»Ich wog noch 85 Pfund.«
Wilmar Leber kommt am 12. Januar 1929 in Friesen zur Welt, einem kleinen Ort zwischen Zwickau und Plauen, der heute zur Stadt Reichenbach im Vogtland gehört. Dort rollen schon im Oktober 1938 deutsche Panzer durch die engen Straßen, weil die Wehrmacht zur Besetzung des Sudetenlandes ausrückt. Der damals neunjährige Wilmar versorgt die durstigen Soldaten mit Wasser. Als ein Jahr später der Zweite Weltkrieg ausbricht, nimmt der Junge wahr, wie unbehaglich seine Eltern auf die Nachricht reagieren. Er selbst hat keine Vorstellungskraft darüber, was ihn erwartet.
Doch Wilmars Eltern haben den Ersten Weltkrieg miterlebt, aus dem der Vater schwer verwundet von der Front zurückgekehrt ist und fortan halbseitig gelähmt bleibt. Wilmars Großmutter äußert auf dem Sterbebett ihre böse Vorahnung: »Das wird nichts Gutes!« Das Radio – das einzige Medium, über das Wilmar zu damaligen Zeit Neuigkeiten erfahren kann – verbreitet unterdessen nur positive Meldungen über die siegreichen Feldzüge der Wehrmacht.
Erneut ziehen militärische Truppen durch die Straßen des kleinen Ortes und Wilmar kann vom Küchenfenster aus die vollbeladenen Züge beobachten, die Soldaten und Waffen in östliche Richtung transportieren. Immer mehr Männer aus Friesen werden eingezogen, aber kaum ein Soldat kehrt von der Front zurück.
Mitte März 1945 muss Wilmar, der 1943 mit Erreichen des 14. Lebensjahrs in die Hitlerjugend eingegliedert worden ist, selbst in ein Wehrertüchtigungslager. Als sich einen Monat später mit dem Einzug der Amerikaner für die Vogtländer das Ende des Krieges ankündigt, flüchtet er gemeinsam mit zwei Kameraden aus dem Lager im Stegenwaldhaus. Über Wald und Wiesen treten sie den rund 70 Kilometer weiten, abenteuerlichen Rückweg an.
Den drei Jugendlichen droht aufgrund ihrer Fahnenflucht die standrechtliche Erschießung, doch sie haben Glück. Der Kamerad, der eigens nach Reichenbach gefahren worden ist, um das Fahndungsschreiben ans Landesschützenbataillon zu überbringen, zerreißt den Brief und nutzt die Gelegenheit, selbst heimzukehren.
Am 1. Juli 1945 ziehen die amerikanischen Truppen ab und Reichenbach wird von der Roten Armee übernommen, weil es in der Besatzungszone liegt, die der Sowjetischen Militäradministration SMAD laut Beschluss der Siegermächte nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht zugeteilt wurde.
Wilmar hat nach Abschluss der achten Klasse eine Lehre als Elektro-Installateur begonnen und arbeitet im Spätsommer 1945 gerade an seinem Gesellenstück. Am Nachmittag des 21. September holen ihn zwei deutsche Polizeibeamte ab. Es heißt, man brauche lediglich die helfenden Hände von einigen Jugendlichen, um ein Zimmer in der sowjetischen Kommandantur in Reichenbach umzuräumen. Als sie auf der Polizeiwache eintreffen, sind dort tatsächlich schon weitere Jugendliche versammelt. Doch anstelle eines Arbeitseinsatzes sperrt man die jungen Männer nun unter Androhung von Waffengewalt ein.
»In eine 3-Mann-Zelle sieben Mann.«
Bis zum 4. Oktober 1945 bleibt Wilmar eingeschlossen und wird durch Mitarbeiter des sowjetischen Geheimdienstes NKWD verhört. Einmal lässt man ihn den ganzen Tag lang in einer Gartenlaube auf seine Vernehmung warten. Das Wetter hat schon zu herbstlichem Schneeregen umgeschlagen und Wilmar friert in der kurzen Hose und dem dünnen Hemd, die er seit dem Zeitpunkt seiner Verhaftung trägt.
