Christine Liszewski

Christine Liszewski

mehr

»Unser Leben hätte anders verlaufen können.«

Christine Schreiber wird am 26. Juli 1934 als Tochter des späteren Reichen­­bacher Ober­­bürger­­meisters Dr. Otto Schreiber und dessen Frau Hertha geboren. Gemein­sam mit ihrer fünf Jahre älteren Schwester Inge wächst sie in der Miet­wohnung einer Villa in der Bahn­hof­straße auf.

Die glück­lichen und unbe­schwerten Kindheits­tage finden ein jähes Ende, als Familie Schreiber 1939 im Urlaub auf der Ostsee­insel Rügen ist, wo Christine zum ersten Mal Kriegs­schiffe erblickt. Unbe­hag­lic­hkeit breitet sich aus, und schließlich, mit dem deut­schen Überfall auf Polen am 1. September 1939, beginnt der Zweite Welt­krieg.

In den ersten Jahren ist Christine von den Kriegs­gescheh­nissen nicht direkt betroffen. Ihr einziger Bezug zu dem, was an der Front geschieht, liegt im Engage­ment für das Winter­hilfs­werk. Da sie wie fast alle Mädchen ihres Alters als Jung­mädel in der Hitler­jugend einge­gliedert ist, wirkt Christine bei Auf­führungen mit, die zur Samm­lung von Spenden für die Wehr­machts­sol­daten an der Ost­front dienen. Die Kinder wachsen ganz selbst­ver­ständlich mit der national­sozia­lis­tischen Ideen­lehre auf. Christine stiehlt ihrer großen Schwester sogar einmal die BDM-Jacke, weil sie das Klei­dungs­stück so fasziniert.

»Wie doch die Ideologie fruchtete! Das war ja nicht das einzige Mal, dass wir Deutschen auf Ideologien hereinfielen und uns lenken ließen.«

Ab Winter 1942 ist es mit den Sieges­zügen der Wehr­macht vorbei und es beginnt der sich über mehr als drei Jahre hinziehende, erzwun­gene Rückzug der deut­schen Armee. Kriegs­hand­lungen spielen sich nun größten­teils auf deut­schem Boden ab. Bei einem US-ameri­kanischen Flieger­angriff am 21. März 1945 fallen den Bomben 161 Reichen­­bacher zum Opfer und die Stadt erfährt zahl­reiche Zer­störungen.

Immer wieder gibt es Fliege­ralarme. Wenn die Kinder von der Schule nach Hause geschickt werden, rennt Christine eilig durch die Stadt, um sich im Luft­schutz­keller zu verstecken. Einmal ist sie nicht schnell genug, kurz vor dem Ziel zieht ein Tief­flieger über sie hinweg. Panisch wirft sich das Mädchen den Hang hinunter und bleibt vor Angst erstarrt im Gebüsch liegen. Sie hat Glück und entkommt dem Angriff unverletzt, doch einige Straßen entfernt stirbt ein Mann im Kugel­hagel.

Die zehn­jährige Christine hat fürchter­liche Angst, wenn sie sich mit ihrer Schwester und der Mutter im Keller vor den Luft­angriffen versteckt. Zittert bangt sie um das Über­leben der Familie und hat oft große Sorge um ihren Vater, der bei jedem Alarm pflicht­bewusst im Rathaus weilt. Und tatsäch­lich ist der Verlauf der letzten Kriegs­­tage schicksal­haft für die Familie Schreiber.

Christine (links) mit ihrer Schwester Inge und der Mutter Hertha Schreiber, 1939

Aus den überlieferten Auf­zeichnungen des Ober­­bürger­­meisters Dr. Otto Schreiber und den Berichten vieler Zeit­zeugen kann folgendes Szenario rekonstruiert werden: Am Morgen des 16. April 1945 bezieht eine deutsche Panzer­division ganz in der Nähe Reichen­­bachs Stellung und bringt die Stadt damit in die große Gefahr, ins direkte Kampf­geschehen mit der amerika­nischen Armee gezogen zu werden.

Otto Schreiber untersteht zu diesem Zeit­punkt den Anwei­sungen des zuständigen Kamp­f­komman­­danten Major Enders und ist zu keiner selbst­ständigen Hand­lung befugt. Enders macht sich in der Nacht auf den Weg nach Auerbach, um Infor­ma­tionen zu sammeln, und plant seine Rückkehr für 9 Uhr am nächsten Tag. In den frühen Morgen­stunden des 17. April erfährt die untere Stadt Artillerie­­beschuss durch ameri­kavnische Truppen, doch der Kampf­­­komman­­dant kehrt nicht zur verein­barten Zeit zurück und ist auch nicht erreichbar.

