehnen, geschweige denn einschlafen. Die Bettruhe wird um 20 Uhr durch eine Klingel angekündigt – ist aber keine Ruhe, da nachts in regelmäßigen Abständen das Licht angeschaltet wird, um die Insassen durch den Spion zu beobachten. Um fünf Uhr morgens weckt man die Gefangenen durch dieselbe Glocke. Man reicht ihnen Handtücher, Seife und Zahnbürsten in die Zelle, anschließend gibt es Ersatzkaffee und Brot. Die Verpflegung ist einseitig, vitamin- und fettarm.
Gegen sieben Uhr erfolgt der sogenannte Hofgang in den Tigerkäfigen, den kleinen, oben vergitterten Betonabteilen, auf deren übermannshohen Mauern Wachposten patrouillieren. Die Wachhabenden demonstrieren den Untersuchungshäftlingen ihre Macht, indem sie Zellendurchsuchungen während des Mittagessens vornehmen. Dann müssen sich die Zelleninsassen entkleiden, ihre Decken werden umhergeworfen und sämtliche Blätter oder Steinchen, die sie heimlich eingesteckt haben, weggenommen. Am Ende liegt eine dicke Staubschicht auf dem Essen.
Am 8. November 1961 darf Jörg den ersten Brief über 20 Zeilen nach Hause schreiben. Damit ahnt er, dass die Vernehmungen ihr Ende finden. Seiner Weigerung, am 20. November 1961 ein Schlussprotokoll zu unterzeichnen, begegnet »3/5« mit der Lüge, die endgültige Beweisaufnahme erfolge erst vor Gericht und dort könne Jörg falsche Darstellungen widerrufen.
Am 6. Dezember 1961 wird Jörg dem Staatsanwalt Holzmüller vorgeführt, der eine Schimpftirade loslässt und ihm vorwirft, er sei im Auftrag des »Instituts für Sowjetologie« nach Leipzig gefahren, um Material zu sammeln.
»Der Staatsanwalt entließ mich mit dem scheußlichen Gefühl: das wird unter acht Jahren nicht abgehen.«
Am Freitag vor Weihnachten soll Jörg seinen Strafverteidiger treffen. Er ist überrascht, als nicht Günter Kröber, sondern Rechtsanwalt Heinz Kroke vor ihm steht, der sich mit SED-Parteiabzeichen, aber sonst völlig unwissend über Jörgs Straftat zeigt. Auf die Nachfrage, wo denn Anwalt Kröber sei, antwortet Kroke nur lapidar, der könne nicht kommen, der säße ebenfalls hier.
Jörg verlässt der Mut. Er wirft sich vor, selbst schuld an seiner Lage zu sein, doch versucht gleichzeitig, sich mit seinem Schicksal abzufinden und schreibt an seine Eltern: »Was ich verliere, ist auf längere Sicht die Freiheit, was ich gewinne, ist unmittelbare Erkenntnis.« Die antworten mit einem Weihnachtspaket – das ihm nicht ausgehändigt, aber auch nie zurückgeschickt wird. Am Abend des 11. Januar 1962 erhält Jörg seine Anklageschrift, die bemerkenswerte elf Seiten umfasst.
»Ich staunte, was für ein gefährlicher Verbrecher ich war. Also innerlich lachte ich. Ich hatte überhaupt kein Unrechtsbewusstsein.«
Der Prozess vor dem Bezirksgericht Leipzig findet schließlich am 21. Januar 1962 statt. Frisch rasiert, in seiner Zivilkleidung und mit Handschellen fixiert führt man Jörg in den Gerichtssaal, der sich im Nebeneingang des Gefängnis- und Justizkomplexes befindet.
Er erwartet einen Schauprozess mit großem Publikum, doch der Saal ist leer. Allein der Richter, Rechtsanwalt Kroke und Staatsanwalt Holzmüller sowie zwei Schöffen sind anwesend, als der Angeklagte aufgefordert wird, sich in die Mitte zu stellen und seinen Lebenslauf darzustellen. Anschließend hält Staatsanwalt Holzmüller eine donnernde Rede über den westdeutschen Klassenfeind und wirft Jörg vor, das »Werkzeug der Bonner Ultras« zu sein. Dann folgen der Strafantrag und schließlich der Einwand von Jörgs Strafverteidiger.
»Mein Rechtsanwalt war eine richtige Niete. Der sagte nur, er möchte bitte die Jugend des Angeklagten berücksichtigt wissen. Da war ich fast 25.«
Der Urteilsverkündung am nächsten Tag darf Jörgs Leipziger Tante Inge beiwohnen. Die Verurteilung wird mit drei Delikten begründet: Nach Paragraf 19 »Staatsgefährdende Propaganda und Hetze« des Strafrechtsergänzungsgesetzes erhält Jörg zweieinhalb Jahre Haftstrafe für die sieben »nobis«-Artikel. Sein Besuch bei Annelies Loest – die er nicht einmal antraf – legt das Gericht nach Paragraf 21 als »Verleitung zum Verlassen der Deutschen Demokratischen Republik« aus und Jörgs Notiz in der Leipziger Universität fällt unter Paragraf 15 »Sammlung von Nachrichten«. Insgesamt werden durch das Leipziger Bezirksgericht dreieinhalb Jahre Strafvollzug verhängt.
»Man hatte gehofft, in mir einen großen Fisch gefangen zu haben, aber es war nur ein kleiner. Da aber die Staatsanwaltschaft unfehlbar war, konnte sie mich nicht wieder laufen lassen.«
Jörgs Herz macht einen Sprung vor Freude. Die Erleichterung über das Urteil, das deutlich milder als erwartet ausfällt, ist riesig. Trotzdem legt er Berufung ein. Sie wird im März 1962 als unbegründet verworfen.
Nach insgesamt 206 Tagen Untersuchungshaft in der UHA Beethovenstraße wird Jörg am 2. April 1962 in die Strafvollzugseinrichtung in der Alfred-Kästner-Straße Leipzig verlegt. Wie er beim Aufrufen der Namen erfährt, ist einer der drei Häftlinge seines Transports der Rechtsanwalt Günter Kröber. Sie kommen in eine Gemeinschaftszelle und Jörg gelingt es, von Günter Kröber eine kurze Zusammenfassung seines Schicksals zu erfahren. Doch als die Wachhabenden die Unterhaltung der zwei Männer mitbekommen, wird Kröber in eine andere Zelle verlegt.
»Er winkte mir noch einmal beim Hofgang zu, dann sah ich ihn nicht wieder.«
Das Gefängnis in der Alfred-Kästner-Straße ist nur eine Übergangsstation, bis die Häftlinge in andere Strafvollzugseinrichtungen überführt werden. Nach zehn Tagen erfolgt am 12. April 1962 Jörgs Verlegung in die Strafvollzugsanstalt Torgau, wo er das nächste Vierteljahr verbringen wird.
Die Strafvollzugsanstalt Torgau befindet sich im Fort Zinna, eine Festung, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts ein Militärgefängnis der preußischen Armee ist und 1938/39 zum größten und modernsten Wehrmachtgefängnis ausgebaut wird. Im August 1945 richtet das NKWD hier das sowjetische Speziallager Nr. 8 ein, das mit etwa 7.500 Internierten und mehreren hundert Kriegsgefangenen gnadenlos überfüllt ist. Es wird von Mai 1946 bis Oktober 1948 als Speziallager Nr. 10 weiterbetrieben. Jetzt sind die Inhaftierten vor allem SMT-verurteilte sowjetische Staatsangehörige, die in das Straflagersystem der UdSSR deportiert werden.
Im Januar 1950 übernimmt die Deutsche Volkspolizei das Fort Zinna als DDR-Strafvollzugsanstalt. Die ersten Insassen sind SMT-verurteilte Gefangene der aufgelösten letzten drei sowjetischen Speziallager, die an das Innenministerium übergeben wurden. In den 1950er- und 1960er-Jahren sitzen mehrheitlich politische Gefangene und Zeugen Jehovas in Torgau ein, während später der Anteil krimineller Straftäter überwiegt.
»Als wir durch das Tor des Zuchthauses auf den Innenhof schritten, musste ich lebhaft an Erich Loest denken. Nun hatten sich also auch hinter mir die Zuchthaustore geschlossen.«
Nach einer gründlichen Leibesvisitation bezieht Jörg mit drei weiteren Häftlingen die Zelle 342 auf Station 11 des C-Flügels. Die neun Quadratmeter enthalten zwei Pritschen und ein zusätzliches Klappbett. Jörg muss auf einem Strohsack auf dem Boden schlafen, halb unter dem Klapptisch, den Kopf am Spülklosett. Sie erhalten braune Häftlingskleidung mit gelben Streifen, die sie einmal in der Woche nach dem Duschen wechseln dürfen. Jeden Morgen gibt es eine 30-minütige »Freistunde«, bei der die Gefangenen in Formation über den Innenhof marschieren, manchmal finden sportliche Übungen statt.
Die Neuzugänge sind »Nichtarbeiter« und bekommen wochenlang nur die halbe Verpflegungsration, nichts zu lesen und nichts zu rauchen, denn die Torgauer Strafvollzugseinrichtung ist zu dieser Zeit vollkommen überbelegt.
Zellenverlegungen finden mit Regelmäßigkeit statt. Zuerst muss Jörg in Zelle 2 auf Station 15 umziehen, in der mehr als 20 Häftlinge liegen. Nach kurzer Zeit verlegt man ihn auf Zelle 320 im B-Flügel und im Mai geht es abermals in Zelle 342. Hier sitzen nun vier Westdeutsche gemeinsam und tauschen sich abends nach dem Zählappell viel miteinander aus. Wie gewohnt rechnet Jörg die Haftjahre der Insassen zusammen. Zu den gezählten 29 ½ Jahren trägt er nur wenig bei, seine Zellengenossen haben deutlich höhere Haftstrafen für ihre Delikte erhalten.
Am 20. Mai 1962 misslingt zwei Torgauer Häftlingen ein Ausbruchsversuch. Aufgeschreckt durch Lärm schauen Jörg und seine Mithäftlinge aus dem Zellenfenster. Er und etliche Insassen werden Zeugen davon, wie die Gefassten vom wütenden Wachpersonal brutal über den Gefängnishof getrieben werden. Die Hände in Handschellen gefesselt und die Füße nur in Holzschuhen, stürzten die zwei Männer immer wieder. An ihren kahlrasierten Schädeln läuft Blut herunter.
»Man merkte richtig, die Wachposten mussten ihre Wut rauslassen, weil es denen gelungen war, auszubrechen. Einer aus unserer Zelle rief ›ihr Schweine‹ nach unten und da brüllten sie hoch ›Weg vom Fenster!‹.«
Ende Juni wird Jörg eine Arbeitsstelle zugewiesen, die ihn für seine letzten zehn Hafttage im Torgauer Gefängnis beschäftigt. Obwohl er eine Fünf in Mathe hatte, setzt man ihn als Hilfsmathematiker für den VEB Zeiss Jena ein. Jörg gefällt die Tätigkeit in dem Konstruktionsbüro.