Der 16-Jährige wird in den Verhören immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, er gehöre dem »Werwolf« an. Die Mitglieder dieser nationalsozialistischen Partisanenorganisation sind dazu angehalten, Sabotageakte und Attentate auf die alliierten Besatzungstruppen zu verüben. Doch in Mitteldeutschland hat die von Heinrich Himmler ins Leben gerufene Organisation gar keine Verbreitung gefunden.
Am Ende ist Wilmar gezwungen, ein Protokoll zu unterschreiben, obwohl er dessen Inhalt aufgrund der kyrillischen Schrift nicht entziffern kann. Mit einem Bus werden die Jugendlichen abtransportiert und für einen Tag im Gefängnis Plauen untergebracht. Danach geht es für zehn Tage Arrest ins Gefängnis Zwickau. Am 15. Oktober schließlich erfolgt der Transport ins sowjetische Speziallager Nr. 1.
Bei der Barackenstadt nahe Mühlberg an der Elbe handelt es sich um ein ehemaliges Kriegsgefangenenlager der deutschen Wehrmacht, das ab September 1945 vom NKWD als Internierungslager genutzt wird. Die Gefangenschaft im Lager Mühlberg ist durch die Isolierung von der Außenwelt und völlige Ungewissheit über das eigene Schicksal charakterisiert. Zudem leiden die Internierten unter einer mangelhaften Ernährungssituation, desolaten hygienischen Bedingungen und zumeist absoluter körperlicher und geistiger Beschäftigungslosigkeit.
Wilmar wird hier erneut zum Verhör geholt, wo man ihm den Inhalt des in Reichenbach verfassten Protokolls vorliest. Weil er abstreitet, eine solche Aussage gemacht zu haben, erfährt er Schläge – schließlich habe er ja unterschrieben.
Einer der Kompanieführer setzt sich sehr für das Wohl der jugendlichen Internierten ein. Er bewahrt sie vor so manchem kräftezehrenden Arbeitseinsatz und verschafft ihnen zusätzliche Portionen Essen, indem er ihnen vogtländisches Liedgut beibringt und sie zum Singen ermutigt. Trotzdem magert Wilmar rasant ab.
»Die Zeit, die wir dort mitmachen mussten, war hart. 1946 wog ich noch 85 Pfund.«
Aus Sorge um seine Gesundheit verschafft ihm ein Kamerad die Stelle des Kesselputzers, denn wer in der Küche arbeitet, hat gelegentlich die Möglichkeit, zusätzliche Lebensmittel abzugreifen. Im Laufe des Jahres kann sich Wilmar auf ein Gewicht von 125 Pfund aufpäppeln. Dann wird eine großangelegte Musterung der Internierten des Speziallagers Mühlberg angeordnet. Die Untersuchung erfolgt durch eine Begutachtung des nackten Körpers und den Griff in das Gesäß, um die dort noch vorhandene Muskelmasse zu prüfen.
Wilmar wird als arbeitstauglich eingestuft und ist somit einer derjenigen, die am 8. Februar 1947 auf den sogenannten Pelzmützentransport kommen. Zwei Jahre und vier Monate Gefangenschaft hat Wilmar bereits im Lager Mühlberg durchgestanden, nun wird er mit dem Zug nach Sibirien verfrachtet, über 4.700 Kilometer von der Heimat entfernt. Im GULAG-Straflager 7503/11 Anschero-Sudschensk im Verwaltungsbezirk Kemerowo ist er fortan zu härtester Zwangsarbeit verpflichtet.
Im ersten Jahr arbeitet er im Dreischichtsystem im Steinkohlebergbau, sieben Tage die Woche. Allein die Anfahrt zur Arbeitsstätte ist beschwerlich, denn in Sibirien sind nur die Hauptstraßen mit Baumstämmen befestigt, während alle anderen Wege aufgrund der Witterungsverhältnisse aus schlammigen Schlaglöchern bestehen.