Otto Schreiber gerät in einen Zwie­spalt. Auf der einen Seite drängen ihn zahl­reiche Bürger zur kampf­­losen Über­gabe der Stadt, doch gleich­zeitig suchen ihn verschiedene Militär­ange­hörige auf, die mit dem Stand­gericht drohen, sollte er die Kapi­tulation anstreben. Die äußerste Ver­teidigung der Städte ist schließlich seit einem Befehl des Führer­haupt­quar­tiers Pflicht und auf jegliche Zuwider­­handlung steht die Todesstrafe.

Mehrere Bürger beginnen damit, an ihren Häusern die weiße Fahne zu hissen. Gegen 10 Uhr greift ein Tief­flieger Reichen­bach an, erneut werden Menschen­opfer gefordert und das Stadt­zentrum wird beschädigt. Offen­sicht­lich ist dies der Impuls, der Ober­­bürger­­meister Schreiber veranlasst, sich seinen Befehlen zu wider­setzen.

»Während ich zitternd im Keller saß und heulte und von all diesen Dingen Gott sei Dank nichts wusste, fasste er den Entschluss, dem Amerikaner entgegen zu fahren.«

Gemeinsam mit Polizei­leutnant Walter Schreiner, Feuer­­wehr­­unter­­führer Hermann Thoß, dem Friesener Bürger­­meister Ullmann und dem Dol­metscher Herr Braun fährt Otto Schreiber in Richtung Greiz, um die 87. Infantry Division zu kontak­tieren. Mehrere Stunden später ist die Stadt­fahne übergeben und damit die kampf­lose Übergabe Reichen­bachs besiegelt.

Als Hertha Schreiber und ihre Töchter den Keller verlassen, finden sie den Hof komplett über­schwemmt vor. Ein Artillerie­geschoss ist in den Teich gefallen, der sich direkt neben dem Haus befindet. Von den Vor­gängen der letzten Stunden erfährt Christine erst, als ihr Vater aus dem Rat­haus zurückkehrt und seiner Familie davon berichtet. Otto Schreiber macht einen nieder­geschla­genen Eindruck, hält seine Entscheidung aber für richtig, da ihm durch sein Amt die Ver­ant­wortung für den Schutz der Bürger obliegt.

Die Villa wird vom US-Militär beschlag­nahmt. Fasziniert beob­achten die Mädchen, wie Soldaten in den Bäumen klettern, um Funk­leitungen zu legen. Otto Schreiber ist noch bis Mai im Rathaus beschäftigt, erst dann erfolgt seine Beur­laubung aus dem Bürger­­meister­­amt.

Am 1. Juli 1945 übernimmt die sowje­tische Mili­tär­­ad­minis­tration SMAD die Kontrolle über das vogt­ländische Gebiet, da es in der Besatzungs­zone liegt, die den Sowjets laut Beschluss der Sieger­­mächte nach der bedin­gungs­losen Kapi­tulation der Wehr­macht zugeteilt wurde.

Bevor die amerika­nischen Truppen abziehen, bieten sie Otto Schreiber und seiner Familie an, sich ihnen anzuschließen. Doch Schreiber sieht keine Not­wendig­keit und lehnt das Angebot mit der Begrün­dung ab, er habe sich nichts vorzuwerfen. Christines Vater hält an seinem Ehren­wort, seine Stadt und deren Bürger nicht im Stich zu lassen, uner­schütter­lich fest.

Dr. Otto Schreiber (1897 – 1946), Porträtfoto aus dem Jahr 1931

Am 19. Juli 1945 ist Christine zu einem Kinder­­geburts­tag ein­ge­laden. Als sie nach Hause zurückkehrt, ist ihr Vater fort. Otto Schreiber wurde von einem russischen Offizier und einer weiteren Person abgeholt. Wohin man ihn bringt, weiß zu diesem Zeitpunkt niemand.

»Ich hab ihn nie wieder gesehen. Ich war zehn Jahre alt.«

Im Rahmen von Ent­nazi­fi­zie­rungs­maßnahmen werden in Reichen­­bach etliche Männer verhaftet, die während der ver­­gan­genen NS-Herr­schaft hohe Ämter inne­hatten. Doch auch Christines Onkel, der zum Volks­sturm einge­zogen wurde, aber kein Mitglied der NSDAP ist, wird gefangen genommen.