Doch Anfang Juli 1962 wird er in das Haftarbeitslager Altenburg verlegt – angeblich ein Barackenlager, wo die Häftlinge abends Gelegenheit hätten, draußen zu sitzen. Stattdessen erwartet sie ein fester Gefängnisbau mit Gittern, in dem man wieder vier Mann in eine Einzelzelle pfercht. Bei der persönlichen Arbeitseinweisung wird Jörg angekündigt, es werde schon beim geringsten Fluchtversuch geschossen. Man setzt die Männer zu schwerer körperlicher Arbeit im Braunkohlentagebau Rositz ein.
»Man musste zwei Kilometer durch die Braunkohle laufen. Da war man schon müde, wenn man ankam. Dann mussten wir Sand und Steine unter die Förderbrücke schaufeln.«
Beaufsichtigt werden die Gefangenen von einem Volkspolizisten, dem sie den Spitznamen »Lederhaut« verpassen. Er steckt mit gelben Fähnchen ein Geviert ab und stellt unter ständigem Brüllen mit schussbereiter Maschinenpistole und einem Wachhund sicher, dass keiner der Häftlinge aus dem Areal heraustritt. Der einzige Lichtblick ist das Mittagessen, das sie aus der Werkskantine bekommen und das bedeutend besser als die Verpflegung in Torgau ist.
Nach den vergangenen zehn Monaten des Stillsitzens macht sich schnell bemerkbar, dass Jörg der Aufgabe physisch nicht gewachsen ist. Aber er hat Angst vor den Konsequenzen einer Arbeitsverweigerung. Also meldet er sich in der Krankenzelle und stellt sich bei der Untersuchung bewusst so krumm hin, dass ihn der wohlwollende Zivilarzt krankschreibt.
Ende Juli 1962 wird Jörg wieder in die Leipziger Alfred-Kästner-Straße gebracht. Zurück in der alten Sammelzelle berichtet er den Neuankömmlingen von den Haftumständen in Torgau, was streng verboten ist und Arrest einbringen kann. Dann wird er in einen langen Raum unter dem Dach verlegt. Seine etwa 50 Zellengenossen sind dieses Mal vorwiegend Kriminelle, die sich des Diebstahls, Einbruchs oder der Vergewaltigung schuldig gemacht haben.
Nach wenigen Tagen wird Jörg zur Arbeit im VEB Bodenbearbeitungsgeräte (BBG) Leipzig-Süd eingesetzt, wo er Christbaumständer fertigen muss. Die Busfahrt hin zur Arbeitsstelle und zurück ist für die Häftlinge der Höhepunkt des Tages, weil sie etwas vom zivilen Leben erhaschen – auch wenn es schmerzt, die Freiheit zu beobachten, die ihnen nicht zugestanden wird.
Nach vier Wochen erfolgt am 2. September 1962 Jörgs Überführung in die letzte Station seines Strafvollzugs, die etwa 40 Kilometer von Karl-Marx-Stadt entfernt liegt. Die Strafvollzugsanstalt Waldheim geht auf eine Burg aus dem 13. Jahrhundert zurück, die eine wechselhafte Nutzung als Augustinerkloster, kurfürstliches Jagdschloss und seit dem frühen 18. Jahrhundert als Zucht-, Armen- und Waisenhaus aufweist. Schon seit der Märzrevolution von 1848 und vor allem während der nationalsozialistischen Diktatur sind hier Menschen aus politischen Gründen inhaftiert.
Nach 1950 erhält das größte sächsische Gefängnis zweifelhafte Berühmtheit. In Schnellverfahren werden hier 3.324 Personen wegen Nazi-Kriegsverbrechen verurteilt und 24 Hinrichtungen in diesem Zusammenhang vollzogen. Obwohl viele der Angeklagten nachweislich schwer belastet waren, werden die Waldheimer Prozesse aufgrund ihrer zweifelhaften Rechtsgrundlage zu einem Inbegriff mangelnder Rechtsstaatlichkeit.
Die Haftanstalt ist nun in der Verwaltung des Ministeriums des Innern und unter der Oberhoheit der Deutschen Volkspolizei, die einen scharfen, militärischen Ton vorgibt. Noch gilt hier der mit dem Zuchthaus verbundene Gedanke der Bestrafung.
Der Anstaltskomplex ist von einer vier Meter hohen, mit Glasscherben versehenen Mauer umgeben. Ein zwei Meter breiter Sicherungsring verläuft entlang der Innenwand, wo Schäferhunde und Wachposten patrouillieren. Durchgehend mit Bewaffneten besetzte Wachtürme und eine mit Lichtstrom beschickte Sicherungsleitung auf der Mauerkrone komplettieren die Maßnahmen gegen Ausbruchsversuche.
Bei ihrer Ankunft übernachten die Waldheimer Neuankömmlinge im »Kuhstall«, dann kommen sie in das größte Zellenhaus, die »Bremen«, die mit ihren kleinen Fenstern den optischen Eindruck eines Ozeandampfers erzeugt. Die kleinen Zellen müssen sie zu viert beziehen. Es stehen darin zwei Doppelpritschen, vier Hocker und ein Tisch bereit.
Das Waldheimer Gefängnis kennt kein fließendes Wasser in den Zellen. Ein Kübel für die Notdurft, der täglich nur einmal geleert wird, sowie ein Eimer und eine Schüssel zur Körperhygiene und zum Trinken müssen reichen. Im Sommer wird das Wasser manchmal so knapp, dass die Häftlinge auf das Waschen verzichten.
»Als ich auf die unhaltbaren hygienischen Verhältnisse hinwies, sagte man mir, dass es sich nicht lohne, in den Zuchthäusern noch etwas zu ändern, denn bis 1970 wären alle umerzogen.«
Der Hafttag beginnt um vier Uhr morgens mit der Leerung der Kübel und dem Ausfegen der Zelle, dann treten die Gefangenen im Hof in Dreierreihen den Weg zu ihrem Arbeitsplatz an. Während Jörgs Inhaftierung beherbergt die Strafvollzugsanstalt etwa 1.300 Häftlinge – ein enormes Arbeitskräftereservoir. Jörg arbeitet den Großteil seiner Haftzeit in Waldheim für den VEB Elektromotorenwerk Hartha, kurz Elmo. Sein stetiges Interesse gilt den Delikten der Mithäftlinge und so geht Jörg oft von Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz, um sich deren Schicksale und das, was sie über andere Insassen wissen, berichten zu lassen.
Auch im Waldheimer Gefängnis erfährt Jörg von einem gescheiterten Ausbruchsversuch, da ihm der Häftling die spektakuläre Geschichte detailliert berichtet: Der gelernte Autoschlosser prägt sich den Bart des Schlüssels ein, auf den er beim Aufschließen des Zellenhauses regelmäßig einen Blick werfen kann, und fertigt ihn nach. Als Schließer verkleidet gelingt es ihm, nachts aus dem Schlafraum zu fliehen und vom drei Meter hohen Küchendach in die Freiheit zu springen. Der Mann versteckt sich tagelang im Wald, versorgt sich durch Einbrüche und schafft es mit einem gestohlenen Auto bis in den Harz, wo er kurz vor seinem Versuch, die Grenze zu überqueren, gefasst wird und nun zwei Jahre länger einsitzen muss.
Geschichten wie diese schreibt Jörg nach seiner Haftentlassung auf. In jeder freien Minute rekapituliert er die gesammelten Informationen, merkt sich über 30 Adressen.
»Ich machte praktisch das, was ich später als Beruf machte: Ich führte mich als Journalist auf.«
Aufgrund des Materialmangels sitzen die Häftlinge zu Anfang des Monats manchmal tagelang ohne Beschäftigung da, während sie am Monatsende in zwei Schichten arbeiten, um die Planrückstände aufzuholen. Der Brigadier hat umfangreiche Vergünstigungen und ist dafür zuständig, die 250 Mann starke Arbeitsbrigade zu überwachen und jede staatsfeindliche Äußerung zu melden. Unterstützt wird er dabei von sogenannten Hausgängern, die als Kalfaktoren eingesetzt sind.
Die Bedingungen im Arbeitshaus entbehren jeglichen Arbeitsschutzbestimmungen. Besonders im Winter leiden die Häftlinge unter der Kälte – sowohl in den Zellen als auch bei der Arbeit. Am Arbeitsplatz herrschen in Bodennähe drei Grad, in Sitzhöhe acht Grad Celsius. Die Männer bringen ihre Decken aus den Zellen mit und frieren trotzdem.
»Wir keuchten vor Kälte, Hunger und Müdigkeit. Schliefen denn die in Westdeutschland?«
Vom Oktober 1962 bis Januar 1964 wird Jörg im Prüffeld eingesetzt, wo er die Funktionalität der hergestellten Motoren überprüfen muss. Eine leichte und monotone Aufgabe, bei der er nebenher Gedichte auswendig lernt.
Das Mittagessen besteht aus der wöchentlich gleichen Abfolge von Eintöpfen mit oft halb verfaulten Zutaten. Nach Arbeitsschluss wird eine halbe Stunde im Gleichschritt über den Gefängnishof marschiert, dann gibt es Kaltverpflegung auf der Zelle: Brot und minderwertige Wurst und Marmelade.
Die Banner mit sozialistischen Parolen, die in verschiedenen Räumlichkeiten der Strafvollzugsanstalt hängen, wirken auf Jörg wie purer Zynismus. Im vierzehntägigen Wechsel finden entweder Filmvorführungen oder politische Schulungen durch Vertreter der Nationalen Front statt, Jörg nennt sie die »Rotlichtbestrahlung«. Ab Mai 1964 ist es den Insassen gestattet, nach den Vorträgen Fragen zu stellen.
Dreimal wird Jörg zur »Seelenfilzung« geladen, bei der die Häftlinge einzeln Offizieren der Volkspolizei vorgeführt und auf ihre politische Gesinnung geprüft werden. Zwei Stunden lang wird Jörg befragt. Auf die Frage nach seinem Befinden antwortet er mit einer Gegenfrage:
»›Sie haben doch Marx gelesen, Sie wissen doch, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt. Was glauben Sie denn, wie der sich fühlt, der bei Ihnen im Knast sitzt?‹ Da lachten sie erst mal.«
Vorsichtig, aber dennoch auf die ihm eigene, kritische Art, pflegt Jörg den Umgang mit den zuständigen Wachhabenden in Waldheim. Als Anwalt Kroke anderthalb Jahre nach dem Gerichtsprozess die Begleichung von Kosten für Büromaterial fordert, bestellt Polizeimeister »Bärtchen« Jörg in sein Büro, um die Formalitäten zu klären und verwickelt den Häftling in ein Gespräch. »Bärtchen« behauptet zu wissen, wer Jörgs Studium bezahlt hätte: der CIA, also der Auslandsgeheimdienst der Vereinigten Staaten. Jörg ist amüsiert. Er fragt, ob er diese Neuigkeit seinem Vater mitteilen dürfe, denn der würde sich darüber sicherlich freuen.
Jörgs Mutter darf ihren Sohn nur zwei Mal für je eine halbe Stunde unter der Aufsicht eines Wachhabenden besuchen. Als sie Jörg auf die Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung anspricht und der pessimistisch bleibt, mischt sich der Wachmann ins Gespräch ein und behauptet, bei guter Führung bestünden passable Chancen. Jörg reagiert sarkastisch, weil er erlebt, dass diese Regelung höchstens für kriminelle Häftlinge besteht – die gegenüber politisch Inhaftierten grundsätzlich bevorzugt werden, ob bei der Besetzung von Schlüsselpositionen oder bei Amnestien.