»Manches Mal blieb das Auto in den Schlaglöchern stecken und wir mussten runter und schieben. Da fragte keiner, wie du die Stiefel wieder trocken bringst.«
Auch an die extremen klimatischen Bedingungen müssen sie sich erst gewöhnen. Im Winter fallen die Temperaturen mitunter bis auf 50 Grad Minus und im Sommer herrscht dagegen eine gewaltige Hitze.
Die Essensrationen sind mit 700 g Brot und Wassersuppe zwar größer als im Lager Mühlberg, doch noch immer nicht ausreichend. Deshalb freuen sich die Männer, wenn die japanischen Kriegsgefangenen ihr Brot verschenken, sobald sie die monatliche Reislieferung ihres Hilfswerks erhalten.
Jeweils sechzehn Mann nächtigen in einem Zimmer, das der gemauerte Ziegelofen nur spärlich zu beheizen in der Lage ist, obwohl die Männer ausgewählte Kohlestücke aus dem Schacht mitbringen. Eine Waschmöglichkeit besteht, wenn sie sich Wasser aus dem 200 Meter entfernten Brunnen holen und in die Behälter im Waschraum füllen. Im Winter ist der Weg zum Brunnen aufgrund der hohen Schneewehen schwer zu erreichen und die Seile frieren ein. Die Männer dürfen dann auf der Arbeitsstelle duschen, doch auch dort gibt es oft nur kaltes Wasser.
Bei der Arbeit in den Kohlestollen verletzt sich Wilmar mit einem Beil an der linken Hand. Die Wunde ist tief und geht bis auf den Knochen. Vorübergehend ist er von den schweren Schachtarbeiten freigestellt und putzt in der lagereigenen Bäckerei. Hier kommt Wilmar gelegentlich in den Genuss von Kuchenrändern. Weil die Verletzung schneller heilen will, als ihm lieb ist, manipuliert er den Genesungsprozess mehrfach und reißt die Haut absichtlich ein.
»So hast du dich durchgeschlenkert durch die Zeit.«
Erst, als der deutsche Arzt ihn warnt, dass der Schwindel bei der nächsten Visite der russischen Ärztin auffallen und er dafür mit zur Rechenschaft gezogen werde, gibt Wilmar auf und lässt die Wunde verheilen.
Im Mai 1948 darf Wilmar das erste und einzige Mal während seiner Gefangenschaft Briefkontakt zu den Eltern aufnehmen und erhält auch eine Antwortkarte aus Friesen. Er weiß, dass seine Familie sich Tag und Nacht mit der Sorge um ihn plagt und sieht es als Glück im Unglück an, dass ihn die Arbeit und der tägliche Kampf ums Überleben ausreichend beschäftigen.
Die Männer werden nun für den Bau eines Garagenkomplexes eingesetzt. Eine körperlich schwere Arbeit, bei der sie Abraum in Steinbrechern zerkleinern und große Betonblöcke gießen müssen. Anfang 1949 wird die Interniertengruppe nach Stalinsk verlegt, wo sie an der Errichtung eines Wasserkraftwerks mitwirkt.
Auch hier verletzt sich Wilmar schwer, als ein Gerüst unter ihm zusammenbricht und ein frisch geschmiedeter Meißel im Sturz seinen rechten Unterschenkel durchbohrt. Der Unfall ereignet sich kurz nach Schichtbeginn, doch Wilmar muss noch die verbleibenden acht Stunden Arbeitszeit durchhalten, ehe er einen Sanitäter aufsuchen und seine Wunde notdürftig versorgen lassen kann.