Die Beamten der SMAD entziehen Familie Schreiber sämt­liches Vermögen und die Wert­gegen­stände, sogar die Spar­bücher der Kinder werden konfisziert. Hertha Schreiber muss nun allein die Versor­gung ihrer Töchter sichern und nimmt deshalb eine Arbeits­­stelle als Verkaufs­hilfe an. Als sogenannte Kriegs­­ver­brecher­­frau ist sie zudem Repressalien ausgesetzt und wird verpflichtet, Aufbau­stunden zu leisten.

Erneut wird auch die Villa beschlag­nahmt, doch diesmal müssen alle Mieter das Wohn­haus verlassen. Christine flieht mit ihrer Mutter und der Schwester zu den Groß­eltern, wo sie zu dritt in einem Zimmer unter­kommen. Der folgende Winter ist so kalt, dass man das Eis an den Wänden glitzern sieht. In der Not fällen die Menschen nahezu jeden Baum, um ihn zu ver­heizen. Gas, Wasser und Strom sind nur rationiert verfügbar, Nahrungs­mittel äußerst knapp.

1946 kehrt Christines Onkel aus der Gefangen­schaft zurück. Er ist mit Verdacht auf Tuber­kulose vorzeitig aus dem sowje­tischen Speziallager Nr. 1 Mühlberg ent­lassen worden, erliegt aber kurze Zeit später seiner Erkra­nkung. Weil er seinen Schwager im Lager getroffen hat, weiß man nun endlich über dessen Verbleib Bescheid. Otto Schreiber war zunächst im Speziallager Nr. 4 Bautzen interniert und ist dann nach Mühlberg verlegt worden. Sehn­süchtig wartet Christine auf die Rüc­kkehr ihres Vaters.

Doch Otto Schreiber verstirbt am 04. Juni 1946 in Mühlberg und niemand benach­richtigt die Ange­hörigen über seinen Tod. Hertha Schreiber erhält nie eine Witwen­rente, denn dazu müsste sie ihren als vermisst geltenden Mann für tot erklären lassen.

Nicht nur ihr, sondern auch den Kindern wird indessen die NSDAP-Ange­hörigkeit des ehe­maligen Ober­­bürger­­meisters schwer zur Last gelegt. Christines Schwester Inge darf ihren Schul­abschluss an der Oberschule nicht absolvieren. Als Christine alt genug ist, die Ober­schule zu besuchen, wird ihr dieser Bildungs­weg trotz guter Noten verwehrt. Ihr Wunsch, zu studieren, bleibt somit unerfüllt.

»Unser Leben hätte anders verlaufen können. Ja, so hat es sich ganz anders entwickelt, als wir es mal dachten. Aber wir haben es gemeistert.«

Inge Schreiber hilft infolgedessen auch in dem Laden aus, in dem ihre Mutter arbeitet, und heiratet jung. Christine beendet mit der achten Klasse die Volks­schule und macht eine Berufs­aus­bildung als Sprech­stunden­hilfe in einer Zahn­arzt­praxis. Sie heiratet 1954 und trägt nun den Namen Liszewski. Mit ihrem Mann bekommt sie drei Kinder. Noch vor der Geburt der ersten Tochter 1956 macht Christine gemeinsam mit ihrer Mutter den Fach­arbeiter­brief als Zahn­arzt­helferin.

Als sie gerade mit der zweiten Tochter schwanger ist, erscheint 1958 ein Zeitungs­artikel zur Stadt­übergabe 1945, in welchem der Feuer­wehr­unter­führer Thoß die Aner­kennung der Tat für sich allein bean­sprucht.

»Das verletzte mich sehr, weil diese Darstellung nicht der Wahrheit entspricht. So begann mein jahre­langer Kampf zur Wahrheits­findung.«

Christine möchte die Tatsachen richtig stellen, die ihr mit dem Stigma »Kriegs­verbrecher­tochter« so manche beab­sichtigte Ent­wick­lung verwehrten. Neben dem von ihrem Vater noch im Juli 1945 verfassten Bericht ist sie auch im Besitz der Aussage von Leutnant Schreiner; beide Aus­führungen stimmen in wesent­lichen Punkten überein. Christine wendet sich an die Presse und an die Volks­kammer der DDR, sie spricht mit den späteren Bürger­­meistern Reichen­bachs, stößt jedoch ausnahms­los auf Ableh­nung.