Trotz aller Bewältigungsstrategien gehen die emotionale Belastung des Freiheitsentzugs und die ständig gewalttätige Atmosphäre nicht spurlos an Jörg vorbei. Nach mehreren stressintensiven Erlebnissen erleidet er einen nächtlichen Krampfanfall. Bewusst bekommt er nichts davon mit, aber seine Zellengenossen handeln schnell und alarmieren die Wachhabenden, so dass Jörg medizinisch behandelt wird.
Was den Krampfanfall verursachte, wird nicht herausgefunden. Zweimal noch widerfährt ihm ein solcher innerhalb der Gefängnismauern, und jedes Mal nachts.
»Wahrscheinlich war das so eine Art Angst vor dem Leben, dass ich es nicht mehr bewältige. Es wurde nie herausgefunden, aber es ist jetzt so lange her, da passiert nichts mehr.«
Im Sommer 1964 brodelt die Gerüchteküche und es zeichnet sich ab, das Häftlingsentlassungen bevorstehen. Jörg kommt gerade von einer Behandlung in der orthopädischen Klinik auf der Hubertusburg und anschließend wenigen Tagen Aufenthalt im Haftkrankenhaus Leipzig-Meusdorf wieder, als er am 14. August 1964 in die Effektenkammer bestellt wird, um seine Habseligkeiten zu nehmen. Unter dem Vorwand, noch persönliche Dinge aus dem Arbeitshaus holen zu wollen, sammelt er dort Aufträge und Adressen von anderen Westdeutschen und verabschiedet sich von seinen Kameraden.
Gemeinsam mit zwei weiteren Häftlingen wird Jörg in eine extra Zelle verlegt. Von seiner dreieinhalbjährigen Haftstrafe verbleiben noch 200 Tage. Ein Zellengenosse hat bereits zehn Jahre abgesessen und ist kaum imstande, die bevorstehende Freilassung zu realisieren.
Am 21. August 1964 werden die drei Männer in einem Dunkelzellen-Gefangenentransport mit der Aufschrift »Frische Fische« nach Berlin-Hohenschönhausen zu einer der zwei zentralen Untersuchungshaftanstalten der Staatssicherheit gebracht. Dort erhalten sie ihre Zivilkleidung wieder. Bei seinen Habseligkeiten findet Jörg außerdem Briefe von 1961, die ihm nie zuvor ausgehändigt wurden. Die Wachhabenden behandeln sie ungewohnt freundlich.
»Wenn einer allein Anstalten machte, sich eine Zigarette anzuzünden, kamen sie mit Feuer. Ich sagte: ›Mensch, bestell doch mal Himbeereis. Mal sehen, ob die das auch bringen.‹«
Nach drei Tagen kommen die Häftlinge für eine letzte Nacht in Gefangenschaft in die »Magdalena«, die MfS-Untersuchungshaftanstalt in der Magdalenenstraße in Berlin-Lichtenberg, die für viele Häftlinge eine Durchgangsstation kurz vor der Haftentlassung ist. Dort wird Jörg der Straferlass wegen guter Führung mit einer zweijährigen Bewährungszeit bekanntgegeben.
Im Morgengrauen des 25. August 1964 besteigt er gemeinsam mit etwa 30 Frauen und Männern zwei Busse, die sie in die Freiheit bringen sollen. Die Fahrt zurück in Jörgs westdeutsche Heimat dauert wegen etlicher Zwischenhalte eine gefühlte Ewigkeit. Noch wird die Gruppe von einem MfS-Beamten begleitet, der einen Waschkorb mit belegten Broten dabeihat, die aber keiner der Freigekauften annimmt.
Auf einem Autobahnparkplatz bei Jena steigt der Stasi-Beamte aus, dafür betreten den Bus die Rechtsanwälte Jürgen Stange und Wolfgang Vogel, die ihnen mitteilen, dass sie von der Regierung der Bundesrepublik freigekauft wurden. Jörg gehört damit zu den ersten Zeitzeugen des Häftlingsfreikaufs, der von 1963 bis 1989 über 33.700 Menschen aus den DDR-Gefängnissen holt und rund 215.000 Familienzusammenführungen ermöglicht.
Die DDR-Führung profitiert anfangs mit Bargeld und später mit Warenlieferungen. Die Bundesrepublik, nach deren Rechtsauffassung die DDR-Bürger deutsche Staatsangehörige sind und deshalb moralisch und rechtlich ihren Schutz verdienen, bezahlt einen Pauschalpreis, der 1964 pro Person 40.000 D-Mark und seit 1979 circa 96.000 D-Mark beträgt.
»Die DDR kassierte 3,4 Milliarden Westmark. Und trotzdem ging sie unter.«
Wolfgang Vogel, der als Unterhändler der DDR gegenüber der Bundesrepublik fungiert, bittet die Businsassen, sich ruhig und diszipliniert zu verhalten und auf Rastplätzen stets zu behaupten, eine westdeutsche Reisegesellschaft zu sein. Er mahnt, auch in der Heimat Stillschweigen über das inoffizielle Geschäft zu bewahren, um zukünftige Freikäufe nicht zu gefährden. Dann steigen die Berliner Anwälte wieder aus und der Bus fährt weiter, bis sie am späten Abend den Grenzübergang Wartha/Herleshausen erreichen und in westdeutsche Busse umsteigen.
»Die hatten Hanauer Nummern – HU. Manche DDR-Forscher bestreiten das nämlich und sagen: ›Ihr wart doch in Gießen.‹ Wir waren der einzige Transport, der zum Schloss Büdesheim ging.«
Es steigt der ebenfalls den Häftlingsfreikauf vermittelnde Rechtsanwalt Alfred Musiolik hinzu. Da sie das Schloss Büdesheim in Hessen erst gegen drei Uhr morgens erreichen, sieht Jörg davon ab, seine Eltern telefonisch über die bevorstehende Ankunft zu informieren. Die Gruppe übernachtet in der Unterkunft. Eindrücklich prägt sich Jörg das erste Frühstück in Freiheit ins Gedächtnis ein, bei dem sein Herz nicht nur wegen des jahrelang entbehrten Kaffees höherschlägt – sondern auch, weil er beim Aufwachen Fenster ohne Gitter erblickt.
»Dann erschienen drei Leute von der Bundes-, der Landesregierung und der Lagerleitung und lobten uns: ›Ihr habt gekämpft für Demokratie!‹ Und wir wollten das alles nicht hören, nur nach Hause.«
Die ehemaligen Häftlinge werden einzeln befragt, dann erhalten sie 600 D-Mark als Begrüßungsgeld sowie für Rückfahrt und Kleidung. Jörg ruft sich ein Taxi, das ihn zu seinem nur 30 Kilometer entfernt liegenden Elternhaus bringt. Niemand ist zu Hause, als er ankommt. Nur der Familienhund kommt schwanzwedelnd zum Tor gelaufen und leckt Jörgs Hand.
»Da hätte ich fast geheult. Das hat mir so toll gefallen. Ich kam mir vor wie Odysseus, zehn Jahre vor Troja gekämpft und zehn Jahre in der Ägäis umhergeirrt.«
Als Jörgs Familie ihn schließlich begrüßt, ist die Freude riesig. Seine Schwester fällt ihm um den Hals, der Mutter werden die Knie weich. Nachdem sie sich gefasst hat, ordnet sie für Jörg sofort ein Bad an, um den Zuchthaus-Gestank abzuwaschen.
Zehn Tage nach seiner Rückkehr erreicht Jörgs Mutter ein Brief, der ihren nächsten Besuchstermin in Waldheim bestätigt. Offensichtlich hat die Gefängnisverwaltung noch nicht registriert, dass Häftling 797/62 längst entlassen ist. Seine Mutter fährt trotzdem in die DDR und nutzt die Einreiseerlaubnis, um ihre Verwandten im Leipziger Umland zu besuchen und über Jörgs Erfahrungen in Kenntnis zu setzen.
Der mittlerweile 27-Jährige braucht eine ganze Weile, um sich wieder an ein selbstbestimmtes Leben zu gewöhnen. Zwar darf er eine sogenannte Nachkur im Schwarzwald zur körperlichen Erholung nutzen, doch Ängste bestimmen alltägliche Routinen und das soziale Miteinander.
Jörg pausiert das Wintersemester 1964/65 und fährt Freunde und Bekannte besuchen, spricht über das Erlebte. In der »nobis« veröffentlicht er die Artikelreihe »Troglodytische Jahre« – die Geschichte des »Höhlenbewohners B.«, in der er seine politische Inhaftierung literarisch verarbeitet. Dann studiert er drei Semester weiter, doch er funktioniert wie ferngesteuert, wird noch immer jeden Morgen um vier Uhr wach. Ein zweitweiser Ortswechsel bringt die erhoffte Erlösung aus seiner Starre.
In den kommenden Jahren baut Jörg seine berufliche Karriere aus. Er arbeitet für Hörfunk, Zeitungen sowie kulturpolitische Organisationen und promoviert 1977 über das Frühwerk von Anna Seghers. 1989 bringt die Friedliche Revolution erst den Fall der Mauer, dann das Ende der DDR und schließlich erfolgt am 3. Oktober 1990 die Wiedervereinigung Deutschlands. Jörg ist begeistert von der Dynamik der Friedensdemonstrationen.
»Das rechne ich den DDR-Bürgern hoch an. Die haben sich selbst befreit. Die Westdeutschen hätten das nicht. Die wollten das gar nicht. Man lässt das lieber so, wie es ist.«
1992 nimmt Jörg in Leipzig Einsicht in seine Stasi-Akte. Was er darin liest, regt ihn so auf, dass er seinen Koffer bei der Tante stehen lässt und Hals über Kopf nach Hause fährt. Die Unterlagen enthalten den Beweis für die zwei Jahre anhaltende Bespitzelung durch den Leipziger Studenten. Jörg erfährt auch den Klarnamen seines Vernehmers »3/5«. Nachdem er sich beruhigt hat, nimmt er Kontakt mit dem Mann auf, der mittlerweile Rentner ist.
»Ich schrieb ihm einen Brief, ich hätte noch einige Fragen zum frühen Marx, ob wir uns mal treffen könnten. Er rief mich in Bonn an. Da schlug mir das Herz bis zum Hals.«
Jörg lädt seinen ehemaligen Vernehmer auf ein Bier ein. Doch der kurze Austausch bringt ihm keine neuen Informationen ein und von einem Gefühl des Bedauerns seiner Taten ist bei dem ehemaligen MfS-Beamten keine Spur zu erkennen.
Vielversprechender sind da die vielen Verbindungen, die Jörg zu ehemaligen Mithäftlingen knüpft, wie Günter Kröber, den er in der Leipziger Anwaltskanzlei besucht und zu dem er bis heute guten Kontakt hält. Jörg fährt auch noch einmal nach Waldheim, um seine ehemalige Strafvollzugsanstalt anzuschauen, die heute schwerpunktmäßig männliche Ersttäter beherbergt – unter völlig anderen Haftbedingungen als seinerzeit.
Von 1983 bis 2000 arbeitet Jörg als Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz in der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat in Bonn, dann geht er in Rente. 2003 wird ihm das Bundesverdienstkreuz verliehen. Im September 2006 heiratet Jörg und lebt mit seiner Frau Gabriele heute in Coburg.