Etwa ein Jahr später werden die Häftlinge wieder auf Züge verteilt und nach Brest-Litowsk gefahren. In einem neuen Lager erwarten sie den langersehnten Rücktransport in die Heimat. Doch als die Gruppe abfahrbereit antritt, wählt man nur einzelne Männer aus. Sie sollen lediglich die anderen Transporte auffüllen, damit die vermerkte Personenzahl trotz der hohen Sterberate auf dem langen Reiseweg stimmt. Erst beim dritten Mal ist Wilmar unter den Abgezählten, als vorletzter von 30 Mann.
Am 4. Mai 1950, nach mehr als vier Jahren und acht Monaten in sowjetischer Gefangenschaft, wird Wilmar nach Hause entlassen. Er ist nun 21 Jahre alt. Seine Eltern haben nichts von seiner Rückkehr geahnt und sind überrascht, als er plötzlich wieder vor ihnen steht. Wilmars Mutter, die zum Zeitpunkt seiner Verhaftung noch kein graues Haar hatte, ist schlohweiß geworden.
»Was die mitmachten! Die mussten sich jeden Tag, von morgens bis abends und in die Nacht, damit beschäftigen, dass ich nicht da war.«
Zurück in der Heimat kann Wilmar anfangs nur schlecht schlafen, denn zu viele Erinnerungen stören seine Träume. Doch aus Vorsicht bleibt er sehr verhalten darin, sich jemandem anzuvertrauen. Noch ein Jahr lang passt ihm sein alter Konfirmanden-Anzug – ein Zeugnis dafür, wie sehr ihn die strapaziösen Umstände der Haft in der körperlichen Entwicklung vom Jugendlichen zum Mann behindert haben.
Ein Mitarbeiter des Arbeitsamtes will ihm eine Stelle im Bergbau aufzwingen, doch Wilmar weigert sich vehement, je wieder einen Schacht zu betreten. Bei einem Elektromeister kann er schließlich seine Lehre beenden und bleibt für weitere vier Jahre im Betrieb, dann wechselt er zum Transformatorenwerk in Reichenbach. Dort lernt er seine spätere Frau kennen, sie heiraten 1961 und bekommen zwei Jahre später einen Sohn.
Um sich und seine Familie vor den möglichen Konsequenzen einer unbedachten Aussage zu schützen, lässt Wilmar seinen Sohn über die genauen Umstände der Gefangenschaft zunächst im Unklaren. Erst nach der Deutschen Wiedervereinigung traut er sich, ihn darüber aufzuklären.
Wilmar ist Mitbegründer der 1990 ins Leben gerufenen VOS-Bezirksgruppe Reichenbach. Jahrelang treffen sich die Mitglieder regelmäßig und organisieren Veranstaltungen, arbeiten ihre Vergangenheit auf und helfen einander bei den Rehabilitierungsverfahren oder Anträgen für die Opferrente. So oft es sein Gesundheitszustand zulässt, nimmt Wilmar an den jährlich im September stattfindenden Treffen im ehemaligen Speziallager Nr. 1 Mühlberg teil. Obwohl er sich angesichts seiner Erfahrungen als »harten Hund« bezeichnet, setzt ihm das Betreten des Lagergeländes oft sehr zu.
»Trotzdem braucht man sich nicht zu schämen, wenn auch mal ein paar Tränen kommen.«
Wilmar sagt heute, dass er seine Erlebnisse im Großen und Ganzen gut für sich verarbeiten konnte und stets darauf geachtet hat, dass sie sein Wesen nicht negativ beeinflussen. Eine große Unterstützung ist ihm dabei seine Ehefrau, mit der er seit mittlerweile 55 Jahren verheiratet ist. Mit seinen zwei Enkelkindern wohnt nun die fünfte Generation gemeinsam mit ihm in dem Haus in Friesen, in dem er aufgewachsen ist.
Wilmar und einer seiner Schulkameraden, der mit in Sibirien war, sind heute die letzten zwei aus ihrer damaligen Klasse, die noch am Leben sind.