Nach einem ein­jährigen Aufent­halt in Leipzig zieht die Familie Liszewski 1960 nach Plauen, wo 1962 ihre dritte Tochter auf die Welt kommt. Christine widmet sich der Erziehung ihrer Kinder und nimmt später ihren Beruf als Zahn­arzt­helferin wieder auf. Nach einer Qualifi­zierung arbeitet sie mehrere Jahre in der Poliklinik Plauen als Kranken­schwester. Da sie den Eintritt in die SED verweigert, erhält sie nicht den Posten der Ober­schwester, statt dessen über­nimmt sie die Leitung des Bereit­schafts­dienstes, eine ver­ant­wortungs­volle Position im Schicht­system.

Nach der Deut­schen Wieder­vereini­gung besucht Christine die auf dem ehe­maligen Lager­gelände in Mühlberg einge­richtete Gedenk­­stätte, wo ihr nach mehr als 44 Jahren Unge­wissheit der Tod ihres Vaters offiziell bestätigt wird.

Als sich am 17. April 2010 die Stad­tüber­gabe und damit das Ende der Kriegs­hand­lungen für Reiche­nbach zum 65. Mal jährt, werden die Gescheh­nisse im Gedenk­­marsch »Liberty Convoy« nach­gestellt, bei dem der damalige Ober­­bürger­­meister Dieter Kießling die Rolle des Otto Schreiber übernimmt, indem er symbolisch die Stadt­fahne an die amerika­nische General­konsulin übergibt. Anlässlich des Jubi­läums werden immer mehr Stimmen der Reichen­­bacher Bürger laut, die eine stetige Erinnerung an das Ereignis fordern. Nach einer umfang­reichen öffentlichen Diskussion zu dem Thema beschließt der Stadt­rat, eine Ehren­tafel am Rathaus anzubringen. Allerdings wird sich im November 2010 per Abstimmung dazu entschieden, auf der Gedenk­t­afel keine Namen zu nennen, sondern lediglich die »mutigen Reichen­­bacher« zu würdigen, die sich in Lebensgefahr begaben, um den geplanten Fliegerangriff der US-amerikanischen Armee zu verhindern.

Der Zwiespalt zwischen Otto Schreibers Engage­ment in den letzten Kriegs­­tagen und seiner NSDAP-Mitglied­schaft sowie Tätigkeit als SA-Ober­sturm­führer sind der Grund für den Entschluss, auf eine namentliche Ehrung zu verzichten. Christine verleugnet nicht, dass ihr Vater National­sozialist gewesen ist, sondern spricht ganz offen über dessen Vergangen­heit. Sie weist aber darauf hin, dass Otto Schreiber schon seit 1926 Mitglied des Stadt­rats war und 1932 zum 2. Bürger­­meister Reichen­bachs gewählt wurde – also vor der Macht­ergrei­fung des NS-Regimes.

»Wenn er 1933 nicht in die Partei gegangen wäre, wäre er 1935 nicht Ober­­bürger­­meister geworden. Mein Mann musste damals auch der SED beitreten, um seine Position als Bereichs­leiter auszu­üben, ob er nun wollte oder nicht.«

Vergleich­bare Schick­sale wie das von Otto Schreiber sind mittler­­weile aus mehreren säch­sischen Städten bekannt, unter anderem Freiberg und Wurzen. Auch hier wider­setzten sich die amtie­renden Ober­­bürger­­meister dem Verteidi­gungs­befehl ihrer Vorge­setzten und leiteten die Kapi­tulation ihrer Stadt friedlich ein. Beide Amts­inhaber wurden in der Folge durch das NKWD verhaftet und verstarben während ihrer Internie­rung in sowje­tischen Speziallagern.

Christine lebt heute auf einem Grund­stück in Jößnitz, auf dem ihr Mann das einstige Garten­häuschen zum Alters­sitz umbaute. Nachdem ihr Mann bereits im Alter von 60 Jahren verstarb, musste Christine schließlich allein einziehen. Angre­nzend haben ihre Kinder ein Haus gebaut. Mithilfe der Bezirks­gruppe Reichen­bach der Vereini­gung der Opfer des Stalinismus e. V. (VOS) erreichte Christine im Januar 2011 nach 65 Jahren die politische Re­ha­bi­­li­­tierung ihres Vaters Dr. Otto Schreiber.

»Ich hatte einen guten Vati.«

 

Der Film: »Das Kriegs­ende im Vogtland und West­erzgebirge – 17.04. – 08.05.1945« (2012) vom Plauener Regisseur Heintje Peter ist auf DVD in den Geschäfts­stellen der »Freien Presse« im Vogtland erhältlich.