Der 84-Jährige ist im Koordinierenden Zeitzeugenbüro registriert und berichtet sein Schicksal vor Schulklassen, um deren historisch-politische Bildung zu unterstützen. In zahlreichen Publikationen und Artikeln befasst er sich mit der DDR-Vergangenheit. Bemerkenswert sind die darin beschriebenen Schicksale seiner Mithäftlinge, die er gesammelt und später weiterrecherchiert hat.
Vor allem jene Personen, die nach ihrer Freilassung in der DDR geblieben sind, berichten über Erlebnisse von Stigmatisierung, gesellschaftlicher und beruflicher Benachteiligung und der pauschalen Unterstellung einer Schuld an ihrer Inhaftierung. Auch Jörg musste bittere Erfahrungen machen.
»Ich erlebte oft, dass die Leute dachten: ›Na, wer weiß, das ist doch auch ein Staat mit seinen Gesetzen.‹ Dass man wegen freier Meinungsäußerung in den Knast wandern kann, versteht man gar nicht.«
»Ich betrat eine mir völlig fremde Welt, die der politischen Gefangenen.«
Jörg Bernhard Bilke wird am 10. Februar 1937 in Berlin-Moabit geboren. Schon sechs Wochen nach seiner Geburt zieht seine Familie nach Rodach bei Coburg um. Mit seinen drei jüngeren Schwestern wächst Jörg in dem oberfränkischen Gebiet auf, das nach der Deutschen Teilung direkt an der innerdeutschen Grenze liegt. Das Bewusstsein der Spaltung Deutschlands erfüllt Jörgs Jugend.
Jörg besucht ab 1947 das humanistische Gymnasium Casimirianum in Coburg und ab 1955 die Oberschule in Kirchheim/Teck bei Stuttgart. Während ihm die Mathematik große Schwierigkeiten bereitet, zeigt sich bei dem Schüler eine außergewöhnliche Begabung im sprachlichen Bereich.
Schon während der Schulzeit ist für Jörg der Sozialismus in der DDR ein wichtiges Thema, das er wiederholt studiert. Die Welt, die er beim Besuch von Verwandten in Thüringen kennenlernt, ist eine völlig andere und beschäftigt ihn nachhaltig.
1958 absolviert Jörg das Abitur und beginnt ein Studium der Klassischen Philologie, Germanistik und Geschichte an der Freien Universität Berlin. In Berlin kann Jörg, wie er es ausdrückt, den Marxismus an der Quelle studieren. Er tauscht sich mit Ost-Berliner Studenten aus, die von der Humboldt-Universität nach Dahlem entsendet werden, um über die Zukunft Deutschlands zu debattieren. Auch in seinem Studentenwohnheim führt er darüber Diskussionen.
Mit Regelmäßigkeit fährt Jörg in den Ostsektor der geteilten Stadt, besucht das Theater und kauft sich deutsche Klassiker oder russische Werke, die er dann über die Zonengrenze schmuggelt und teilweise weitergibt. Zweimal erwischt ihn dabei der West-Berliner Zoll, doch ohne schwere Konsequenzen.
Im Oktober 1959 fährt Jörg zum ersten Mal nach Leipzig, in die Stadt, die er nicht nur für ihre alten Dichter, gegenwärtigen Professoren und das Gewandhausorchester verehrt, sondern zu der er auch einen familiären Bezug hat. Jörgs Mutter kommt gebürtig aus Markranstädt und hat Verwandte in Leipzig und der nahen Umgebung. Der 22-Jährige kommt für die zehn Tage seines Besuchs bei seiner Tante Inge unter, die in der Oststraße lebt.
Jörg wohnt Vorträgen an der Leipziger Karl-Marx-Universität bei und meldet sich in der Deutschen Bücherei an, um drei Romane von Erich Loest auszuleihen. Doch aufgrund der politischen Inhaftierung des Autors verweigert man die Herausgabe der Bücher.
Loest ist Vorsitzender des Schriftstellerverbandes Leipzig und SED-Mitglied. Er unterstützt die DDR-Regierung, bis sein Weltbild durch die Ereignisse um den 17. Juni 1953 stark erschüttert wird. Seine nachhaltige Kritik an der SED-Führung und sein lautes Nachdenken über die Konsequenzen einer Entstalinisierung für die DDR führen 1957 zum Ausschluss aus der SED sowie zur anschließenden Verhaftung und Verurteilung zu siebeneinhalb Jahren Haft wegen »konterrevolutionärer Gruppenbildung«.
Verärgert berichtet Jörg seiner Tante von seinem Fehlschlag und ist überrascht, als sie lachend antwortet, das sei gar kein Problem, da Loests Ehefrau nur zwei Häuser weiter wohne. Also sucht der Student nach Einbruch der Dunkelheit Annelies Loest auf, die dem unangemeldeten Westbesuch nach kurzem Zögern tatsächlich die gewünschten Romane aushändigt.
Jörg nimmt die Bücher mit nach West-Berlin. Im Dezember 1959 schickt er sie von einem Ost-Berliner Postamt aus und mit dem fiktiven Absender »Jörg Bilke, Deutsche Staatsbibliothek Unter den Linden« zurück nach Leipzig.
»Ich wollte nicht, dass Frau Loest in Schwierigkeiten gerät, wenn sie die drei Bücher aus West-Berlin bekommen hätte.«
Im Herbst 1960 geht Jörg nach Mainz, wo er das Studium der Germanistik, Komparatistik und Geschichte aufnimmt. Er arbeitet als freier Mitarbeiter für die Studentenzeitung »nobis«. Im Sommer 1961 veröffentlich er – zum Teil unter dem Pseudonym »Marius Flamberg« – sieben Artikel, in denen er sich kritisch mit der Kulturpolitik der DDR auseinandersetzt.
Im Fokus seiner Artikel stehen die DDR-Literatur und ihre Schriftsteller, die Veränderung der deutschen Sprache durch die Einflüsse der jeweiligen Besatzungsmächte und der Aufstand des 17. Juni 1953. Klar und deutlich äußert Jörg, dass »der Zonenstaat eine Diktatur ist« und dass der »Phrasencharakter« des Paragrafen 6, der eigentlich die Meinungsfreiheit offiziell in der Verfassung der DDR verankert, »durch eine Unzahl von Gefängnis- und Zuchthausstrafen erwiesen« sei.
Die Gegenwartsliteratur der DDR fasziniert den Studenten. Er brennt darauf, Autoren wie Christa Wolf, Anna Seghers und Erich Loest persönlich kennenzulernen. Jörg trifft sich zu persönlichen Gesprächen mit Professor Hans Mayer in Frankfurt am Main und dem Schriftsteller Gerhard Zwerenz in Köln. In den Semesterferien des Jahres 1961 möchte Jörg die Leipziger Buchmesse besuchen.
Doch plötzlich erfolgt in Ost-Berlin der Mauerbau. Mit der Sperrung der innerstädtischen Sektorengrenze manifestiert die SED am 13. August 1961 die deutsche Teilung, die bereits seit 16 Jahren Politik und Gesellschaft spaltet. Jörg ist verunsichert, ob er die Herbstmesse unter diesen Umständen besuchen sollte. Gleichzeitig ist der 24-Jährige von der Neugier getrieben und vom Ungewissen gereizt.
»Seit Jahren lebte ich nach einem Unsicherheitsprinzip. Abenteuerlust, Studentenromantik, bis zur Verhaftung ein ästhetisches Unternehmen, kein ethisches.«
Jörg besorgt sich den Messeausweis. Mit seiner Entscheidung für die Einreise in die DDR schlägt er nicht nur seine eigenen Zweifel, sondern auch die seines Vaters in den Wind. Sein Vater warnt ihn nämlich, dass in der DDR seine »nobis«-Artikel bekannt sein könnten. Doch Jörg erwidert, die hätte er ja in Westdeutschland veröffentlicht, das ginge die doch nichts an.
»Aber die Stasi dachte anders. Die sagten sich, wenn einer Artikel mit solchem aggressiven Potenzial schreibt, dann hat er was vor, wenn er in die DDR einreist. Und das wollen wir wissen.«
Mit dem Motorrad tritt Jörg am 6. September 1961 seine Reise nach Leipzig an und fährt über die Autobahn in Richtung Kassel. An einer Tankstelle lässt er den Scheinwerfer öffnen, um darin die 100 Mark Ost zu verstecken, mit denen er beabsichtigt, Bücher zu kaufen. Auf der hessischen Seite des Grenzübergangs Wartha/Herleshausen erfolgt die Ausweiskontrolle so schnell und anstandslos, dass Jörg nicht einmal absteigen muss.
Für die Kontrolle auf der DDR-Seite des Grenzpunkts muss er allerdings das Motorrad abstellen, eine Baracke betreten und dort seinen Ausweis abgeben. Das Personaldokument wird durch einen Schlitz in einen holzverkleideten Nebenraum geschoben.
Die Ausweiskontrolle dauert unverhältnismäßig lang. Reisende, die nach ihm angekommen sind, verlassen das Kontrollhäuschen bereits wieder, während Jörg noch immer wartet. Ein mulmiges Gefühl besteigt ihn und er befürchtet schon, dass seine Einreise abgelehnt werde. Doch endlich kommt ein Grenzpolizist mit dem Ausweis zurück und fragt, ob Jörg nach seiner Geburt noch in Berlin gelebt habe. Jörg verneint. Er ist skeptisch, doch darf weiterfahren.
In Leipzig angekommen sucht er als erstes einen befreundeten Studenten auf. Jörg hat den acht Jahre älteren Amerikanistik-Studenten bei seinem ersten Besuch in Leipzig kennengelernt und sogar schon einmal in seinem West-Berliner Studentenwohnheim als Übernachtungsgast empfangen. Vertrauensselig lässt Jörg seine Tasche und seinen Koffer für etwa eine halbe Stunde in der Wohnung des Studenten, um einen wichtigen Anruf zu tätigen.
»Das war das Dümmste, was ich hätte machen können. Der öffnete meinen Koffer und berichtete dann alles der Stasi. Das steht alles in meinen Akten.«
Von der Bespitzelung ahnt Jörg zu diesem Zeitpunkt nichts und verabredet sich mit seinem vermeintlichen Freund gleich für den nächsten Tag, an dem sie durch die Stadt schlendern und sich angeregt über politische Themen unterhalten. Jörg füllt seinen dreitägigen Aufenthalt in Leipzig mit einem prallen Kulturprogramm. Er besucht die Buchmesse, geht mit seiner Tante in die Oper und trifft sich erneut mit Lehrenden wie Professor Hans Mayer.
Der 9. September 1961 ist Jörgs dritter Tag in Leipzig, an dem er zwei wichtige Dinge erledigen möchte, bevor er am darauffolgenden Morgen wieder zurück in die Bundesrepublik fahren will.
Als erstes sucht er Annelies Loest auf, um ihr Grüße von Gerhard Zwerenz zu bestellen, den er vor wenigen Wochen in Köln traf. Der Schriftsteller ist seit Jahren mit Erich Loest befreundet. Zwerenz wird 1957 wegen kritischer Äußerungen gegen das SED-Regime aus der Partei ausgeschlossen und entzieht sich seiner drohenden Verhaftung durch Flucht in die Bundesrepublik. Auch dort observiert ihn das MfS. Zwerenz thematisiert seine Flucht und Loests Inhaftierung in Zeitungsartikeln. Jörg trifft Frau Loest an diesem Vormittag in der Oststraße nicht an. Die Hauswärterin, die gerade den Flur aufwischt, teilt ihm mit, dass Annelies Loest arbeiten sei.