»Muss doch die sibirische Luft was Gutes gehabt haben, ne?«
»Ich wog noch 85 Pfund.«
Wilmar Leber kommt am 12. Januar 1929 in Friesen zur Welt, einem kleinen Ort zwischen Zwickau und Plauen, der heute zur Stadt Reichenbach im Vogtland gehört. Dort rollen schon im Oktober 1938 deutsche Panzer durch die engen Straßen, weil die Wehrmacht zur Besetzung des Sudetenlandes ausrückt. Der damals neunjährige Wilmar versorgt die durstigen Soldaten mit Wasser. Als ein Jahr später der Zweite Weltkrieg ausbricht, nimmt der Junge wahr, wie unbehaglich seine Eltern auf die Nachricht reagieren. Er selbst hat keine Vorstellungskraft darüber, was ihn erwartet.
Doch Wilmars Eltern haben den Ersten Weltkrieg miterlebt, aus dem der Vater schwer verwundet von der Front zurückgekehrt ist und fortan halbseitig gelähmt bleibt. Wilmars Großmutter äußert auf dem Sterbebett ihre böse Vorahnung: »Das wird nichts Gutes!« Das Radio – das einzige Medium, über das Wilmar zu damaligen Zeit Neuigkeiten erfahren kann – verbreitet unterdessen nur positive Meldungen über die siegreichen Feldzüge der Wehrmacht.
Erneut ziehen militärische Truppen durch die Straßen des kleinen Ortes und Wilmar kann vom Küchenfenster aus die vollbeladenen Züge beobachten, die Soldaten und Waffen in östliche Richtung transportieren. Immer mehr Männer aus Friesen werden eingezogen, aber kaum ein Soldat kehrt von der Front zurück.
Mitte März 1945 muss Wilmar, der 1943 mit Erreichen des 14. Lebensjahrs in die Hitlerjugend eingegliedert worden ist, selbst in ein Wehrertüchtigungslager. Als sich einen Monat später mit dem Einzug der Amerikaner für die Vogtländer das Ende des Krieges ankündigt, flüchtet er gemeinsam mit zwei Kameraden aus dem Lager im Stegenwaldhaus. Über Wald und Wiesen treten sie den rund 70 Kilometer weiten, abenteuerlichen Rückweg an.
Den drei Jugendlichen droht aufgrund ihrer Fahnenflucht die standrechtliche Erschießung, doch sie haben Glück. Der Kamerad, der eigens nach Reichenbach gefahren worden ist, um das Fahndungsschreiben ans Landesschützenbataillon zu überbringen, zerreißt den Brief und nutzt die Gelegenheit, selbst heimzukehren.
Am 1. Juli 1945 ziehen die amerikanischen Truppen ab und Reichenbach wird von der Roten Armee übernommen, weil es in der Besatzungszone liegt, die der Sowjetischen Militäradministration SMAD laut Beschluss der Siegermächte nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht zugeteilt wurde.
Wilmar hat nach Abschluss der achten Klasse eine Lehre als Elektro-Installateur begonnen und arbeitet im Spätsommer 1945 gerade an seinem Gesellenstück. Am Nachmittag des 21. September holen ihn zwei deutsche Polizeibeamte ab. Es heißt, man brauche lediglich die helfenden Hände von einigen Jugendlichen, um ein Zimmer in der sowjetischen Kommandantur in Reichenbach umzuräumen. Als sie auf der Polizeiwache eintreffen, sind dort tatsächlich schon weitere Jugendliche versammelt. Doch anstelle eines Arbeitseinsatzes sperrt man die jungen Männer nun unter Androhung von Waffengewalt ein.
»In eine 3-Mann-Zelle sieben Mann.«
Bis zum 4. Oktober 1945 bleibt Wilmar eingeschlossen und wird durch Mitarbeiter des sowjetischen Geheimdienstes NKWD verhört. Einmal lässt man ihn den ganzen Tag lang in einer Gartenlaube auf seine Vernehmung warten. Das Wetter hat schon zu herbstlichem Schneeregen umgeschlagen und Wilmar friert in der kurzen Hose und dem dünnen Hemd, die er seit dem Zeitpunkt seiner Verhaftung trägt.