»Unser Leben hätte anders verlaufen können.«

Christine Schreiber wird am 26. Juli 1934 als Tochter des späteren Reichen­­bacher Ober­­bürger­­meisters Dr. Otto Schreiber und dessen Frau Hertha geboren. Gemein­sam mit ihrer fünf Jahre älteren Schwester Inge wächst sie in der Miet­wohnung einer Villa in der Bahn­hof­straße auf.

Die glück­lichen und unbe­schwerten Kindheits­tage finden ein jähes Ende, als Familie Schreiber 1939 im Urlaub auf der Ostsee­insel Rügen ist, wo Christine zum ersten Mal Kriegs­schiffe erblickt. Unbe­hag­lic­hkeit breitet sich aus, und schließlich, mit dem deut­schen Überfall auf Polen am 1. September 1939, beginnt der Zweite Welt­krieg.

In den ersten Jahren ist Christine von den Kriegs­gescheh­nissen nicht direkt betroffen. Ihr einziger Bezug zu dem, was an der Front geschieht, liegt im Engage­ment für das Winter­hilfs­werk. Da sie wie fast alle Mädchen ihres Alters als Jung­mädel in der Hitler­jugend einge­gliedert ist, wirkt Christine bei Auf­führungen mit, die zur Samm­lung von Spenden für die Wehr­machts­sol­daten an der Ost­front dienen. Die Kinder wachsen ganz selbst­ver­ständlich mit der national­sozia­lis­tischen Ideen­lehre auf. Christine stiehlt ihrer großen Schwester sogar einmal die BDM-Jacke, weil sie das Klei­dungs­stück so fasziniert.

»Wie doch die Ideologie fruchtete! Das war ja nicht das einzige Mal, dass wir Deutschen auf Ideologien hereinfielen und uns lenken ließen.«

Ab Winter 1942 ist es mit den Sieges­zügen der Wehr­macht vorbei und es beginnt der sich über mehr als drei Jahre hinziehende, erzwun­gene Rückzug der deut­schen Armee. Kriegs­hand­lungen spielen sich nun größten­teils auf deut­schem Boden ab. Bei einem US-ameri­kanischen Flieger­angriff am 21. März 1945 fallen den Bomben 161 Reichen­­bacher zum Opfer und die Stadt erfährt zahl­reiche Zer­störungen.

Immer wieder gibt es Fliege­ralarme. Wenn die Kinder von der Schule nach Hause geschickt werden, rennt Christine eilig durch die Stadt, um sich im Luft­schutz­keller zu verstecken. Einmal ist sie nicht schnell genug, kurz vor dem Ziel zieht ein Tief­flieger über sie hinweg. Panisch wirft sich das Mädchen den Hang hinunter und bleibt vor Angst erstarrt im Gebüsch liegen. Sie hat Glück und entkommt dem Angriff unverletzt, doch einige Straßen entfernt stirbt ein Mann im Kugel­hagel.

Die zehn­jährige Christine hat fürchter­liche Angst, wenn sie sich mit ihrer Schwester und der Mutter im Keller vor den Luft­angriffen versteckt. Zittert bangt sie um das Über­leben der Familie und hat oft große Sorge um ihren Vater, der bei jedem Alarm pflicht­bewusst im Rathaus weilt. Und tatsäch­lich ist der Verlauf der letzten Kriegs­­tage schicksal­haft für die Familie Schreiber.

Christine (links) mit ihrer Schwester Inge und der Mutter Hertha Schreiber, 1939

Aus den überlieferten Auf­zeichnungen des Ober­­bürger­­meisters Dr. Otto Schreiber und den Berichten vieler Zeit­zeugen kann folgendes Szenario rekonstruiert werden: Am Morgen des 16. April 1945 bezieht eine deutsche Panzer­division ganz in der Nähe Reichen­­bachs Stellung und bringt die Stadt damit in die große Gefahr, ins direkte Kampf­geschehen mit der amerika­nischen Armee gezogen zu werden.

Otto Schreiber untersteht zu diesem Zeit­punkt den Anwei­sungen des zuständigen Kamp­f­komman­­danten Major Enders und ist zu keiner selbst­ständigen Hand­lung befugt. Enders macht sich in der Nacht auf den Weg nach Auerbach, um Infor­ma­tionen zu sammeln, und plant seine Rückkehr für 9 Uhr am nächsten Tag. In den frühen Morgen­stunden des 17. April erfährt die untere Stadt Artillerie­­beschuss durch ameri­kavnische Truppen, doch der Kampf­­­komman­­dant kehrt nicht zur verein­barten Zeit zurück und ist auch nicht erreichbar.