Jörg fährt also zurück in die Innenstadt, um seine zweite Erledigung zu tätigen: Er läuft etliche Leipziger Buchhandlungen ab, um einen bestimmten Gedichtband zu erwerben, der jedoch noch nicht erschienen ist. Auf dem Weg zurück zu seinem Motorrad stattet Jörg der Karl-Marx-Universität noch einen Besuch ab. Den Studenten interessieren die Vorlesungen, die an der Philosophischen Fakultät angeboten werden.
Beim Studieren des Schwarzen Bretts fällt ihm ein Aushang besonders ins Auge: die Pflichtvorlesung für Hörer aller Fachrichtungen und Studienjahre »Die humanitäre Funktion des antifaschistischen Schutzwalls«.
»Das war interessant. Ich schrieb es mir auf, ohne zu ahnen, dass ich mich eines politischen Delikts schuldig machte, der ›Sammlung von Nachrichten‹.«
Mit dem Verlassen des Universitätsgeländes ist für Jörg sein Leipzig-Aufenthalt nun beendet. Er läuft zu seinem Motorrad, das er auf dem Karl-Marx-Platz abgestellt hat. Gerade steckt er den Zündschlüssel ins Schloss, als ihm auffällt, dass hinter ihm ein graues Auto parkt, aus dem sogleich zwei Männer in Ledermänteln aussteigen. Sie kreisen Jörg von rechts und links ein und teilen ihm mit, er sei festgenommen.
»Willenlos ließ ich mich abführen, ich war wie betäubt. Damit, dass ich verhaftet würde, hatte ich nun nicht mehr gerechnet.«
Sein Motorrad bleibt mit eingestecktem Zündschlüssel und dem hinten festgebundenen Koffer auf dem Karl-Marx-Platz stehen. Jörg muss auf dem Rücksitz des Wagens Platz nehmen. Dann geht es in rasanter Fahrt durch die Leipziger Innenstadt bis in die Beethovenstraße, wo der Sitz der MfS-Bezirksverwaltung ist. Das Auto hält vor einem schmiedeeisernen, grüngestrichenen Tor. Der jüngere seiner Bewacher steigt aus und verschwindet durch eine Seitentür. In Jörgs Kopf rast es. Was meldet der Beamte wohl jetzt? Verbrecher Bilke gefangen?
»Das Tor öffnete sich, der Pkw fuhr hinein: Ich betrat eine mir völlig fremde Welt, die der politischen Gefangenen!«
Barsch fordern die Uniformierten Jörg auf, auszusteigen und sich mit erhobenen Händen und dem Gesicht zur Wand aufzustellen, um ihn nach Waffen abzusuchen. Dann führen sie ihn eine Wendeltreppe hinauf in einen kleinen Raum mit gepolsterter Tür, in dem drei Männer auf ihn warten. Einer trägt Zivilkleidung, der zweite ist ein Oberleutnant in Uniform, der in der kommenden Stunde Macht demonstrierend vor Jörg auf und ab schreitet. Der dritte Beamte ist der »Genosse Leutnant 3/5«, den Jörg im kommenden halben Jahr regelmäßig als seinen Vernehmer vor sich sitzen haben wird.
Die MfS-Beamten verlangen von Jörg, sich auf den am Boden festgenieteten Hocker zu setzen und Auskunft über jedes Detail seines Leipzig-Aufenthalts zu geben. Gefügig berichtet der Gefangene von der Buchmesse und der Oper und erwähnt schließlich auch, Annelies Loest besucht zu haben und Gerhard Zwerenz zu kennen. Jörg kann sehen, dass die Beamten hellhörig werden.
»Da leuchtete das in ihren Augen. War ja ihr größter Feind. Den hätten sie gerne auch auf dem Stuhl sitzen gehabt.«
Jörg fühlt sich durch die ungewohnte Situation und die Art der Fragestellungen mehr und mehr unter Druck gesetzt und beginnt, weitere Details preiszugeben. So erzählt er auch von der fingierten Rücksendung der Bücher an Annelies Loest. Sein Vernehmer wird daraufhin merklich wütend, vermutlich, weil das MfS von dieser Sache noch nichts wusste.
Nach etwa einer Stunde bringt man Jörg in eine Zelle, wo er sich nackt ausziehen und alle persönlichen Dinge abgeben muss. Als Untersuchungsgefangener erhält er grau-grün gestreifte Gefängniskleidung, verschlissene Unterwäsche und ein Paar mehrfach gestopfte Socken.
Dann geht das Verhör weiter, doch mit deutlich verschärftem Ton und vermeintlichen Beweisstücken. Jörg ist überrascht, als der Vernehmer die Ausgaben der »nobis« aus der Schreibtischschublade zieht, von Hetzartikeln spricht und die Namen angeblicher Hintermänner aus ihm herauspressen will.
Wieder erfolgt eine Unterbrechung, bei der Jörg ins Zellenhaus geführt wird und kurz Gelegenheit bekommt, seine Zellengenossen kennenzulernen. Ein Mithäftling ist ein 64-jähriger Müller, der in einem VEB Getreide unterschlug und dafür bereits zu einer dreijährigen Haftstrafe wegen Wirtschaftssabotage verurteilt wurde. Der andere ist ein Barkeeper des Leipziger Flughafenrestaurants, der der Hetze bezichtigt wird.
Sie sitzen zu dritt in dem neun Quadratmeter kleinen Raum, der mit Glasbausteinen statt Fenstern ausgestattet ist. Das Interieur beschränkt sich auf drei Holzpritschen, eine Wasserkanne und eine Toilette, die nur von außen abzuziehen ist.
Schon nach wenigen Augenblicken wird Jörg wieder hinaufgeführt zu seinem namenlosen Vernehmer, der sich stets mit »3/5« am Telefon meldet und nun ein Vernehmungsprotokoll ausfertigt. Der Bericht wird in Dialogform abgefasst. Jede Frage ist so formuliert, dass sie eine Beschuldigung enthält. Zwar kann Jörg mit seiner Antwort dagegen protestierten, doch damit erreicht er nur, dass die nächste Frage ihm noch weniger Spielraum lässt, sich zu verteidigen.
»Aber zu einem Prozess würde es nie kommen, dachte ich, das lag alles in nebelhafter Ferne.«
Am nächsten Tag, einem Sonntag, wird Jörg dem Haftrichter vorgeführt und mit dem Vorwurf konfrontiert, er habe »im Auftrag des Verräters Zwerenz die Frau des Konterrevolutionärs Loest« aufsuchen wollen. Jörg legt umgehend Haftbeschwerde ein, die jedoch abgewiesen wird. Am Montag erfolgen die fotografischen Aufnahmen und das Abnehmen seiner Fingerabdrücke für die Haftakte.
Erst fünf Tage später informiert der Bezirksstaatsanwalt Albert Holzmüller mit einem zweizeiligen Schreiben Jörgs Eltern von seiner Inhaftierung. Das Ehepaar Bilke kümmert sich sofort darum, für ihren Sohn einen Strafverteidiger zu engagieren. Jörg bekommt am 6. Oktober 1961 eine kurze Mitteilung des Leipziger Rechtsanwalts Günter Kröber in seine Zelle gereicht, der für seine verfassungsgetreuen Strafverteidigungen bekannt und bei den DDR-Gerichten eher unbeliebt ist.
Die Vernehmungen durch »3/5« dauern bis zum 20. November 1961 an und finden nahezu jeden Tag statt. Jörg empfindet die Untersuchungshaft als Versuch, die Inhaftierten mit allen Mitteln zu zermürben, entwürdigen und einer ideologischen Gehirnwäsche zu unterziehen. Er vergleicht die Vernehmungstaktik des MfS mit den Praktiken der Inquisition, die im Ergebnis moralisch gebrochene, selbstkritische und mit Schuldgefühlen belastete Angeklagte hervorbrächten. Das MfS erwartet von ihm nicht nur ein Geständnis, sondern auch die »Einsicht in die Schuld vor der Gesellschaft«.
Jörg versucht, sich der Beeinflussung zu widersetzen. Im Gegenteil stellt er sich der Herausforderung der Verhöre und sucht Gelegenheiten, mit »3/5« zu diskutieren. Die Vorwürfe sind teilweise so absurd und konstruiert, dass er an sich halten muss, um nicht zu lachen.
»Wir kabbelten uns. Er wollte sich auch auseinandersetzen. Er wollte zeigen, dass seine Ideologie unwiderstehlich sei.«
Hilfreich für Jörgs Selbstwertgefühl ist, als er bemerkt, dass ihm sein Vernehmer intellektuell unterlegen ist. »3/5« blättert nämlich beim Verfassen der Vernehmungsprotokolle, versteckt hinter dem Schreibtisch, in einem Buch. Bald zeigt sich, dass es sich um ein Fremdwörterlexikon handelt.
Als »3/5« eines Tages Jörg um Hilfe bittet, weil er nicht weiß, wo er nachschlagen soll, macht sich der Gefangene über den Vernehmer lustig. »3/5« reagiert ernst: »Jetzt lachen Sie noch. In zehn Jahren werden Sie nicht mehr lachen.« Jörg bekommt es mit der Angst zu tun und denkt, ihn erwarteten also zehn Jahre Gefängnis. Doch das Missverständnis klärt sich schnell auf. »3/5« meint mit seiner Aussage, in zehn Jahren hätten alle Stasi-Offiziere Abitur und könnten die Rechtschreibung.
Üblicherweise erfolgt die Untersuchungshaft beim MfS als Isolationshaft, um die Gefangenen in ihrer Ungewissheit noch zusätzlich mit der Einsamkeit zu belasten. Jörg jedoch teilt seine Zelle über die gesamte Haftzeit mit anderen. Von Beginn an macht er es sich dabei zur Aufgabe, sich die Anschuldigungen gegen seine Mithäftlinge und die darauf erfolgten Urteile zu merken.
Die Haftbedingungen in der MfS-Untersuchungshaftanstalt Beethovenstraße sind streng. Tagsüber darf sich keiner der Häftlinge anlehnen, geschweige denn einschlafen. Die Bettruhe wird um 20 Uhr durch eine Klingel angekündigt – ist aber keine Ruhe, da nachts in regelmäßigen Abständen das Licht angeschaltet wird, um die Insassen durch den Spion zu beobachten. Um fünf Uhr morgens weckt man die Gefangenen durch dieselbe Glocke. Man reicht ihnen Handtücher, Seife und Zahnbürsten in die Zelle, anschließend gibt es Ersatzkaffee und Brot. Die Verpflegung ist einseitig, vitamin- und fettarm.
Gegen sieben Uhr erfolgt der sogenannte Hofgang in den Tigerkäfigen, den kleinen, oben vergitterten Betonabteilen, auf deren übermannshohen Mauern Wachposten patrouillieren. Die Wachhabenden demonstrieren den Untersuchungshäftlingen ihre Macht, indem sie Zellendurchsuchungen während des Mittagessens vornehmen. Dann müssen sich die Zelleninsassen entkleiden, ihre Decken werden umhergeworfen und sämtliche Blätter oder Steinchen, die sie heimlich eingesteckt haben, weggenommen. Am Ende liegt eine dicke Staubschicht auf dem Essen.