Der 16-Jährige wird in den Verhören immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, er gehöre dem »Werwolf« an. Die Mitglieder dieser nationalsozialistischen Partisanenorganisation sind dazu angehalten, Sabotageakte und Attentate auf die alliierten Besatzungstruppen zu verüben. Doch in Mitteldeutschland hat die von Heinrich Himmler ins Leben gerufene Organisation gar keine Verbreitung gefunden.
Am Ende ist Wilmar gezwungen, ein Protokoll zu unterschreiben, obwohl er dessen Inhalt aufgrund der kyrillischen Schrift nicht entziffern kann. Mit einem Bus werden die Jugendlichen abtransportiert und für einen Tag im Gefängnis Plauen untergebracht. Danach geht es für zehn Tage Arrest ins Gefängnis Zwickau. Am 15. Oktober schließlich erfolgt der Transport ins sowjetische Speziallager Nr. 1.
Bei der Barackenstadt nahe Mühlberg an der Elbe handelt es sich um ein ehemaliges Kriegsgefangenenlager der deutschen Wehrmacht, das ab September 1945 vom NKWD als Internierungslager genutzt wird. Die Gefangenschaft im Lager Mühlberg ist durch die Isolierung von der Außenwelt und völlige Ungewissheit über das eigene Schicksal charakterisiert. Zudem leiden die Internierten unter einer mangelhaften Ernährungssituation, desolaten hygienischen Bedingungen und zumeist absoluter körperlicher und geistiger Beschäftigungslosigkeit.
Wilmar wird hier erneut zum Verhör geholt, wo man ihm den Inhalt des in Reichenbach verfassten Protokolls vorliest. Weil er abstreitet, eine solche Aussage gemacht zu haben, erfährt er Schläge – schließlich habe er ja unterschrieben.
Einer der Kompanieführer setzt sich sehr für das Wohl der jugendlichen Internierten ein. Er bewahrt sie vor so manchem kräftezehrenden Arbeitseinsatz und verschafft ihnen zusätzliche Portionen Essen, indem er ihnen vogtländisches Liedgut beibringt und sie zum Singen ermutigt. Trotzdem magert Wilmar rasant ab.
»Die Zeit, die wir dort mitmachen mussten, war hart. 1946 wog ich noch 85 Pfund.«
Aus Sorge um seine Gesundheit verschafft ihm ein Kamerad die Stelle des Kesselputzers, denn wer in der Küche arbeitet, hat gelegentlich die Möglichkeit, zusätzliche Lebensmittel abzugreifen. Im Laufe des Jahres kann sich Wilmar auf ein Gewicht von 125 Pfund aufpäppeln. Dann wird eine großangelegte Musterung der Internierten des Speziallagers Mühlberg angeordnet. Die Untersuchung erfolgt durch eine Begutachtung des nackten Körpers und den Griff in das Gesäß, um die dort noch vorhandene Muskelmasse zu prüfen.
Wilmar wird als arbeitstauglich eingestuft und ist somit einer derjenigen, die am 8. Februar 1947 auf den sogenannten Pelzmützentransport kommen. Zwei Jahre und vier Monate Gefangenschaft hat Wilmar bereits im Lager Mühlberg durchgestanden, nun wird er mit dem Zug nach Sibirien verfrachtet, über 4.700 Kilometer von der Heimat entfernt. Im GULAG-Straflager 7503/11 Anschero-Sudschensk im Verwaltungsbezirk Kemerowo ist er fortan zu härtester Zwangsarbeit verpflichtet.
Im ersten Jahr arbeitet er im Dreischichtsystem im Steinkohlebergbau, sieben Tage die Woche. Allein die Anfahrt zur Arbeitsstätte ist beschwerlich, denn in Sibirien sind nur die Hauptstraßen mit Baumstämmen befestigt, während alle anderen Wege aufgrund der Witterungsverhältnisse aus schlammigen Schlaglöchern bestehen.