Otto Schreiber gerät in einen Zwie­spalt. Auf der einen Seite drängen ihn zahl­reiche Bürger zur kampf­­losen Über­gabe der Stadt, doch gleich­zeitig suchen ihn verschiedene Militär­ange­hörige auf, die mit dem Stand­gericht drohen, sollte er die Kapi­tulation anstreben. Die äußerste Ver­teidigung der Städte ist schließlich seit einem Befehl des Führer­haupt­quar­tiers Pflicht und auf jegliche Zuwider­­handlung steht die Todesstrafe.

Mehrere Bürger beginnen damit, an ihren Häusern die weiße Fahne zu hissen. Gegen 10 Uhr greift ein Tief­flieger Reichen­bach an, erneut werden Menschen­opfer gefordert und das Stadt­zentrum wird beschädigt. Offen­sicht­lich ist dies der Impuls, der Ober­­bürger­­meister Schreiber veranlasst, sich seinen Befehlen zu wider­setzen.

»Während ich zitternd im Keller saß und heulte und von all diesen Dingen Gott sei Dank nichts wusste, fasste er den Entschluss, dem Amerikaner entgegen zu fahren.«

Gemeinsam mit Polizei­leutnant Walter Schreiner, Feuer­­wehr­­unter­­führer Hermann Thoß, dem Friesener Bürger­­meister Ullmann und dem Dol­metscher Herr Braun fährt Otto Schreiber in Richtung Greiz, um die 87. Infantry Division zu kontak­tieren. Mehrere Stunden später ist die Stadt­fahne übergeben und damit die kampf­lose Übergabe Reichen­bachs besiegelt.

Als Hertha Schreiber und ihre Töchter den Keller verlassen, finden sie den Hof komplett über­schwemmt vor. Ein Artillerie­geschoss ist in den Teich gefallen, der sich direkt neben dem Haus befindet. Von den Vor­gängen der letzten Stunden erfährt Christine erst, als ihr Vater aus dem Rat­haus zurückkehrt und seiner Familie davon berichtet. Otto Schreiber macht einen nieder­geschla­genen Eindruck, hält seine Entscheidung aber für richtig, da ihm durch sein Amt die Ver­ant­wortung für den Schutz der Bürger obliegt.

Die Villa wird vom US-Militär beschlag­nahmt. Fasziniert beob­achten die Mädchen, wie Soldaten in den Bäumen klettern, um Funk­leitungen zu legen. Otto Schreiber ist noch bis Mai im Rathaus beschäftigt, erst dann erfolgt seine Beur­laubung aus dem Bürger­­meister­­amt.

Am 1. Juli 1945 übernimmt die sowje­tische Mili­tär­­ad­minis­tration SMAD die Kontrolle über das vogt­ländische Gebiet, da es in der Besatzungs­zone liegt, die den Sowjets laut Beschluss der Sieger­­mächte nach der bedin­gungs­losen Kapi­tulation der Wehr­macht zugeteilt wurde.

Bevor die amerika­nischen Truppen abziehen, bieten sie Otto Schreiber und seiner Familie an, sich ihnen anzuschließen. Doch Schreiber sieht keine Not­wendig­keit und lehnt das Angebot mit der Begrün­dung ab, er habe sich nichts vorzuwerfen. Christines Vater hält an seinem Ehren­wort, seine Stadt und deren Bürger nicht im Stich zu lassen, uner­schütter­lich fest.

Dr. Otto Schreiber (1897 – 1946), Porträtfoto aus dem Jahr 1931

Am 19. Juli 1945 ist Christine zu einem Kinder­­geburts­tag ein­ge­laden. Als sie nach Hause zurückkehrt, ist ihr Vater fort. Otto Schreiber wurde von einem russischen Offizier und einer weiteren Person abgeholt. Wohin man ihn bringt, weiß zu diesem Zeitpunkt niemand.

»Ich hab ihn nie wieder gesehen. Ich war zehn Jahre alt.«

Im Rahmen von Ent­nazi­fi­zie­rungs­maßnahmen werden in Reichen­­bach etliche Männer verhaftet, die während der ver­­gan­genen NS-Herr­schaft hohe Ämter inne­hatten. Doch auch Christines Onkel, der zum Volks­sturm einge­zogen wurde, aber kein Mitglied der NSDAP ist, wird gefangen genommen.