Am 8. November 1961 darf Jörg den ersten Brief über 20 Zeilen nach Hause schreiben. Damit ahnt er, dass die Vernehmungen ihr Ende finden. Seiner Weigerung, am 20. November 1961 ein Schlussprotokoll zu unterzeichnen, begegnet »3/5« mit der Lüge, die endgültige Beweisaufnahme erfolge erst vor Gericht und dort könne Jörg falsche Darstellungen widerrufen.
Am 6. Dezember 1961 wird Jörg dem Staatsanwalt Holzmüller vorgeführt, der eine Schimpftirade loslässt und ihm vorwirft, er sei im Auftrag des »Instituts für Sowjetologie« nach Leipzig gefahren, um Material zu sammeln.
»Der Staatsanwalt entließ mich mit dem scheußlichen Gefühl: das wird unter acht Jahren nicht abgehen.«
Am Freitag vor Weihnachten soll Jörg seinen Strafverteidiger treffen. Er ist überrascht, als nicht Günter Kröber, sondern Rechtsanwalt Heinz Kroke vor ihm steht, der sich mit SED-Parteiabzeichen, aber sonst völlig unwissend über Jörgs Straftat zeigt. Auf die Nachfrage, wo denn Anwalt Kröber sei, antwortet Kroke nur lapidar, der könne nicht kommen, der säße ebenfalls hier.
Jörg verlässt der Mut. Er wirft sich vor, selbst schuld an seiner Lage zu sein, doch versucht gleichzeitig, sich mit seinem Schicksal abzufinden und schreibt an seine Eltern: »Was ich verliere, ist auf längere Sicht die Freiheit, was ich gewinne, ist unmittelbare Erkenntnis.« Die antworten mit einem Weihnachtspaket – das ihm nicht ausgehändigt, aber auch nie zurückgeschickt wird. Am Abend des 11. Januar 1962 erhält Jörg seine Anklageschrift, die bemerkenswerte elf Seiten umfasst.
»Ich staunte, was für ein gefährlicher Verbrecher ich war. Also innerlich lachte ich. Ich hatte überhaupt kein Unrechtsbewusstsein.«
Der Prozess vor dem Bezirksgericht Leipzig findet schließlich am 21. Januar 1962 statt. Frisch rasiert, in seiner Zivilkleidung und mit Handschellen fixiert führt man Jörg in den Gerichtssaal, der sich im Nebeneingang des Gefängnis- und Justizkomplexes befindet.
Er erwartet einen Schauprozess mit großem Publikum, doch der Saal ist leer. Allein der Richter, Rechtsanwalt Kroke und Staatsanwalt Holzmüller sowie zwei Schöffen sind anwesend, als der Angeklagte aufgefordert wird, sich in die Mitte zu stellen und seinen Lebenslauf darzustellen. Anschließend hält Staatsanwalt Holzmüller eine donnernde Rede über den westdeutschen Klassenfeind und wirft Jörg vor, das »Werkzeug der Bonner Ultras« zu sein. Dann folgen der Strafantrag und schließlich der Einwand von Jörgs Strafverteidiger.
»Mein Rechtsanwalt war eine richtige Niete. Der sagte nur, er möchte bitte die Jugend des Angeklagten berücksichtigt wissen. Da war ich fast 25.«
Der Urteilsverkündung am nächsten Tag darf Jörgs Leipziger Tante Inge beiwohnen. Die Verurteilung wird mit drei Delikten begründet: Nach Paragraf 19 »Staatsgefährdende Propaganda und Hetze« des Strafrechtsergänzungsgesetzes erhält Jörg zweieinhalb Jahre Haftstrafe für die sieben »nobis«-Artikel. Sein Besuch bei Annelies Loest – die er nicht einmal antraf – legt das Gericht nach Paragraf 21 als »Verleitung zum Verlassen der Deutschen Demokratischen Republik« aus und Jörgs Notiz in der Leipziger Universität fällt unter Paragraf 15 »Sammlung von Nachrichten«. Insgesamt werden durch das Leipziger Bezirksgericht dreieinhalb Jahre Strafvollzug verhängt.
»Man hatte gehofft, in mir einen großen Fisch gefangen zu haben, aber es war nur ein kleiner. Da aber die Staatsanwaltschaft unfehlbar war, konnte sie mich nicht wieder laufen lassen.«
Jörgs Herz macht einen Sprung vor Freude. Die Erleichterung über das Urteil, das deutlich milder als erwartet ausfällt, ist riesig. Trotzdem legt er Berufung ein. Sie wird im März 1962 als unbegründet verworfen.
Nach insgesamt 206 Tagen Untersuchungshaft in der UHA Beethovenstraße wird Jörg am 2. April 1962 in die Strafvollzugseinrichtung in der Alfred-Kästner-Straße Leipzig verlegt. Wie er beim Aufrufen der Namen erfährt, ist einer der drei Häftlinge seines Transports der Rechtsanwalt Günter Kröber. Sie kommen in eine Gemeinschaftszelle und Jörg gelingt es, von Günter Kröber eine kurze Zusammenfassung seines Schicksals zu erfahren. Doch als die Wachhabenden die Unterhaltung der zwei Männer mitbekommen, wird Kröber in eine andere Zelle verlegt.
»Er winkte mir noch einmal beim Hofgang zu, dann sah ich ihn nicht wieder.«
Das Gefängnis in der Alfred-Kästner-Straße ist nur eine Übergangsstation, bis die Häftlinge in andere Strafvollzugseinrichtungen überführt werden. Nach zehn Tagen erfolgt am 12. April 1962 Jörgs Verlegung in die Strafvollzugsanstalt Torgau, wo er das nächste Vierteljahr verbringen wird.
Die Strafvollzugsanstalt Torgau befindet sich im Fort Zinna, eine Festung, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts ein Militärgefängnis der preußischen Armee ist und 1938/39 zum größten und modernsten Wehrmachtgefängnis ausgebaut wird. Im August 1945 richtet das NKWD hier das sowjetische Speziallager Nr. 8 ein, das mit etwa 7.500 Internierten und mehreren hundert Kriegsgefangenen gnadenlos überfüllt ist. Es wird von Mai 1946 bis Oktober 1948 als Speziallager Nr. 10 weiterbetrieben. Jetzt sind die Inhaftierten vor allem SMT-verurteilte sowjetische Staatsangehörige, die in das Straflagersystem der UdSSR deportiert werden.
Im Januar 1950 übernimmt die Deutsche Volkspolizei das Fort Zinna als DDR-Strafvollzugsanstalt. Die ersten Insassen sind SMT-verurteilte Gefangene der aufgelösten letzten drei sowjetischen Speziallager, die an das Innenministerium übergeben wurden. In den 1950er- und 1960er-Jahren sitzen mehrheitlich politische Gefangene und Zeugen Jehovas in Torgau ein, während später der Anteil krimineller Straftäter überwiegt.
»Als wir durch das Tor des Zuchthauses auf den Innenhof schritten, musste ich lebhaft an Erich Loest denken. Nun hatten sich also auch hinter mir die Zuchthaustore geschlossen.«
Nach einer gründlichen Leibesvisitation bezieht Jörg mit drei weiteren Häftlingen die Zelle 342 auf Station 11 des C-Flügels. Die neun Quadratmeter enthalten zwei Pritschen und ein zusätzliches Klappbett. Jörg muss auf einem Strohsack auf dem Boden schlafen, halb unter dem Klapptisch, den Kopf am Spülklosett. Sie erhalten braune Häftlingskleidung mit gelben Streifen, die sie einmal in der Woche nach dem Duschen wechseln dürfen. Jeden Morgen gibt es eine 30-minütige »Freistunde«, bei der die Gefangenen in Formation über den Innenhof marschieren, manchmal finden sportliche Übungen statt.
Die Neuzugänge sind »Nichtarbeiter« und bekommen wochenlang nur die halbe Verpflegungsration, nichts zu lesen und nichts zu rauchen, denn die Torgauer Strafvollzugseinrichtung ist zu dieser Zeit vollkommen überbelegt.
Zellenverlegungen finden mit Regelmäßigkeit statt. Zuerst muss Jörg in Zelle 2 auf Station 15 umziehen, in der mehr als 20 Häftlinge liegen. Nach kurzer Zeit verlegt man ihn auf Zelle 320 im B-Flügel und im Mai geht es abermals in Zelle 342. Hier sitzen nun vier Westdeutsche gemeinsam und tauschen sich abends nach dem Zählappell viel miteinander aus. Wie gewohnt rechnet Jörg die Haftjahre der Insassen zusammen. Zu den gezählten 29 ½ Jahren trägt er nur wenig bei, seine Zellengenossen haben deutlich höhere Haftstrafen für ihre Delikte erhalten.
Am 20. Mai 1962 misslingt zwei Torgauer Häftlingen ein Ausbruchsversuch. Aufgeschreckt durch Lärm schauen Jörg und seine Mithäftlinge aus dem Zellenfenster. Er und etliche Insassen werden Zeugen davon, wie die Gefassten vom wütenden Wachpersonal brutal über den Gefängnishof getrieben werden. Die Hände in Handschellen gefesselt und die Füße nur in Holzschuhen, stürzten die zwei Männer immer wieder. An ihren kahlrasierten Schädeln läuft Blut herunter.
»Man merkte richtig, die Wachposten mussten ihre Wut rauslassen, weil es denen gelungen war, auszubrechen. Einer aus unserer Zelle rief ›ihr Schweine‹ nach unten und da brüllten sie hoch ›Weg vom Fenster!‹.«
Ende Juni wird Jörg eine Arbeitsstelle zugewiesen, die ihn für seine letzten zehn Hafttage im Torgauer Gefängnis beschäftigt. Obwohl er eine Fünf in Mathe hatte, setzt man ihn als Hilfsmathematiker für den VEB Zeiss Jena ein. Jörg gefällt die Tätigkeit in dem Konstruktionsbüro.
Doch Anfang Juli 1962 wird er in das Haftarbeitslager Altenburg verlegt – angeblich ein Barackenlager, wo die Häftlinge abends Gelegenheit hätten, draußen zu sitzen. Stattdessen erwartet sie ein fester Gefängnisbau mit Gittern, in dem man wieder vier Mann in eine Einzelzelle pfercht. Bei der persönlichen Arbeitseinweisung wird Jörg angekündigt, es werde schon beim geringsten Fluchtversuch geschossen. Man setzt die Männer zu schwerer körperlicher Arbeit im Braunkohlentagebau Rositz ein.
»Man musste zwei Kilometer durch die Braunkohle laufen. Da war man schon müde, wenn man ankam. Dann mussten wir Sand und Steine unter die Förderbrücke schaufeln.«
Beaufsichtigt werden die Gefangenen von einem Volkspolizisten, dem sie den Spitznamen »Lederhaut« verpassen. Er steckt mit gelben Fähnchen ein Geviert ab und stellt unter ständigem Brüllen mit schussbereiter Maschinenpistole und einem Wachhund sicher, dass keiner der Häftlinge aus dem Areal heraustritt. Der einzige Lichtblick ist das Mittagessen, das sie aus der Werkskantine bekommen und das bedeutend besser als die Verpflegung in Torgau ist.