»Manches Mal blieb das Auto in den Schlaglöchern stecken und wir mussten runter und schieben. Da fragte keiner, wie du die Stiefel wieder trocken bringst.«
Auch an die extremen klimatischen Bedingungen müssen sie sich erst gewöhnen. Im Winter fallen die Temperaturen mitunter bis auf 50 Grad Minus und im Sommer herrscht dagegen eine gewaltige Hitze.
Die Essensrationen sind mit 700 g Brot und Wassersuppe zwar größer als im Lager Mühlberg, doch noch immer nicht ausreichend. Deshalb freuen sich die Männer, wenn die japanischen Kriegsgefangenen ihr Brot verschenken, sobald sie die monatliche Reislieferung ihres Hilfswerks erhalten.
Jeweils sechzehn Mann nächtigen in einem Zimmer, das der gemauerte Ziegelofen nur spärlich zu beheizen in der Lage ist, obwohl die Männer ausgewählte Kohlestücke aus dem Schacht mitbringen. Eine Waschmöglichkeit besteht, wenn sie sich Wasser aus dem 200 Meter entfernten Brunnen holen und in die Behälter im Waschraum füllen. Im Winter ist der Weg zum Brunnen aufgrund der hohen Schneewehen schwer zu erreichen und die Seile frieren ein. Die Männer dürfen dann auf der Arbeitsstelle duschen, doch auch dort gibt es oft nur kaltes Wasser.
Bei der Arbeit in den Kohlestollen verletzt sich Wilmar mit einem Beil an der linken Hand. Die Wunde ist tief und geht bis auf den Knochen. Vorübergehend ist er von den schweren Schachtarbeiten freigestellt und putzt in der lagereigenen Bäckerei. Hier kommt Wilmar gelegentlich in den Genuss von Kuchenrändern. Weil die Verletzung schneller heilen will, als ihm lieb ist, manipuliert er den Genesungsprozess mehrfach und reißt die Haut absichtlich ein.
»So hast du dich durchgeschlenkert durch die Zeit.«
Erst, als der deutsche Arzt ihn warnt, dass der Schwindel bei der nächsten Visite der russischen Ärztin auffallen und er dafür mit zur Rechenschaft gezogen werde, gibt Wilmar auf und lässt die Wunde verheilen.
Im Mai 1948 darf Wilmar das erste und einzige Mal während seiner Gefangenschaft Briefkontakt zu den Eltern aufnehmen und erhält auch eine Antwortkarte aus Friesen. Er weiß, dass seine Familie sich Tag und Nacht mit der Sorge um ihn plagt und sieht es als Glück im Unglück an, dass ihn die Arbeit und der tägliche Kampf ums Überleben ausreichend beschäftigen.
Die Männer werden nun für den Bau eines Garagenkomplexes eingesetzt. Eine körperlich schwere Arbeit, bei der sie Abraum in Steinbrechern zerkleinern und große Betonblöcke gießen müssen. Anfang 1949 wird die Interniertengruppe nach Stalinsk verlegt, wo sie an der Errichtung eines Wasserkraftwerks mitwirkt.
Auch hier verletzt sich Wilmar schwer, als ein Gerüst unter ihm zusammenbricht und ein frisch geschmiedeter Meißel im Sturz seinen rechten Unterschenkel durchbohrt. Der Unfall ereignet sich kurz nach Schichtbeginn, doch Wilmar muss noch die verbleibenden acht Stunden Arbeitszeit durchhalten, ehe er einen Sanitäter aufsuchen und seine Wunde notdürftig versorgen lassen kann.