Die Beamten der SMAD entziehen Familie Schreiber sämt­liches Vermögen und die Wert­gegen­stände, sogar die Spar­bücher der Kinder werden konfisziert. Hertha Schreiber muss nun allein die Versor­gung ihrer Töchter sichern und nimmt deshalb eine Arbeits­­stelle als Verkaufs­hilfe an. Als sogenannte Kriegs­­ver­brecher­­frau ist sie zudem Repressalien ausgesetzt und wird verpflichtet, Aufbau­stunden zu leisten.

Erneut wird auch die Villa beschlag­nahmt, doch diesmal müssen alle Mieter das Wohn­haus verlassen. Christine flieht mit ihrer Mutter und der Schwester zu den Groß­eltern, wo sie zu dritt in einem Zimmer unter­kommen. Der folgende Winter ist so kalt, dass man das Eis an den Wänden glitzern sieht. In der Not fällen die Menschen nahezu jeden Baum, um ihn zu ver­heizen. Gas, Wasser und Strom sind nur rationiert verfügbar, Nahrungs­mittel äußerst knapp.

1946 kehrt Christines Onkel aus der Gefangen­schaft zurück. Er ist mit Verdacht auf Tuber­kulose vorzeitig aus dem sowje­tischen Speziallager Nr. 1 Mühlberg ent­lassen worden, erliegt aber kurze Zeit später seiner Erkra­nkung. Weil er seinen Schwager im Lager getroffen hat, weiß man nun endlich über dessen Verbleib Bescheid. Otto Schreiber war zunächst im Speziallager Nr. 4 Bautzen interniert und ist dann nach Mühlberg verlegt worden. Sehn­süchtig wartet Christine auf die Rüc­kkehr ihres Vaters.

Doch Otto Schreiber verstirbt am 04. Juni 1946 in Mühlberg und niemand benach­richtigt die Ange­hörigen über seinen Tod. Hertha Schreiber erhält nie eine Witwen­rente, denn dazu müsste sie ihren als vermisst geltenden Mann für tot erklären lassen.

Nicht nur ihr, sondern auch den Kindern wird indessen die NSDAP-Ange­hörigkeit des ehe­maligen Ober­­bürger­­meisters schwer zur Last gelegt. Christines Schwester Inge darf ihren Schul­abschluss an der Oberschule nicht absolvieren. Als Christine alt genug ist, die Ober­schule zu besuchen, wird ihr dieser Bildungs­weg trotz guter Noten verwehrt. Ihr Wunsch, zu studieren, bleibt somit unerfüllt.

»Unser Leben hätte anders verlaufen können. Ja, so hat es sich ganz anders entwickelt, als wir es mal dachten. Aber wir haben es gemeistert.«

Inge Schreiber hilft infolgedessen auch in dem Laden aus, in dem ihre Mutter arbeitet, und heiratet jung. Christine beendet mit der achten Klasse die Volks­schule und macht eine Berufs­aus­bildung als Sprech­stunden­hilfe in einer Zahn­arzt­praxis. Sie heiratet 1954 und trägt nun den Namen Liszewski. Mit ihrem Mann bekommt sie drei Kinder. Noch vor der Geburt der ersten Tochter 1956 macht Christine gemeinsam mit ihrer Mutter den Fach­arbeiter­brief als Zahn­arzt­helferin.

Als sie gerade mit der zweiten Tochter schwanger ist, erscheint 1958 ein Zeitungs­artikel zur Stadt­übergabe 1945, in welchem der Feuer­wehr­unter­führer Thoß die Aner­kennung der Tat für sich allein bean­sprucht.

»Das verletzte mich sehr, weil diese Darstellung nicht der Wahrheit entspricht. So begann mein jahre­langer Kampf zur Wahrheits­findung.«

Christine möchte die Tatsachen richtig stellen, die ihr mit dem Stigma »Kriegs­verbrecher­tochter« so manche beab­sichtigte Ent­wick­lung verwehrten. Neben dem von ihrem Vater noch im Juli 1945 verfassten Bericht ist sie auch im Besitz der Aussage von Leutnant Schreiner; beide Aus­führungen stimmen in wesent­lichen Punkten überein. Christine wendet sich an die Presse und an die Volks­kammer der DDR, sie spricht mit den späteren Bürger­­meistern Reichen­bachs, stößt jedoch ausnahms­los auf Ableh­nung.