Nach den vergangenen zehn Monaten des Stillsitzens macht sich schnell bemerkbar, dass Jörg der Aufgabe physisch nicht gewachsen ist. Aber er hat Angst vor den Konsequenzen einer Arbeitsverweigerung. Also meldet er sich in der Krankenzelle und stellt sich bei der Untersuchung bewusst so krumm hin, dass ihn der wohlwollende Zivilarzt krankschreibt.
Ende Juli 1962 wird Jörg wieder in die Leipziger Alfred-Kästner-Straße gebracht. Zurück in der alten Sammelzelle berichtet er den Neuankömmlingen von den Haftumständen in Torgau, was streng verboten ist und Arrest einbringen kann. Dann wird er in einen langen Raum unter dem Dach verlegt. Seine etwa 50 Zellengenossen sind dieses Mal vorwiegend Kriminelle, die sich des Diebstahls, Einbruchs oder der Vergewaltigung schuldig gemacht haben.
Nach wenigen Tagen wird Jörg zur Arbeit im VEB Bodenbearbeitungsgeräte (BBG) Leipzig-Süd eingesetzt, wo er Christbaumständer fertigen muss. Die Busfahrt hin zur Arbeitsstelle und zurück ist für die Häftlinge der Höhepunkt des Tages, weil sie etwas vom zivilen Leben erhaschen – auch wenn es schmerzt, die Freiheit zu beobachten, die ihnen nicht zugestanden wird.
Nach vier Wochen erfolgt am 2. September 1962 Jörgs Überführung in die letzte Station seines Strafvollzugs, die etwa 40 Kilometer von Karl-Marx-Stadt entfernt liegt. Die Strafvollzugsanstalt Waldheim geht auf eine Burg aus dem 13. Jahrhundert zurück, die eine wechselhafte Nutzung als Augustinerkloster, kurfürstliches Jagdschloss und seit dem frühen 18. Jahrhundert als Zucht-, Armen- und Waisenhaus aufweist. Schon seit der Märzrevolution von 1848 und vor allem während der nationalsozialistischen Diktatur sind hier Menschen aus politischen Gründen inhaftiert.
Nach 1950 erhält das größte sächsische Gefängnis zweifelhafte Berühmtheit. In Schnellverfahren werden hier 3.324 Personen wegen Nazi-Kriegsverbrechen verurteilt und 24 Hinrichtungen in diesem Zusammenhang vollzogen. Obwohl viele der Angeklagten nachweislich schwer belastet waren, werden die Waldheimer Prozesse aufgrund ihrer zweifelhaften Rechtsgrundlage zu einem Inbegriff mangelnder Rechtsstaatlichkeit.
Die Haftanstalt ist nun in der Verwaltung des Ministeriums des Innern und unter der Oberhoheit der Deutschen Volkspolizei, die einen scharfen, militärischen Ton vorgibt. Noch gilt hier der mit dem Zuchthaus verbundene Gedanke der Bestrafung.
Der Anstaltskomplex ist von einer vier Meter hohen, mit Glasscherben versehenen Mauer umgeben. Ein zwei Meter breiter Sicherungsring verläuft entlang der Innenwand, wo Schäferhunde und Wachposten patrouillieren. Durchgehend mit Bewaffneten besetzte Wachtürme und eine mit Lichtstrom beschickte Sicherungsleitung auf der Mauerkrone komplettieren die Maßnahmen gegen Ausbruchsversuche.
Bei ihrer Ankunft übernachten die Waldheimer Neuankömmlinge im »Kuhstall«, dann kommen sie in das größte Zellenhaus, die »Bremen«, die mit ihren kleinen Fenstern den optischen Eindruck eines Ozeandampfers erzeugt. Die kleinen Zellen müssen sie zu viert beziehen. Es stehen darin zwei Doppelpritschen, vier Hocker und ein Tisch bereit.
Das Waldheimer Gefängnis kennt kein fließendes Wasser in den Zellen. Ein Kübel für die Notdurft, der täglich nur einmal geleert wird, sowie ein Eimer und eine Schüssel zur Körperhygiene und zum Trinken müssen reichen. Im Sommer wird das Wasser manchmal so knapp, dass die Häftlinge auf das Waschen verzichten.
»Als ich auf die unhaltbaren hygienischen Verhältnisse hinwies, sagte man mir, dass es sich nicht lohne, in den Zuchthäusern noch etwas zu ändern, denn bis 1970 wären alle umerzogen.«
Der Hafttag beginnt um vier Uhr morgens mit der Leerung der Kübel und dem Ausfegen der Zelle, dann treten die Gefangenen im Hof in Dreierreihen den Weg zu ihrem Arbeitsplatz an. Während Jörgs Inhaftierung beherbergt die Strafvollzugsanstalt etwa 1.300 Häftlinge – ein enormes Arbeitskräftereservoir. Jörg arbeitet den Großteil seiner Haftzeit in Waldheim für den VEB Elektromotorenwerk Hartha, kurz Elmo. Sein stetiges Interesse gilt den Delikten der Mithäftlinge und so geht Jörg oft von Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz, um sich deren Schicksale und das, was sie über andere Insassen wissen, berichten zu lassen.
Auch im Waldheimer Gefängnis erfährt Jörg von einem gescheiterten Ausbruchsversuch, da ihm der Häftling die spektakuläre Geschichte detailliert berichtet: Der gelernte Autoschlosser prägt sich den Bart des Schlüssels ein, auf den er beim Aufschließen des Zellenhauses regelmäßig einen Blick werfen kann, und fertigt ihn nach. Als Schließer verkleidet gelingt es ihm, nachts aus dem Schlafraum zu fliehen und vom drei Meter hohen Küchendach in die Freiheit zu springen. Der Mann versteckt sich tagelang im Wald, versorgt sich durch Einbrüche und schafft es mit einem gestohlenen Auto bis in den Harz, wo er kurz vor seinem Versuch, die Grenze zu überqueren, gefasst wird und nun zwei Jahre länger einsitzen muss.
Geschichten wie diese schreibt Jörg nach seiner Haftentlassung auf. In jeder freien Minute rekapituliert er die gesammelten Informationen, merkt sich über 30 Adressen.
»Ich machte praktisch das, was ich später als Beruf machte: Ich führte mich als Journalist auf.«
Aufgrund des Materialmangels sitzen die Häftlinge zu Anfang des Monats manchmal tagelang ohne Beschäftigung da, während sie am Monatsende in zwei Schichten arbeiten, um die Planrückstände aufzuholen. Der Brigadier hat umfangreiche Vergünstigungen und ist dafür zuständig, die 250 Mann starke Arbeitsbrigade zu überwachen und jede staatsfeindliche Äußerung zu melden. Unterstützt wird er dabei von sogenannten Hausgängern, die als Kalfaktoren eingesetzt sind.
Die Bedingungen im Arbeitshaus entbehren jeglichen Arbeitsschutzbestimmungen. Besonders im Winter leiden die Häftlinge unter der Kälte – sowohl in den Zellen als auch bei der Arbeit. Am Arbeitsplatz herrschen in Bodennähe drei Grad, in Sitzhöhe acht Grad Celsius. Die Männer bringen ihre Decken aus den Zellen mit und frieren trotzdem.
»Wir keuchten vor Kälte, Hunger und Müdigkeit. Schliefen denn die in Westdeutschland?«
Vom Oktober 1962 bis Januar 1964 wird Jörg im Prüffeld eingesetzt, wo er die Funktionalität der hergestellten Motoren überprüfen muss. Eine leichte und monotone Aufgabe, bei der er nebenher Gedichte auswendig lernt.
Das Mittagessen besteht aus der wöchentlich gleichen Abfolge von Eintöpfen mit oft halb verfaulten Zutaten. Nach Arbeitsschluss wird eine halbe Stunde im Gleichschritt über den Gefängnishof marschiert, dann gibt es Kaltverpflegung auf der Zelle: Brot und minderwertige Wurst und Marmelade.
Die Banner mit sozialistischen Parolen, die in verschiedenen Räumlichkeiten der Strafvollzugsanstalt hängen, wirken auf Jörg wie purer Zynismus. Im vierzehntägigen Wechsel finden entweder Filmvorführungen oder politische Schulungen durch Vertreter der Nationalen Front statt, Jörg nennt sie die »Rotlichtbestrahlung«. Ab Mai 1964 ist es den Insassen gestattet, nach den Vorträgen Fragen zu stellen.
Dreimal wird Jörg zur »Seelenfilzung« geladen, bei der die Häftlinge einzeln Offizieren der Volkspolizei vorgeführt und auf ihre politische Gesinnung geprüft werden. Zwei Stunden lang wird Jörg befragt. Auf die Frage nach seinem Befinden antwortet er mit einer Gegenfrage:
»›Sie haben doch Marx gelesen, Sie wissen doch, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt. Was glauben Sie denn, wie der sich fühlt, der bei Ihnen im Knast sitzt?‹ Da lachten sie erst mal.«
Vorsichtig, aber dennoch auf die ihm eigene, kritische Art, pflegt Jörg den Umgang mit den zuständigen Wachhabenden in Waldheim. Als Anwalt Kroke anderthalb Jahre nach dem Gerichtsprozess die Begleichung von Kosten für Büromaterial fordert, bestellt Polizeimeister »Bärtchen« Jörg in sein Büro, um die Formalitäten zu klären und verwickelt den Häftling in ein Gespräch. »Bärtchen« behauptet zu wissen, wer Jörgs Studium bezahlt hätte: der CIA, also der Auslandsgeheimdienst der Vereinigten Staaten. Jörg ist amüsiert. Er fragt, ob er diese Neuigkeit seinem Vater mitteilen dürfe, denn der würde sich darüber sicherlich freuen.
Jörgs Mutter darf ihren Sohn nur zwei Mal für je eine halbe Stunde unter der Aufsicht eines Wachhabenden besuchen. Als sie Jörg auf die Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung anspricht und der pessimistisch bleibt, mischt sich der Wachmann ins Gespräch ein und behauptet, bei guter Führung bestünden passable Chancen. Jörg reagiert sarkastisch, weil er erlebt, dass diese Regelung höchstens für kriminelle Häftlinge besteht – die gegenüber politisch Inhaftierten grundsätzlich bevorzugt werden, ob bei der Besetzung von Schlüsselpositionen oder bei Amnestien.
Trotz aller Bewältigungsstrategien gehen die emotionale Belastung des Freiheitsentzugs und die ständig gewalttätige Atmosphäre nicht spurlos an Jörg vorbei. Nach mehreren stressintensiven Erlebnissen erleidet er einen nächtlichen Krampfanfall. Bewusst bekommt er nichts davon mit, aber seine Zellengenossen handeln schnell und alarmieren die Wachhabenden, so dass Jörg medizinisch behandelt wird.
Was den Krampfanfall verursachte, wird nicht herausgefunden. Zweimal noch widerfährt ihm ein solcher innerhalb der Gefängnismauern, und jedes Mal nachts.