Etwa ein Jahr später werden die Häftlinge wieder auf Züge verteilt und nach Brest-Litowsk gefahren. In einem neuen Lager erwarten sie den langersehnten Rücktransport in die Heimat. Doch als die Gruppe abfahrbereit antritt, wählt man nur einzelne Männer aus. Sie sollen lediglich die anderen Transporte auffüllen, damit die vermerkte Personenzahl trotz der hohen Sterberate auf dem langen Reiseweg stimmt. Erst beim dritten Mal ist Wilmar unter den Abgezählten, als vorletzter von 30 Mann.
Am 4. Mai 1950, nach mehr als vier Jahren und acht Monaten in sowjetischer Gefangenschaft, wird Wilmar nach Hause entlassen. Er ist nun 21 Jahre alt. Seine Eltern haben nichts von seiner Rückkehr geahnt und sind überrascht, als er plötzlich wieder vor ihnen steht. Wilmars Mutter, die zum Zeitpunkt seiner Verhaftung noch kein graues Haar hatte, ist schlohweiß geworden.
»Was die mitmachten! Die mussten sich jeden Tag, von morgens bis abends und in die Nacht, damit beschäftigen, dass ich nicht da war.«
Zurück in der Heimat kann Wilmar anfangs nur schlecht schlafen, denn zu viele Erinnerungen stören seine Träume. Doch aus Vorsicht bleibt er sehr verhalten darin, sich jemandem anzuvertrauen. Noch ein Jahr lang passt ihm sein alter Konfirmanden-Anzug – ein Zeugnis dafür, wie sehr ihn die strapaziösen Umstände der Haft in der körperlichen Entwicklung vom Jugendlichen zum Mann behindert haben.
Ein Mitarbeiter des Arbeitsamtes will ihm eine Stelle im Bergbau aufzwingen, doch Wilmar weigert sich vehement, je wieder einen Schacht zu betreten. Bei einem Elektromeister kann er schließlich seine Lehre beenden und bleibt für weitere vier Jahre im Betrieb, dann wechselt er zum Transformatorenwerk in Reichenbach. Dort lernt er seine spätere Frau kennen, sie heiraten 1961 und bekommen zwei Jahre später einen Sohn.
Um sich und seine Familie vor den möglichen Konsequenzen einer unbedachten Aussage zu schützen, lässt Wilmar seinen Sohn über die genauen Umstände der Gefangenschaft zunächst im Unklaren. Erst nach der Deutschen Wiedervereinigung traut er sich, ihn darüber aufzuklären.
Wilmar ist Mitbegründer der 1990 ins Leben gerufenen VOS-Bezirksgruppe Reichenbach. Jahrelang treffen sich die Mitglieder regelmäßig und organisieren Veranstaltungen, arbeiten ihre Vergangenheit auf und helfen einander bei den Rehabilitierungsverfahren oder Anträgen für die Opferrente. So oft es sein Gesundheitszustand zulässt, nimmt Wilmar an den jährlich im September stattfindenden Treffen im ehemaligen Speziallager Nr. 1 Mühlberg teil. Obwohl er sich angesichts seiner Erfahrungen als »harten Hund« bezeichnet, setzt ihm das Betreten des Lagergeländes oft sehr zu.
»Trotzdem braucht man sich nicht zu schämen, wenn auch mal ein paar Tränen kommen.«
Wilmar sagt heute, dass er seine Erlebnisse im Großen und Ganzen gut für sich verarbeiten konnte und stets darauf geachtet hat, dass sie sein Wesen nicht negativ beeinflussen. Eine große Unterstützung ist ihm dabei seine Ehefrau, mit der er seit mittlerweile 55 Jahren verheiratet ist. Mit seinen zwei Enkelkindern wohnt nun die fünfte Generation gemeinsam mit ihm in dem Haus in Friesen, in dem er aufgewachsen ist.
Wilmar und einer seiner Schulkameraden, der mit in Sibirien war, sind heute die letzten zwei aus ihrer damaligen Klasse, die noch am Leben sind.
»Muss doch die sibirische Luft was Gutes gehabt haben, ne?«