Nach einem ein­jährigen Aufent­halt in Leipzig zieht die Familie Liszewski 1960 nach Plauen, wo 1962 ihre dritte Tochter auf die Welt kommt. Christine widmet sich der Erziehung ihrer Kinder und nimmt später ihren Beruf als Zahn­arzt­helferin wieder auf. Nach einer Qualifi­zierung arbeitet sie mehrere Jahre in der Poliklinik Plauen als Kranken­schwester. Da sie den Eintritt in die SED verweigert, erhält sie nicht den Posten der Ober­schwester, statt dessen über­nimmt sie die Leitung des Bereit­schafts­dienstes, eine ver­ant­wortungs­volle Position im Schicht­system.

Nach der Deut­schen Wieder­vereini­gung besucht Christine die auf dem ehe­maligen Lager­gelände in Mühlberg einge­richtete Gedenk­­stätte, wo ihr nach mehr als 44 Jahren Unge­wissheit der Tod ihres Vaters offiziell bestätigt wird.

Als sich am 17. April 2010 die Stad­tüber­gabe und damit das Ende der Kriegs­hand­lungen für Reiche­nbach zum 65. Mal jährt, werden die Gescheh­nisse im Gedenk­­marsch »Liberty Convoy« nach­gestellt, bei dem der damalige Ober­­bürger­­meister Dieter Kießling die Rolle des Otto Schreiber übernimmt, indem er symbolisch die Stadt­fahne an die amerika­nische General­konsulin übergibt. Anlässlich des Jubi­läums werden immer mehr Stimmen der Reichen­­bacher Bürger laut, die eine stetige Erinnerung an das Ereignis fordern. Nach einer umfang­reichen öffentlichen Diskussion zu dem Thema beschließt der Stadt­rat, eine Ehren­tafel am Rathaus anzubringen. Allerdings wird sich im November 2010 per Abstimmung dazu entschieden, auf der Gedenk­t­afel keine Namen zu nennen, sondern lediglich die »mutigen Reichen­­bacher« zu würdigen, die sich in Lebensgefahr begaben, um den geplanten Fliegerangriff der US-amerikanischen Armee zu verhindern.

Der Zwiespalt zwischen Otto Schreibers Engage­ment in den letzten Kriegs­­tagen und seiner NSDAP-Mitglied­schaft sowie Tätigkeit als SA-Ober­sturm­führer sind der Grund für den Entschluss, auf eine namentliche Ehrung zu verzichten. Christine verleugnet nicht, dass ihr Vater National­sozialist gewesen ist, sondern spricht ganz offen über dessen Vergangen­heit. Sie weist aber darauf hin, dass Otto Schreiber schon seit 1926 Mitglied des Stadt­rats war und 1932 zum 2. Bürger­­meister Reichen­bachs gewählt wurde – also vor der Macht­ergrei­fung des NS-Regimes.

»Wenn er 1933 nicht in die Partei gegangen wäre, wäre er 1935 nicht Ober­­bürger­­meister geworden. Mein Mann musste damals auch der SED beitreten, um seine Position als Bereichs­leiter auszu­üben, ob er nun wollte oder nicht.«

Vergleich­bare Schick­sale wie das von Otto Schreiber sind mittler­­weile aus mehreren säch­sischen Städten bekannt, unter anderem Freiberg und Wurzen. Auch hier wider­setzten sich die amtie­renden Ober­­bürger­­meister dem Verteidi­gungs­befehl ihrer Vorge­setzten und leiteten die Kapi­tulation ihrer Stadt friedlich ein. Beide Amts­inhaber wurden in der Folge durch das NKWD verhaftet und verstarben während ihrer Internie­rung in sowje­tischen Speziallagern.

Christine lebt heute auf einem Grund­stück in Jößnitz, auf dem ihr Mann das einstige Garten­häuschen zum Alters­sitz umbaute. Nachdem ihr Mann bereits im Alter von 60 Jahren verstarb, musste Christine schließlich allein einziehen. Angre­nzend haben ihre Kinder ein Haus gebaut. Mithilfe der Bezirks­gruppe Reichen­bach der Vereini­gung der Opfer des Stalinismus e. V. (VOS) erreichte Christine im Januar 2011 nach 65 Jahren die politische Re­ha­bi­­li­­tierung ihres Vaters Dr. Otto Schreiber.

»Ich hatte einen guten Vati.«

 

Der Film: »Das Kriegs­ende im Vogtland und West­erzgebirge – 17.04. – 08.05.1945« (2012) vom Plauener Regisseur Heintje Peter ist auf DVD in den Geschäfts­stellen der »Freien Presse« im Vogtland erhältlich.