»Wahrscheinlich war das so eine Art Angst vor dem Leben, dass ich es nicht mehr bewältige. Es wurde nie herausgefunden, aber es ist jetzt so lange her, da passiert nichts mehr.«
Im Sommer 1964 brodelt die Gerüchteküche und es zeichnet sich ab, das Häftlingsentlassungen bevorstehen. Jörg kommt gerade von einer Behandlung in der orthopädischen Klinik auf der Hubertusburg und anschließend wenigen Tagen Aufenthalt im Haftkrankenhaus Leipzig-Meusdorf wieder, als er am 14. August 1964 in die Effektenkammer bestellt wird, um seine Habseligkeiten zu nehmen. Unter dem Vorwand, noch persönliche Dinge aus dem Arbeitshaus holen zu wollen, sammelt er dort Aufträge und Adressen von anderen Westdeutschen und verabschiedet sich von seinen Kameraden.
Gemeinsam mit zwei weiteren Häftlingen wird Jörg in eine extra Zelle verlegt. Von seiner dreieinhalbjährigen Haftstrafe verbleiben noch 200 Tage. Ein Zellengenosse hat bereits zehn Jahre abgesessen und ist kaum imstande, die bevorstehende Freilassung zu realisieren.
Am 21. August 1964 werden die drei Männer in einem Dunkelzellen-Gefangenentransport mit der Aufschrift »Frische Fische« nach Berlin-Hohenschönhausen zu einer der zwei zentralen Untersuchungshaftanstalten der Staatssicherheit gebracht. Dort erhalten sie ihre Zivilkleidung wieder. Bei seinen Habseligkeiten findet Jörg außerdem Briefe von 1961, die ihm nie zuvor ausgehändigt wurden. Die Wachhabenden behandeln sie ungewohnt freundlich.
»Wenn einer allein Anstalten machte, sich eine Zigarette anzuzünden, kamen sie mit Feuer. Ich sagte: ›Mensch, bestell doch mal Himbeereis. Mal sehen, ob die das auch bringen.‹«
Nach drei Tagen kommen die Häftlinge für eine letzte Nacht in Gefangenschaft in die »Magdalena«, die MfS-Untersuchungshaftanstalt in der Magdalenenstraße in Berlin-Lichtenberg, die für viele Häftlinge eine Durchgangsstation kurz vor der Haftentlassung ist. Dort wird Jörg der Straferlass wegen guter Führung mit einer zweijährigen Bewährungszeit bekanntgegeben.
Im Morgengrauen des 25. August 1964 besteigt er gemeinsam mit etwa 30 Frauen und Männern zwei Busse, die sie in die Freiheit bringen sollen. Die Fahrt zurück in Jörgs westdeutsche Heimat dauert wegen etlicher Zwischenhalte eine gefühlte Ewigkeit. Noch wird die Gruppe von einem MfS-Beamten begleitet, der einen Waschkorb mit belegten Broten dabeihat, die aber keiner der Freigekauften annimmt.
Auf einem Autobahnparkplatz bei Jena steigt der Stasi-Beamte aus, dafür betreten den Bus die Rechtsanwälte Jürgen Stange und Wolfgang Vogel, die ihnen mitteilen, dass sie von der Regierung der Bundesrepublik freigekauft wurden. Jörg gehört damit zu den ersten Zeitzeugen des Häftlingsfreikaufs, der von 1963 bis 1989 über 33.700 Menschen aus den DDR-Gefängnissen holt und rund 215.000 Familienzusammenführungen ermöglicht.
Die DDR-Führung profitiert anfangs mit Bargeld und später mit Warenlieferungen. Die Bundesrepublik, nach deren Rechtsauffassung die DDR-Bürger deutsche Staatsangehörige sind und deshalb moralisch und rechtlich ihren Schutz verdienen, bezahlt einen Pauschalpreis, der 1964 pro Person 40.000 D-Mark und seit 1979 circa 96.000 D-Mark beträgt.
»Die DDR kassierte 3,4 Milliarden Westmark. Und trotzdem ging sie unter.«
Wolfgang Vogel, der als Unterhändler der DDR gegenüber der Bundesrepublik fungiert, bittet die Businsassen, sich ruhig und diszipliniert zu verhalten und auf Rastplätzen stets zu behaupten, eine westdeutsche Reisegesellschaft zu sein. Er mahnt, auch in der Heimat Stillschweigen über das inoffizielle Geschäft zu bewahren, um zukünftige Freikäufe nicht zu gefährden. Dann steigen die Berliner Anwälte wieder aus und der Bus fährt weiter, bis sie am späten Abend den Grenzübergang Wartha/Herleshausen erreichen und in westdeutsche Busse umsteigen.
»Die hatten Hanauer Nummern – HU. Manche DDR-Forscher bestreiten das nämlich und sagen: ›Ihr wart doch in Gießen.‹ Wir waren der einzige Transport, der zum Schloss Büdesheim ging.«
Es steigt der ebenfalls den Häftlingsfreikauf vermittelnde Rechtsanwalt Alfred Musiolik hinzu. Da sie das Schloss Büdesheim in Hessen erst gegen drei Uhr morgens erreichen, sieht Jörg davon ab, seine Eltern telefonisch über die bevorstehende Ankunft zu informieren. Die Gruppe übernachtet in der Unterkunft. Eindrücklich prägt sich Jörg das erste Frühstück in Freiheit ins Gedächtnis ein, bei dem sein Herz nicht nur wegen des jahrelang entbehrten Kaffees höherschlägt – sondern auch, weil er beim Aufwachen Fenster ohne Gitter erblickt.
»Dann erschienen drei Leute von der Bundes-, der Landesregierung und der Lagerleitung und lobten uns: ›Ihr habt gekämpft für Demokratie!‹ Und wir wollten das alles nicht hören, nur nach Hause.«
Die ehemaligen Häftlinge werden einzeln befragt, dann erhalten sie 600 D-Mark als Begrüßungsgeld sowie für Rückfahrt und Kleidung. Jörg ruft sich ein Taxi, das ihn zu seinem nur 30 Kilometer entfernt liegenden Elternhaus bringt. Niemand ist zu Hause, als er ankommt. Nur der Familienhund kommt schwanzwedelnd zum Tor gelaufen und leckt Jörgs Hand.
»Da hätte ich fast geheult. Das hat mir so toll gefallen. Ich kam mir vor wie Odysseus, zehn Jahre vor Troja gekämpft und zehn Jahre in der Ägäis umhergeirrt.«
Als Jörgs Familie ihn schließlich begrüßt, ist die Freude riesig. Seine Schwester fällt ihm um den Hals, der Mutter werden die Knie weich. Nachdem sie sich gefasst hat, ordnet sie für Jörg sofort ein Bad an, um den Zuchthaus-Gestank abzuwaschen.
Zehn Tage nach seiner Rückkehr erreicht Jörgs Mutter ein Brief, der ihren nächsten Besuchstermin in Waldheim bestätigt. Offensichtlich hat die Gefängnisverwaltung noch nicht registriert, dass Häftling 797/62 längst entlassen ist. Seine Mutter fährt trotzdem in die DDR und nutzt die Einreiseerlaubnis, um ihre Verwandten im Leipziger Umland zu besuchen und über Jörgs Erfahrungen in Kenntnis zu setzen.
Der mittlerweile 27-Jährige braucht eine ganze Weile, um sich wieder an ein selbstbestimmtes Leben zu gewöhnen. Zwar darf er eine sogenannte Nachkur im Schwarzwald zur körperlichen Erholung nutzen, doch Ängste bestimmen alltägliche Routinen und das soziale Miteinander.
Jörg pausiert das Wintersemester 1964/65 und fährt Freunde und Bekannte besuchen, spricht über das Erlebte. In der »nobis« veröffentlicht er die Artikelreihe »Troglodytische Jahre« – die Geschichte des »Höhlenbewohners B.«, in der er seine politische Inhaftierung literarisch verarbeitet. Dann studiert er drei Semester weiter, doch er funktioniert wie ferngesteuert, wird noch immer jeden Morgen um vier Uhr wach. Ein zweitweiser Ortswechsel bringt die erhoffte Erlösung aus seiner Starre.
In den kommenden Jahren baut Jörg seine berufliche Karriere aus. Er arbeitet für Hörfunk, Zeitungen sowie kulturpolitische Organisationen und promoviert 1977 über das Frühwerk von Anna Seghers. 1989 bringt die Friedliche Revolution erst den Fall der Mauer, dann das Ende der DDR und schließlich erfolgt am 3. Oktober 1990 die Wiedervereinigung Deutschlands. Jörg ist begeistert von der Dynamik der Friedensdemonstrationen.
»Das rechne ich den DDR-Bürgern hoch an. Die haben sich selbst befreit. Die Westdeutschen hätten das nicht. Die wollten das gar nicht. Man lässt das lieber so, wie es ist.«
1992 nimmt Jörg in Leipzig Einsicht in seine Stasi-Akte. Was er darin liest, regt ihn so auf, dass er seinen Koffer bei der Tante stehen lässt und Hals über Kopf nach Hause fährt. Die Unterlagen enthalten den Beweis für die zwei Jahre anhaltende Bespitzelung durch den Leipziger Studenten. Jörg erfährt auch den Klarnamen seines Vernehmers »3/5«. Nachdem er sich beruhigt hat, nimmt er Kontakt mit dem Mann auf, der mittlerweile Rentner ist.
»Ich schrieb ihm einen Brief, ich hätte noch einige Fragen zum frühen Marx, ob wir uns mal treffen könnten. Er rief mich in Bonn an. Da schlug mir das Herz bis zum Hals.«
Jörg lädt seinen ehemaligen Vernehmer auf ein Bier ein. Doch der kurze Austausch bringt ihm keine neuen Informationen ein und von einem Gefühl des Bedauerns seiner Taten ist bei dem ehemaligen MfS-Beamten keine Spur zu erkennen.
Vielversprechender sind da die vielen Verbindungen, die Jörg zu ehemaligen Mithäftlingen knüpft, wie Günter Kröber, den er in der Leipziger Anwaltskanzlei besucht und zu dem er bis heute guten Kontakt hält. Jörg fährt auch noch einmal nach Waldheim, um seine ehemalige Strafvollzugsanstalt anzuschauen, die heute schwerpunktmäßig männliche Ersttäter beherbergt – unter völlig anderen Haftbedingungen als seinerzeit.
Von 1983 bis 2000 arbeitet Jörg als Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz in der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat in Bonn, dann geht er in Rente. 2003 wird ihm das Bundesverdienstkreuz verliehen. Im September 2006 heiratet Jörg und lebt mit seiner Frau Gabriele heute in Coburg.
Der 84-Jährige ist im Koordinierenden Zeitzeugenbüro registriert und berichtet sein Schicksal vor Schulklassen, um deren historisch-politische Bildung zu unterstützen. In zahlreichen Publikationen und Artikeln befasst er sich mit der DDR-Vergangenheit. Bemerkenswert sind die darin beschriebenen Schicksale seiner Mithäftlinge, die er gesammelt und später weiterrecherchiert hat.
Vor allem jene Personen, die nach ihrer Freilassung in der DDR geblieben sind, berichten über Erlebnisse von Stigmatisierung, gesellschaftlicher und beruflicher Benachteiligung und der pauschalen Unterstellung einer Schuld an ihrer Inhaftierung. Auch Jörg musste bittere Erfahrungen machen.
»Ich erlebte oft, dass die Leute dachten: ›Na, wer weiß, das ist doch auch ein Staat mit seinen Gesetzen.‹ Dass man wegen freier Meinungsäußerung in den Knast wandern kann, versteht man gar nicht.«